The bloodied pants – why feminists and zionists should stay cautious about this clue and rather use strong evidence for the sexual violence of Hamas

Naama Levy was a peace-activist and soldier, until she was abducted on October 7th, 2023. It is unknown, if she is still alive, as she remains one of 17 women in Hamas prisons. She has suffered violence and trauma. When she was captured, she suffered wounds to her head, arms and legs, was brought to Gaza, paraded on a Pickup-truck and then pushed into a seat of the same truck. It is in these brief moments, that a dark stain can be seen on her grey jogging-pyjamas.

This stain has been interpreted as blood and the blood as a result of rape. Activists have reenacted this scene and the bloodied pants are now a symbol of the sexual violence of Hamas. There is strong evidence for sexual violence on 7/10 2023: testimonies by victims and orders found with Hamas soldiers.

The stain on Naama Levy’s sweatpants on the other hand could be different from what it seems. Rather than from bleeding it might be the result of uncontrolled defecation induced by fear and stress or, if it is blood, it has other origins. These are the arguments, why vaginal or anal bleeding might not be the source of the stain:

  1. Blood contains iron and the colour turns into a rusty brown after a while. Nonetheless, if you consider the timespan between the abduction and scene a few hours later, we would expect a gradient of colours. We see fresh, red bloodstains on her trouser from a different origin: her cuts on hands, next to the dark stain, where here hands were forced to rest, on her legs. Determining blood-stain patterns is a science by itself.
  2. The front of the trousers and the crotch are not stained. Blood would soak the surrounding area of the genitalia.
  3. She stumbles out of the van with comparable ease, considering a jihadi pulls at her hairs, her hands are tied and her emotional trauma. The pain from rape resulting in internal bleeding would cause her to flinch at least at certain moments, even considering the numbing effect of adrenaline in such a situation.
  4. In Hamas‘ go-pro-videos, we see hostages sitting in blood puddles and hostages are dragged through other peoples bodies. People hid in places, where faces and mud might have been present.

I am not a forensic expert at all, and my naive, commonsensical reasoning might sound cynical and it might be already discussed and contradicted by experts. There are facts to be missed easily. I consider it likely, that she suffered sexual violence and the short clip proves she suffered extreme violence. I am convinced, though, that the popularization of the symbol, and the display of the stain won’t help the zionist or the feminist cause. Visualization does not always outcompete the abstract, the narrated, the logical conclusion. Antisemites are in full denial of the sexual violence by Hamas, spearheaded by Judith Butler, who scoffs at the question. This is the reason, why we should stay cautious and use only strong arguments especially when we have so many of them. I really do hope, Naama Levy is alive, will be freed and won’t have to deal with a discussion about her pants ever again in her life.

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Naama Levy war Friedensaktivistin und Berufssoldatin. Sie wurde am 7.10. entführt, misshandelt, und es ist nicht bekannt, ob sie noch lebt. Sie ist eine von 17 Frauen, die noch in Geiselhaft ist.

Weil sie in einem Video mit einem großen dunklen Fleck auf ihrer grauen Jogginghose zu sehen ist, gilt ihre Hose als sichtbarster Beweis für die sexuelle Gewalt, die aus Zeuginnenaussagen am 7.10.2023 stattfand. Es existieren Reels von Straßentheaterszenen, bei denen sie mit ihrer Hose und dem Fleck nachgespielt wird.

Möglicherweise ist aber nicht Blut die Ursache des Flecks, sondern unkontrollierter Stuhlabgang, was bei Angstreaktionen vorkommt, ein natürlicher Schutzmechanismus gegen Raubtiere.
Gegen einen Blutfleck als Folge einer Vergewaltigung sprechen folgende Argumente:

1. Die Farbe. Zwischen dem Kidnapping und der Parade liegen wenige Minuten bis Stunden. Nimmt man eine derartige Blutung an, müssten durch Nachblutungen zumindest Teile des Blutes noch rot sein. Die helleren, blutroten Flecken kommen vom Kopf, von Wunden an den Füßen und an einer Stelle lagen ihre auf den Rücken gebundenen, blutenden Hände an dem Fleck an, was hier m.E. einen Übergang erzeugt.

2. Der Fleck erstreckt sich auf den unteren Rücken und das Gesäß, nicht jedoch auf den Frontalbereich der Hose und den Schritt. Bei einer analen oder vaginalen Blutung wäre der Genitalbereich im Schritt das Zentrum des Flecks, auch wenn man die angewinkelte Position berücksichtigt, in der sie fixiert war.

3. Ihre Bewegungen. Eine derartige Blutung müsste mit lokalen starken Schmerzen einhergehen, die trotz Adrenalin beim Absteigen vom Jeep instinktiv zu Vermeidungsreaktionen führen müssten. Sie hat zweifellos Schmerzen, jedoch eher im Bereich des Kopfes.

4. Selbst wenn es Blut ist, wäre angesichts der Lage des Flecks ein Sitzen auf einer Blutlache eher als Ursache denkbar als eine Blutung aus einer Körperöffnung.

All das sind nur Spekulationen aus der Ferne und ersetzt keine forensische Analyse. Es ist sehr gut möglich, dass sie sexuelle Gewalt erlitten hat und erleidet. Ich bezweifle jedoch, dass der Fleck der beste Beweis dafür ist. Ich rate gerade angesichts der Leugnung sexueller Gewalt durch die Hamas (z.B. bei Judith Butler) dazu, eher die Zeugnisse der Opfer zu zitieren, als sich auf dieses „sichtbare“ Symbol zu konzentrieren, das sich gegebenenfalls dann als Fehlschluss herausstellen kann.
Ich hoffe inständig, dass Naama Levy lebt und freikommt.


Der islamische Geschichtsmythos – Antiisraelische Geschichtsklitterung in der taz

2019 stieg Susanne Knaul 2019 aus Altersgründen aus der Nahostkorrespondenz der tageszeitung aus und meldete sich seitdem immer seltener. Moshe Zuckermann hatte sich bereits 2015 zurückgezogen, und auch Micha Brumlick schreibt seit einiger Zeit keine „postzionistischen“ Stellungnahmen mehr. Es gab begründete Hoffnungen, dass die harte antiisraelische Propaganda abebben könnte, die die taz für viele Antifaschist*innen unlesbar machte.

Die Nachfolge von Susanne Knaul übernahm Judith Poppe. Sie schreibt seit 2015 für die taz und mittlerweile fast wöchentlich über Israel. Poppe bemüht sich auf den ersten Blick durchaus glaubwürdig, Differenzierung durch Porträts und Zitate zu erreichen. Allerdings nennt sie den arabisch-islamischen Geschichtsmythos nicht im Ansatz als Konfliktursache. Bei ihr setzt die Geschichte des Staates Israel immer wieder 1948 ein, als hätte es davor keinen Konflikt gegeben, keine Jüdinnen und Juden in Israel. Durch den Ausfall kritischer Fragen stützt sie immer wieder das arabische, antisemitische Narrativ.

Im Interview „Die Nakba ist lebendige Gegenwart“ mit Bashir Bashir lässt sie diesen unwidersprochen den arabischen Geschichtsmythos wiederholen: Der jüdisch-israelische „Siedlerkolonialismus“ sei ein assymetrischer Konflikt zwischen „Besatzern und Unterdrückten“. In Wirklichkeit ist die Assymetrie genau anders herum gelagert, weil die islamischen Staaten ein Vielfaches an Armeen, Ressourcen und ein vielhundertfaches an Landmasse verfügen und dabei die nichtjüdischen Araber*innen in Westjordanland und Gaza stets als Brückenkopf verstanden haben. Ebensowenig interessiert der Konflikt mit den hochgerüsteten Armeen der Hisbollah und der Hamas, deren Terror sich primär gegen die Zivilbevölkerung richtet und auf eine Vertreibung von Jüd*innen nach dem Vorbild von Gaza abzielt.

Die militärische Rationalität der Siedlungen wird vollständig unterschlagen. Die jüdischen Städte und Dörfer in Judäa und Samaria (Westbank/Westjordanland) sind primär Erben der zionistischen Wehrdörfer. Sie sichern heute den winzigen, extrem verwundbaren israelischen Staat gegen Raketenterror von den Höhen der Berglandes, vor Kampfjets und gegen Militärfahrzeuge im Jordantal. „Verteidigbare Grenzen“ und „Strategische Tiefe“ sind für die israelische Gesellschaft ein unverbrüchlicher Teil des Existenzrechts inmitten eines extrem volatilen, unberechenbaren Umfeldes zwischen einem autoritär regierten Ägypten mit starker Muslimbruderschaft im Westen, dem Islamischen Staat und Al-Qaida im Sinai und als Zellen in allen Nachbargesellschaften, einer krisenhaften islamistisch regierten Türkei am anderen Mittelmeerufer, der Hisbollah im Norden, Al-Qaida und Assad im Nordosten und der Fatah, dem Islamischen Jihad und der PFLP im Osten. Israel muss seine Verteidigung gegen genozidale Exkursionen islamistischer Abenteurer auch in die mittlere und ferne Zukunft planen.

Der islamische Mythos Bashirs radiert die jüdische Geschichte des Landes ebenso aus wie die antisemitische Geschichte der islamischen Gesellschaften.

„Die jüdische Frage ist ursprünglich keine palästinensische Frage, keine östliche oder muslimische. Die jüdischen Siedler*innen, die nach Palästina eingewandert sind, waren europäische Bürger*innen und Opfer des Rassismus. Das christliche Europa ist aufgrund seines Antisemitismus daran gescheitert, diese Bürger*innen zu integrieren und zu schützen.“

Seriöser, informierter Journalismus müsste diesen Mythos sofort hinterfragen, weil er eine Täter-Opfer-Verkehrung beinhaltet und den Konflikt im Interesse des islamischen Chauvinismus auf ein westlich-koloniales Problem reduziert. Etwa eine Million Jüdinnen und Juden wurde aus der islamischen Welt vertrieben. Sie bilden die Schicht der Mizrachim, der „arabischen“ Jüdinnen und Juden, die sich selten als solche bezeichnen, sondern häufiger als irakische, tunesische oder persische. Sie sind der Grund, warum es falsch ist, von einem „Konflikt zwischen Juden und Arabern“ zu sprechen. Es ist ein Konflikt zwischen nichtjüdischen Araber*innen (atheistische, christliche, islamische uswusf.) und Jüdinnen und Juden (atheistische, orthodoxe, säkulare, christliche, arabische, portugiesische, chinesische, äthiopische, amerikanische uswusf.).

Es ist der islamische Chauvinismus, der keine emanzipierten Juden dulden konnte, von Jüdinnen gar nicht zu reden. Der islamische Chauvinismus diskriminierte die jüdische Bevölkerung seit der Vernichtung der jüdischen Stämme durch Mohammed, die nach den Massakern im Koran mit einer „jüdischen Verschwörung“ gegen ihn legitimiert wird, und im Zuge der folgenden Eroberung der arabischen Halbinsel. Sie sollten Synagogen nicht renovieren, diese durften offiziell nicht höher als die Häuser der Muslime sein, sie mussten einen gelben Fleck tragen, nur auf Eseln reiten, durften keine Waffen tragen und mussten hohe Schutzsteuern zahlen, die schließlich noch im späten osmanischen Reich als Instrument verwendet wurden, um die jüdische Bevölkerung in Palästina zu vergraulen. Pogrome waren auch im Mittelalter bekannte Erscheinung in der islamischen Welt, und mit dem Aufstieg der Nazis nahmen sie an Zahl zu. 1941 ermordete ein antisemitischer Mob im Farhuk, dem großen Pogrom von Bagdad, bis zu 600 Jüdinnen und Juden. Hauptverantwortlich für die Ausschreitungen: der Mufti von Jerusalem.

Das Jordantal und die benachbarten Anhöhen waren über Jahrtausende kontinuierlich von Jüdinnen und Juden besiedelt. Aus dem, was heute „Westbank“ genannt wird, wurden Jüdinnen und Juden erst durch arabische Pogrome, z.B. aus Hebron 1929 vertrieben. Es war der islamische Antisemitismus, der einen jüdischen Staat mit einer islamischen Minderheit nicht akzeptieren konnte und seitdem jedes Friedensabkommen sabotierte. Das zu wissen und entsprechend Geschichtsmythen kritisch zu hinterfragen sollte Aufgabe einer informierten Nahostkorrespondenz sein.

In anderen Artikeln schaffte es Poppe nicht einmal, eine klare Ablehnung von antisemitischen Propagandabegriffen wie „Apartheid“ zu formulieren. Im Artikel „Streit um Israel“ wird die reale Apartheid in Südafrika mit ihrer strikten Trennung der Hautfarben in „Rassen“ und ihrer dezidiert rassistischen Ideologie auf Sicherheitspolitik und Diskriminierungserfahrungen reduziert und verharmlost.

„Ist das alles Apartheid? Die Debatte darum wird in westlichen Ländern und unter der jüdischen Bevölkerung Is­raels erhitzt geführt. Doch die meisten Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Dschisr az-Zarqa, Hebron und Jaffa interessiert vor allem eines: Dass ihre Situation, wie auch immer die internationale Gemeinschaft sie bezeichnen möge, in der Welt bekannt wird.“

So kann man sich enthalten und doch Stellung beziehen. In einem anderen Artikel, „Glaubwürdigkeit verspielt„, differenziert sie das dann so:

„Der Begriff Apartheid kann auf die Lebensbedingungen im Westjordanland angewandt werden, ohne dass es abwegig scheint: die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen leben dort seit 1967 unter israelischer Militärherrschaft. Jedoch zu behaupten, dass die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Israel unter einem Apartheidsregime leben, ist absurd – auch wenn auch sie ohne Frage unter Diskriminierung leiden.“

Apartheidvorwurf ja, aber nur in der Westbank – das ist die Botschaft Poppes. Die Militärherrschaft mag unangenehm sein, sie ist aber nicht das Produkt rassistischer Ideologie wie in Südafrika und dementsprechend sind Mischehen legal, Soldat*innen schützen auch nichtjüdische Araber*innen vor Terror und Ehrenmorden, und in der israelischen Armee dienen auch Muslime und Araber*innen. Es ist nicht nur verharmlosend, es ist eine Täter-Opfer-Verkehrung, hier einen jüdischen Apartheidstaat am Werk zu wähnen. Schließlich gibt es Konfliktparteien, die tatsächlich seit Jahrzehnten die Ausrottung der Gegenseite propagieren: Der Islamische Jihad, die Hamas, die Fatah und auch die PFLP, die sich mit Selbstmordattentaten ebenso brüstet wie mit Raketenterror gegen Schulkinder. Wenn ein Jude sich in autonome Teile der Westbank wagt, etwa um das Josefsgrab zu besuchen, riskiert er, gelyncht zu werden.

Poppes Narrative und ihre Weglassungen und Verkürzungen sind nicht außergewöhnlich, sondern nach wie vor Standard des deutschen Journalismus und der Universitäten. Die völkerrechtlich verbrieften Ansprüch Israels auf den Stand der Balfour-Deklaration auch nur hypothetisch zu vertreten, gilt als extremistisch, den uralten, im Koran verankerten islamischen Antisemitismus als hauptsächliche Konfliktursache zu benennen als anrüchig, wo die Importthese (vor der Damaskus-Affäre habe es keinen islamischen Antisemitismus gegeben) und die Golden-Age-Fantasie (der jüdischen Minderheit sei es unter islamischer Herrschaft immer gut gegangen) immer noch von Professor*innen vertreten werden – was in Sachen fachlicher Inkompetenz vergleichbar wäre mit der Behauptung eines Historikers, Hexenjagden hätten nur im Mittelalter stattgefunden oder Frankreich würde von Wikingern regiert.

Die taz bietet nach wie vor keine faktenbasierten Einblicke in die Realität des Konfliktes und seiner Ursachen. Dass sie damit nicht alleine ist, macht es nicht besser.








„…das Öl zu erhitzen.“ Antisemitismus unterm linken Tannenbaum.

„Den Kirchen­ober­häuptern in Jerusalem würde ich raten, die Verteidigungsanlagen zu befestigen und das Öl zu erhitzen. Die Barbaren kommen.“

Susanne Knaul übersetzte für die „tageszeitung“ den Text „Dialogisch bis fanatisch“ von Hagai Dagan, der in der Weihnachtsausgabe (24.-26.12.2021) christliche Palästinenser*innen dazu aufruft, „das Öl zu erhitzen“, um die jüdischen „Barbaren“ abzuwehren. Hagai Dagan ist erst seit 2021 Autor der taz, hat in Freiburg und Tel Aviv Philosophie und Theologie studiert und einige Romane mit mystischen Themen geschrieben.

Ist er in „Die Hoffnung der Narren“ noch um eine ausgewogene Kritik religiösen Fanatismus in Gaza und Israel bemüht, verlässt ihn dann im folgenden Text jede Fachkenntnis, wenn er eine bedingungslose Kooperation mit Iran einfordert:

„Es scheint, als führe Israel einen aussichtslosen Kampf, was Experten zu der Frage führt, ob es nicht sinnvoller ist, sich auf den Atomstaat Iran einzustellen, anstatt ihn weiter vergeblich verhindern zu versuchen. Was würde geschehen, wenn Israel den Ton ändert? Was, wenn Außenminister Jair Lapid erklärt, dass Israel einerseits sehr besorgt ist angesichts des iranischen Atomprogramms, gleichzeitig aber die Hand reicht und Versöhnungsverhandlungen ohne Vorbedingungen zur Disposition stellt.“

(„Einfach mal Frieden ausprobieren“, 20.11.21)

Israel kann angesichts der apokalyptischen, messianistischen Ideologie des islamischen Regimes in Iran keine nukleare Bedrohung akzeptieren, sei es durch schmutzige Bomben oder Mittelstreckenraketen. Jegliches Appeasement bedeutet die Aufgabe Israels als bedrohtes, aber insgesamt wehrhaftes, gesichertes Asyl. Dagan mag hier aus unbedachtem Reflex gegen die israelische Rechte argumentieren, aber er muss irgendwo dem parteiübergreifenden Konsens der Sicherheit Rechnung tragen, wenn er nicht in den lunatic fringe abdriften will.

Mit „Dialogisch bis fanatisch“ liefert Dagan nun zu Weihnachten eine üble, sadistische Fantasie. Er nimmt – ob zu Unrecht oder nicht – die Klage der Diözese von Jerusalem über verbale und tätliche Angriffe auf Christen zum Ausgangspunkt einer Kritik an der religiösen Rechten. Die Kirchen sehen darin einen „systematischen Versuch“, die Christen „aus Jerusalem und anderen Teilen des heiligen Landes“ zu vertreiben.
Das ist zunächst ein Verlust an Geschichtsbewusstsein. Schließlich wurde die jüdische Altstadt mit der Besetzung durch Jordanien einer ethnischen Säuberungskampagne ausgesetzt: 58 Synagogen wurden zerstört, Jüdinnen und Juden flohen oder wurden ermordet. Jerusalem war allen geschichtlichen Zeugnissen der letzten Jahrhunderten zufolge stets mehrheitlich von Jüdinnen und Juden bewohnt.
Und christliche Patriarchen und Protagonisten waren in der gesamten Region von der blutigen Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer über die „Damaskusaffäre“ bis hin zu neuerer Medienpropaganda intensiv an antisemitischen Kampagnen beteiligt, so dass man von einer Ökumene von islamischem und christlichem Antisemitismus sprechen kann, die unter anderem der Karikaturist Naji al Ali beispielhaft verkörperte: Jesus und die muslimischen Araber werden in seinen Karikaturen Seite an Seite als Opfer der Juden dargestellt.
Wenn heute Nachkommen von vertriebenen Jüdinnen und Juden zu Recht eine Restitution geraubter Immobilien in der jüdischen Altstadt einfordern, wird das derart reflexhaft als „Besetzung“ dargestellt, dass sich eventuell doch einmal berechtigte Kritik von antisemitischer Propaganda mit ihrem Herzstück der Täter-Opfer-Umkehrung kaum noch unterscheiden lässt.

Dagan jedoch überspringt die jüngere Geschichte der antisemitischen Gewalt und ethnischen Säuberung Jerusalems und leitet Restitutionsansprüche ausschließlich aus der jüdischen Theologie ab.

„Diese Texte füllen tausende Seiten, von der Bibel bis hin zu den Rabbinern, die die Banden anführen, die in Jerusalem heutzutage ihr Unwesen treiben. Solange die Juden im Exil lebten und auf das Wohlwollen anderer angewiesen waren, kam diesen Texten keine größere Bedeutung zu. Das änderte sich, als die Juden Herren ihrer selbst wurden. In Israel gibt es eine breite liberale, überwiegend weltliche Öffentlichkeit, die diese Phänomene verabscheut. […] Die Gewalt gegen Palästinenser und die gegen Priester in Jerusalem sind zwei Seiten derselben Medaille. Hier geht es um Menschen, die aufgewachsen sind mit einer giftigen Mischung aus Opferrolle und Gewalt gegen Angehörige anderer Religionen.“

„Dialogisch bis fanatisch„, Hagai Dagan, tageszeitung vom 24.-26.12.2021


Aus dem jüdischen Trauma wird hier eine Bedrohung für Andere, Juden aus „Opfern“ zu Schauspielern einer „Opferrolle“. Es ist diskutabel, ob in Israel nationalistischer Chauvinismus entstanden ist, der in Aggression umschlägt. Ihn ohne die permanente Bedrohung und den Terror der Gegenseite zu erzählen ist das eine, ihn außerhalb Israels trotz seiner global absolut marginalen Rolle für eine linke, deutsche Öffentlichkeit zur Gefahr hochzustilisieren, das andere.
Wo Dagan endgültig den Pfad der Diskursfähigkeit verlässt, ist, wenn er ein „Gemetzel“ fantasiert und dieses im gängigen antisemitischen Motiv „jüdischer Rachsucht“ auf biblische Traditionen zurückführt.

„Ihre Schlussfolgerung aus der jahrtausendelangen Judenverfolgung ist nicht, dass die Juden bessere Menschen sein sollen, sondern, dass sie „offene Rechnungen begleichen“ sollten. Sie lassen sich von den ­biblischen Helden wie Simon oder Pinchas inspirieren, die die Kanaaniter blutig nieder­metzelten.“

„Dialogisch bis fanatisch„, Hagai Dagan, tageszeitung vom 24.-26.12.2021

Spätestens im Schlusssatz hätte eine hinreichend an journalistische Ethik gebundene Redaktion einschreiten müssen. Wer solche Wortwahl an Weihnachten abdruckt, arbeitet in einer jahrhundertealten Tradition des christlichen Antisemitismus, der die Gläubigen an christlichen Feiertagen bis hin zum Pogrom aufreizte.

„Ich wünschte mir eine linke, weltliche und liberale Regierung, die gegen diese religiösen Fanatiker vorgeht. Die Trennung von Staat und Religion und die Beseitigung dieser Wespennester, aus denen diese Halunken hervorgehen. Aber ich mache mir keine Illusionen. Die Mehrheit der israelischen Gesellschaft akzeptiert diese Gewalt halbherzig oder wenigstens passiv. Grund dafür ist die langjährige national-religiöse Indoktrination der verschiedenen Regierungen. Den Kirchen­ober­häuptern in Jerusalem würde ich raten, die Verteidigungsanlagen zu befestigen und das Öl zu erhitzen. Die Barbaren kommen.“

„Dialogisch bis fanatisch„, Hagai Dagan, tageszeitung vom 24.-26.12.2021

Das Bild von jüdischen, gewalttätigen „Wespen“, „Halunken“ und „Barbaren“, und diese dann mit heißem Öl von „Kirchenoberhäuptern“ bekämpft sehen zu wollen – das ist eine Fantasie, die Meinungsäußerung überschreitet und im Stil der Kreuzfahrerei zur sadistischen Gewalt gegen Jüdinnen und Juden mobilisiert. Das mag in einer israelischen Öffentlichkeit als Polemik aus dem lunatic fringe der Linken gelten, in Deutschland an Weihnachten publiziert ist es schwerlich anders denn als Antisemitismus zu lesen.







„Dune – Der Wüstenplanet“ – Vom surrealistischen Kitsch zum reaktionären Machwerk



Die Geschichte vom Wüstenplanet Dune zieht ihre Popularität primär aus dem Bild eines Sandplaneten, dessen karger Boden auf wundersame Weise gigantische Wesen ernähren kann. Diese Sandwürmer sind zugleich kilometerlanger Phallus und alles verschlingende Vagina dentata. Wenig verwunderlich, dass sie – ähnlich der Alien-Figur H.R. Gigers – Generationen faszinieren. Kontrolle und Beherrschung dieser bedrohlichen Geschlechtsteile durch den konformistischen Rebell und künftigen Imperator Paul Atreides liefern den symbolischen Kern der Geschichte. Von sekundärer Bedeutung ist das Erlangen von Transzendenz durch eine Rauschdroge, die von den Würmern produziert wird. Der Rest der Geschichten besteht aus frei wütende Assoziationen über dämonisierte Elternfiguren mit den Hauptthemen Gift, Kontrolle und Verrat.

Konsequent war daher Jodorowskys Versuch, eine surrealistische Transkription zu finden. Nach seinem Scheitern konnte die erste Verfilmung durch David Lynch auch nur misslingen. Zwar bleibt Lynch dem surrealistischen Konzept treu, wo er das Symbolische mit Schleim, Eiter und Organität aufzufangen sucht und architektonisch mit einer Mischung aus Goth, Art Deco und Jugendstil-Design aufwartet. Vor allem im Porträt der Harkonnen erinnert er doch stark an ältere Comic-Bösewichte und rutscht unkontrolliert in die homophobe, im Blutritual auch antisemitische Groteske ab. Bei Lynch ist jedoch die chaotische und komplett übertriebene Ekelhaftigkeit der Harkonnen von der polierten Gelacktheit der Atreides nicht zu trennen, sie sind verdrängte Verwandtschaft eher als Gegner. Und Lynch hatte in seinen ekelhaften Figuren den Mut zur Konfrontation des Publikums mit ungewohnten, verdrängten Bildern, die das Publikum in Frage stellen und nicht seine Ressentiments bestätigen.

Die neue Dune-Verfilmung (2021) durch Dennis Villeneuve fällt hinter alles Bestehende weit zurück. Man hätte an den ersten, gescheiterten Versuch von Alejandro Jodorowsky und H.R. Giger anknüpfen können, oder Lynchs Version vorantreiben. Im neuen „Dune“ wurden aber surrealistische Momente rigoros stillgestellt und die kolonialen und rassisierten Erzählmomente nicht etwa aufgehoben, sondern verstärkt. Villeneuve muss Lynchs Version so sehr gehasst haben, dass er sie vollständig ignoriert. Anstelle einer modernisierten, aufgeklärten Interpretation steht nun ein verkrampfter Kriegsfilm, der die Vorlage tatsächlich ernsthaft auserzählen will: als „Star Wars für Erwachsene“, wie der Regisseur verlautbart. Die Möglichkeiten, die eine surrealistische und antikoloniale Neuverfilmung geboten hätte, wurden nicht nur nicht ausgeschöpft, sondern vollumfänglich verstoßen.

Die Erzählung von „Dune – der Wüstenplanet“ entsteht unweigerlich als Parabel zur geschichtlichen Eroberung des Erdöls. An der Oberfläche genutzt und geschützt von einer nur als „arabisch“ lesbaren indigenen Bevölkerung, den Fremen, lauert unter der Oberfläche die Rache der Natur in Form von Sandwürmern. Damit ist das Grundproblem des Kapitalismus abgesteckt: Enteignung, Gewalt und Raub im Zuge der „primitiven/ursprünglichen Akkumulation“ und Naturbeherrschung ohne Versöhnung. Dune tatsächlich als Kapitalismuskritik zu lesen, zeugt allerdings von tiefen Standards.

Antikolonialistisch war diese Erzählung jedenfalls nie. Lawrence von Arabien, Karl May und andere Produktionen verliehen der westlichen Hinwendung und Bewunderung für arabische „Wüstenmacht“ Ausdruck. Die Strategie des Westens war (vielleicht mit Ausnahme Algeriens) nicht, die arabische Welt zu brechen und zu durchherrschen, sondern die djihadistischen, nationalistischen und demokratischen Bewegungen zu fördern, ihnen eine Befreiung vom osmanischen Reich zu versprechen, und dann Herrschereliten wie die Sauds mit Macht im Tausch für Öl auszustatten. Orientalismus und Arabesken verbrämten und verniedlichten die politische Gewalt des entstandenen Reichtums und des religiösen Fanatismus.

Als Gegenmacht diente aber rasch nicht mehr das osmanische Reich, sondern kurzzeitig der italienische und deutsche Faschismus und dann wesentlich länger und intensiver die Sowjetunion, die Modell für die Harkonnen steht. Alle Seiten umwarben die „Wüstenmächte“ der arabischen Welt und alle tendierten dazu, im Zweifelsfall den jungen Staat Israel den arabischen Mächten auszuliefern. Die Kolonisierung der arabischen Welt ist anders als die des Trikonts von Identifikation mit Klischeebildern geprägt: Haremsdamen mit durchsichtigen Schleiern, wertvolle Gewürze, Aladins Wunderlampe, 1001 Nacht. Diese in der Vorlage schon vorgegebenen Bilder werden von Villeneuve ohne Skrupel bedient: am stärksten in der blauäugigen jungen Frau mit Schleier, die als erotisches Objekt die Träume von Paul Atreides durchwandelt.

Die Erzählung von „Dune“ insbesondere in seiner neuen Ausprägung bietet vor diesem politischen Hintergrund eine Projektionsfolie primär für den westlichen, rassistischen Blick. Spice „hellt“ den Blick auf, macht dunkle Augen „blau“ und letztere werden als Symbol von Weitsicht, Klarsicht und Weisheit eingeführt. Blaue Augen machen dergestalt die freiheitsliebenden „Fremen“ vor allem für ein weißes Publikum zum Identifikionsobjekt. Es hätte einer reflektierten postkolonialen Bearbeitung von Dune offen gestanden, dieses für die Erzählung irrelevante, aber zutiefst der Rassenlehre entspringende Motiv zu ändern.

Dune war bislang ein weißer Traum, der von weißen Darstellern gespielt wurde.  Daran ändert in der Neuverfilmung auch die nunmehr dunkle Hautfarbe einiger Statisten nichts. Der erste schwarze Mensch im Film ist ein Kundschafter, ein Dienstbote eines unsichtbaren Imperators ohne eigene Macht oder Charakter. Er bleibt im Stereotyp der schwarzen Hofdiener, die sich Fürstenhöfe hielten. Die zweite Figur ist die der nunmehr weiblichen „Ökologin“ Liet Kynes, die ebenfalls im Dienst des Imperators steht. Die Kombination von Schwarzsein und Ökologie entspringt der rassistischen Gleichsetzung von schwarzer Haut mit Natur. Auch diese Figur bleibt ein stereotypes Token. Sie stirbt wie für Hollywoodfilme üblich, sehr rasch und erhält keine Chance auf einen komplexeren Charakter.  
Die dritte, sprechende Figur mit schwarzer Hautfarbe ist Teil einer Fremen-Bande. Der „erfahrene Krieger“ fordert den weißen Held und Mahdi zum Kampf und verliert erwartbar. Dieser Schicksalskampf zwischen weißem Held und schwarzem Gegner ist ein austauschbares Element zahlloser kolonialer Erzählungen und nur weniges an Reflexion über rassistische Geschichte hätte genügt, um dieses Bild dem Publikum nicht aufzudrängen. In der filmischen Logik wird das Töten eines Menschen mit dunkler Hautfarbe notwendig, um sich als Mahdi zu beweisen. Aus einem weißen Film wurde ein Film, in dem Weiße Schwarze töten müssen, um heilig gesprochen zu werden.  

Auch die Identifikation mit den indigenen Fremen ist nur scheinbar anti- oder postkolonial. Sie bleiben Statisten mit einer Funktion: sich mit der weißen Erlöserfigur zu identifizieren. Das Haus Atreides verspricht den Fremen zunächst eine Entwicklungsherrschaft: Ausbeutung der natürlichen Ressourcen im Tausch gegen Sicherheit und Wohlstand. Das ist das exakte Selbstbild kolonialer Herrschaft, die sich ja nicht als die zynische Ausbeutung darstellte, die sie war, sondern als Befreiung der Kolonisierten von Sklaverei, Feudalismus und Seuchen. Das Gegenbild der Harkonnen als zynische Ausbeuter dient primär der Aufwertung – wie auch „Tim und Struppi am Kongo“ gegen weiße Räuber kämpfen, um sich von den Schwarzen auf den Thron heben und feiern zu lassen.

Dass die Bene Gesserit als Frauenorden mit Macht ausgestattet scheinen, arbeitet dem Missverständnis einer feministischen Erzählstruktur zu. Der Zweck des Frauenordens besteht aber darin, einen männlichen Messias zu ermöglichen, wie auch die weibliche Hauptfigur als Mutter ihren Lebenszweck auf den Machtgewinn ihres Sohnes ausrichtet. Ihre anfangs überlegene Intellektualität als lehrende Mutter wird auf dem Wüstenplanet sofort verkehrt: Sie wird übertrieben passiv, feminin, hilflos gezeichnet und muss sich von ihrem erstarkenden Sohn Basisbanalitäten wie den Sandmarsch oder das Anlegen des Fremen-Anzuges mansplainen lassen.

An toxischer Männlichkeit ist der neue Film überreich und hier wird der gigantische intellektuelle Unterschied zwischen Lynch und Villeneuve frappant. Im ersten Auftritt prüft der „Hubschrauberpilot“ Duncan Idaho die „Muckis“ von Paul Atreides, um ihn dann wie in tausenden bekannten toxisch männlichen Hollywoodwitzchen als Schwächling zu verhöhnen. Dieses Männlichkeitsideal wird bis zu seinem Tod durchgehalten und glorifiziert: Er ist ein Krieger ohne jedes Drama. Lynch war – trotz aller gebotenen Kritik an seiner Esoterik – Männlichkeit in all seinen Filmen verdächtig. Er konfrontiert sie bewusst mit ihren Urängsten, mit Kastration und Versinken in Schleim, Speichel und Wahnsinn. Villeneuve glorifiziert patriarchale Männlichkeit ohne eine einzige Frage an sie zu stellen.
Die Vorstellung, dass man in 8000 Jahren noch und wieder „Muckis“ sagen und prüfen würde, widerruft jede Idee von Fortschritt, und spricht zugleich Bände über die mangelnde Befähigung der Storyschreiber, eine künftige Gesellschaft zu denken. Diese Welt ist konservativ bis ins Mark gestaltet, als Abbild des WASP-Amerika, und das nicht als Dystopie, als Reaktion auf vergebliche Revolten, sondern so, als hätte es diese nie gegeben, als wären diese in 8000 Jahren nicht denkbar. Die Krieger sind Männer und Männer sind Krieger. Frauen sind Mütter und bestenfalls Hexen. Sie sind Statisten der Apotheose Pauls und der Film damit auf ein reines narzisstisches ödipales Drama reduziert, als Mutter-Kind-Dyade, in der der Sohn eine gewaltige, bezähnte Penisvagina reiten muss, um mit einer dämonischen Vaterfigur in Konflikt treten zu können und ihn, bzw. den idealisierten toten Vater abzulösen.  

Konservativismus spiegelt sich auch in der Ästhetik wieder. Die Berufung auf römische und griechische Mythologie wirkt ebenso altbacken wie die Kostüme, die von 8000 Jahren Fortschritt nichts spüren lassen. Alle Dune-Versionen hatten dieses Problem. Villeneuve kehrt zur orthodoxen Toga zurück, die Uniformen sind die von heutigen Armeen, immer noch schwelgt man in Stier- und Schwertkämpfen, rügt sich in War-Rooms, prahlt in Prätorianergardenromantik und dem Jargon von Marines. Man dient sich faschistischer Ästhetik an wie der Futurismus einst. Das taugt nicht einmal für eine Dystopie, sondern es wirkt einfach ebenso ranzig und angestaubt wie sämtliche Dialoge im Film.

Theatresk, holzig, bemüht und flach bleibt der Modus des Sprechens durchweg. Kein überraschender Satz wird hier gesprochen, kein Soziolekt, die Mimik bleibt unglaubwürdig und dem Klischee verpflichtet.
Jede Choreographie des Kampfes ist hundertmal in anderen Filmen zu sehen gewesen. Was Jackie Chan, zahllose Kung-Fu-Filme, die Matrix-Trilogie sowie neuere chinesische Filme im Gefolge von „Hero“ und „Tiger and Dragon“ jeweils an Originellem ausarbeiteten, wird hier nicht einmal im Ansatz erreicht. Den Kämpfen fehlt alle Dramaturgie, jede Poesie, bis hin zum letzten Schwertstreich ist alles wiederholter und erprobter Effekt.   

Was die Ästhetik der Ökologie von Dune angeht, hat es neben den obligatorischen Wüstenwürmern nur für eine Wüstenspringmaus gereicht, die mit ihren Ohren Wasser aus der Luft filtert. Man darf annehmen, dass der zweite Teil noch einige Wüstenbüsche und Bäume zeigt, womöglich noch eine Schlange. Ausformuliert wirkt lediglich die brutalistische, futuristische Architektur und als Einzelprojekt die den Libellen nachempfundenen Ornithopter.
Was Ambivalenz als Stilmittel angeht, gibt sich die Neuverfilmung keinerlei Mühe: Alles wird erklärt, nichts bleibt offen oder unklar. Die einen sind gut, die anderen böse. Der Verrat ist offensichtlich, der Fortgang unvermeidlich. Klischee folgt Klischee folgt Klischee.  

Erzeugte Lynch noch eine Sphäre des Verklemmten, des zutiefst falschen, widersinnigen in den Gesellschaften, die sich auf vielen symbolischen Ebenen bekriegen, will Villeneuve die Atreides zu Identifikationsfiguren in einem Kampf von Gut gegen Böse aufbauen und die Harkonnen als barbarisches Gegenprinzip. Reflektiert Lynch in seinen Harkonnen wenigstens noch den Abspaltungsprozess, wird er bei Villeneuve ganz unreflektiert unterstützt.

165 Millionen den Arbeiter*innen mittels Manipulation herausgepresster Mehrwert müssen sich moralisch ebenso rechtfertigen wie ein Staatshaushalt. Unterhaltsam sind die Raumschiffe, die wie in jedem neueren Film seit Space Balls und Independence Day monströs zu sein haben. Alles andere ist endlos recycelter Müll aus der Filmretorte. Villeneuve schafft keine Dystopie, er nutzt die spektakuläre Kulisse, um einen hollywoodkonformen Kriegsfilm nach Schema F herunterzuleiern.

Querfront im Wasserglas

Am 17. August 2017 wurden von einem djihadistischen Attentäter in Barcelona 15 Menschen ermordet und 118 verletzt. Bei der Flucht tötete die Terrorzelle eine weitere Frau und verletze sieben Menschen.

Einen Tag später demonstrierten in Las Ramblas, Barcelona, Anhänger der rechtsextremen Partei „Democracia nacional“ (die unter anderem mit dem Schlagwort „Schwulenlobby“ gegen Homosexuelle hetzt), offen als solche erkennbare Neonazis, Faschisten der „La Falange“ und Identitäre gegen die „Islamisierung Europas“. Filme von vorherigen Aktionen und Demonstrationen (1, 2, 3) belegen, dass es sich hier nicht um eine spontane Unmutsbekundung handelte, sondern um eine gut organisierte Klientel, die den deutschen „autonomen Nationalisten“ und den „Hooligans gegen Salafismus“ entspricht und gern den faschistischen Gruß mit beiden Armen praktiziert.
Eine große Anzahl Gegendemonstranten, die sich unter dem Motto „Kein Terror, keine Islamphobie“ versammelt hatten, erkannte in dieser Gruppe die zugrundeliegende Gesinnung und blockierte deren Demonstration.

Am 18.8.2017 kommentierte eine Internetnutzerin aus Norddeutschland die Gegendemonstrationen:

„Die antifaschistische Zivilgesellschaft Barcelonas lässt keinen Zweifel daran, dass sie die Mörder von La Rambla nicht nur nicht als Hauptfeind, sondern als Bündnispartner gegen Rechts betrachtet. Mir ist nicht sehr wohl bei dem Gedanken, dass dieses Katalonien demnächst ein neuer (postnationaler Un-)Staat in Europa werden könnte.“

Dazu schreibt Tjark Kunstreich:

Wie Joel Naber schon in einem anderen Thread zum gleichen Thema sagte: Wo ist die Barbarei je ohne Querfront besiegt worden – sowohl die Résistance als auch die Alliierten waren der politischen Logik der Linken zur Folge nichts anderes. Ich habe die Schnauze so voll von diesen indentitären Linken, die wissen, wo es lang geht, aber sich die Finger keinesfalls schmutzig machen wollen. Sie haben nicht begriffen, worum es geht.

Der Beitrag wurde unter anderem geliked von Dieter Sturm und Joel Naber, beide keine Unbekannten in der sogenannten Szene.

Kunstreich verdrängt zunächst die Geschichte des Begriffes Querfront. Das, was Querfront genannt wurde, ging historisch eher von der Rechten aus, die versuchte, die ärmeren Bevölkerungsschichten mit der Imagination einer Revolution zu ködern. Politisch real wurde die Querfront zuerst als Bündnis von nationalistischen Sozialisten mit rechten Antisemiten. Diese Querfront wurde unter dem Namen „Nationalsozialisten“ erfolgreich. Zur Erinnerung: Die „linken“ Elemente in der NSDAP um Röhm wurden mit dem „Röhm-Putsch“ eliminiert.
Querfront als faschistische Revolutionsmystik ist für den Nazismus überhaupt nichts außergewöhnliches, sondern die Regel – ansonsten wäre er Konservativismus ohne jeden revolutionären Gestus. Daher entstehen seit einigen Jahrzehnten Autonome Nationalisten, die Habitus und Parolen der Linksautonomen kopieren. Man sollte also gegen Kunstreich einwenden: Was an der Idee Querfront ist nicht dieser „Barbarei“, wie man den NS heute so gern verniedlichend nennt, verpflichtet? Wann gab es je eine Querfront GEGEN den Nationalsozialismus, der DIE Querfront schlechthin war?

Dass Kunstreich die demonstrierenden Nazis ausgerechnet mit Alliierten und der Resistance in eins setzt (das Gleiche aber den „Linken“ unterstellt), zeugt von einem Bedürfnis nach Verharmlosung. Er suggeriert nicht nur einen Notstand, in dem der Rechtsstaat nicht mehr funktioniere und keine andere Wahl mehr bleibe als ausgerechnet das Bündnis mit Nazis, um Schlimmeres abzuwehren. Er täuscht auch vor, und das ist vielleicht noch schlimmer, dass das verbale Bündnis einer bedeutungslosen Gruppe von Internetkonsumenten mit diesem flaggenschwenkenden Grüppchen Nazis tatsächlich irgend wirksam gegen den Islamismus würde.

Aus der realen Geschichte, auf die er sich beruft, wird Kitsch. Mussten sich linke Antifaschisten historisch tatsächlich in Kriegszuständen mit konservativen und monarchistischen Kräften verbünden, wie in Italien, so geschah dies in einem Krieg gegen das größere Übel, den deutschen Faschismus. Wer sich hingegen mit Faschisten verbündete, hat den Faschismus gefördert, nicht den Kampf dagegen. Wer glaubt, sich gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ oder gegen Terrorattentate mit Identitären und Nazis gemein machen zu müssen, ist schon bereit dazu, alle Freiheit aufzugeben, die Djihadisten angreifen.

Dass Terrorismus und Gewalt auch Kunstreich nicht fremd sind, bezeugt sein Lamento über Linke, die sich „die Hände nicht schmutzig machen wollen“. Seine neu erwählten BündnispartnerInnen von der Democrazia nacional und Konsorten wissen, wie man sich die Hände schmutzig macht: Mit faschistischen Grüßen, Maschinengewehren auf den T-Shirts, der ganz praktischen Verfolgung von Homosexuellen und Flüchtlingen. All das wird den Islamismus in Pakistan, Bangladesch, Indonesien, Irak, Syrien, Saudi-Arabien, Iran, Mali oder dem Maghreb in keinster Weise eindämmen. Der ins Riesenhafte projizierte Notstand („worum es geht“) ist nicht Ursache einer gefälschten Wahrnehmung, sondern Konsequenz der Verlockung, die der vom Notstand angeblich erzwungene „Schmutz“, also das Bündnis mit der gewalttätigen Autorität, ausübt. Nicht Angst, sondern Lust liegt solchen Äußerungen zugrunde.

Replik auf die Replik von Oliver Schott: „Keine Angst vor der Imamin“

Oliver Schott hat sich die Mühe gemacht, meinen Artikel über die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee ernst zu nehmen und eine Kritik daran zu schreiben. Aufgrund einiger Missverständnisse im Text möchte ich darauf antworten.

Schotts erster Vorwurf:

„Riedel positioniert sich in äußerster ideologischer Gegnerschaft zum Salafismus, doch dessen theologisch wie historisch völlig unhaltbaren Anspruch, zum »wahren«, ursprünglichen Islam zurückzukehren, scheint er für bare Münze zu nehmen.“

Ist dieser Anspruch „völlig unhaltbar“? Ich verweise dazu auf die Empirie: In vielen Regionen der Welt ist genau das den Salafisten längst gelungen und sie sind auf dem Vormarsch. (S. Riedel: Jungle World 31/2015)

Es ist auch historisch kein einmaliger Vorgang: Assassinen, Almohaden, Sufi-Jihads im Maghreb, die Wahabbiten, der Mad Mullah, das Sokoto-Kalifat, die Taliban, Boko Haram und hunderte von anderen Bewegungen und Strömungen vollziehen genau das: Die Rückkehr zu einer Gesellschaft, wie sie im Koran beschrieben und verordnet ist. Das meint Salafismus: Leben wie die Salafis, die Altvorderen der Gründungszeit. Salafisten konnten und können lesen, produzierten Bibliotheken theologischer Literatur und haben auch den Koran sehr gut gelesen. Schott liefert leider kein Beispiel dafür, warum dieser Anspruch völlig unhaltbar wäre, so dass die Widerlegung auf eine vollständige Geschichte des Salafismus hinausliefe.

Der zweite Einwand Schotts:

„Riedels Behauptung jedoch, im Islam hätten es liberale Strömungen nie über den Status minoritärer Sekten hinausgebracht, weil Liberalität eben »im Widerspruch zum Koran« stehe, ist doppelt falsch. Erstens historisch – über weite Strecken des Mittelalters und der Neuzeit hinweg war der Islam keineswegs illiberaler als das damalige Christentum.“

Ich trennte in meinem Text zwischen Kultur und Religion und argumentiere, dass das, was zwischenzeitlich liberal an den islamischen Gesellschaften war, deren kultürliche und in aller Regel gegen den Koran getroffene Wahl war. Eine Abkehr von Religion mehr als eine Reform.

Was aber heißt „keineswegs illiberaler als das damalige Christentum“?

Das Abbassidenreich wird oft als goldenes Zeitalter des Islam bezeichnet. Hier nahm Wissenschaft vor allem der Medizin, Mathematik und Geographie Fahrt auf, einige der Wissenschaftler waren arabische Christen und Juden.

Aber während des gleichen Kalifats kam es im 9. Jahrhundert zum Zandsch-Sklavenaufstand im Irak. Männliche Sklaven wurden durchweg kastriert, die Sklavenjagden hörten nie auf. Auch während des „goldenen Zeitalters“ setzte sich die militärische Expansion fort, bis sie ihre Grenze in einem Christentum fand, das vom Islam lernte. Im Osten wurde Indien zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert blutig erobert, was selbst die Gräueltaten und den Expansionsdrang der Kreuzfahrer in den Schatten stellte.

Und erst in der Konfrontation mit dem Islam entsteht etwas wie ein militärisches Märtyrertum. Das christliche Märtyrertum war zunächst eines von Opfern, die nicht im Kampf, sondern im Glauben und wehrlos starben. Und was die Juden angeht, revidieren Historiker die These vom „goldenen Zeitalter“. Der nach dem zweiten Kalifen benannte, von der Quellenkritik erst für das 10. Jahrhundert bestätigte Kodex Umar mit seinen Kleidungsvorschriften, Ghettoisierung der Juden und diskriminierenden inspirierte die Diskriminierungen des 4. Laterankonzil 1215 vor. Die großen Pogrome von Cordoba (1011), Fez (1033) und Granada (1066, 4000 Tote) lagen vor den ersten großen Pogromen der Kreuzfahrer (1096). Die Almovariden riefen 1042 den kriegerischen Djihad gegen Ketzer und Ungläubige auf. Und so geht es weiter in der islamischen Geschichte.

Ich argumentiere, dass liberales Denken im Islam gegen die Religion oder abseits der Religion entsteht, während Säkularismus und Individualismus im Christentum als Rückkehr zum wahren Christentum immerhin denkbar war. Das Christentum ist theologisch auf den Säkularismus und den Humanismus vorbereitet, der Islam ist es nicht.

Schott schreibt weiter:

„Nur kann ein solcher Vergleich sinnvollerweise nicht rein abstrakt und ahistorisch, allein mit Rekurs auf den Text der jeweiligen heiligen Schrift geführt werden.“

Der in dem gesteckten Rahmen unmöglich ist, weshalb mit Quellenverweisen an zwei konkreten Beispielen (Ehebruch und Schleier) gearbeitet wurde. Andere Beispiele bringe ich in früheren Texten im gleichen Medium. Auf diese Beispiele geht Schott weder ein noch liefert er eigenes Material, das Diskussionsgrundlage böte.

Nochmals Schott:

„Hier ergibt sich ein Dilemma für Riedels Argumentation: Man kann die These vertreten, der Koran sei ein deutlich schlechteres Buch als die Bibel, aber dann muss man offenbar zugeben, dass die Qualität der heiligen Schrift nicht ohne weiteres der Qualität der praktizierten Religion in ihrer historischen Gestalt entspricht.“

Schott verwirft offenbar ohne Argument meinen Vorschlag einer Trennung zwischen Kultur und Religion. Er geht davon aus, dass „die praktizierte Religion in ihrer historischen Gestalt“ die Religion sei. Er nennt aber keine historischen Gestalten, die diskutierbar wären. Es läuft auf die einfache Beobachtung hinaus, dass es historisch andere Verlaufsformen als den Salafismus gab. Das stelle ich aber nicht zur Diskussion, ich erwähne ausdrücklich Synkretismen.

Schott sieht meine Argumentation mit Fehlern behaftet:

„Dies führt auf den zweiten grundlegenden Fehler Riedels, nämlich seine maßlose Überschätzung des Stellenwerts theologischer Folgerichtigkeit in der Religionsgeschichte. Die Strömungen des Islam, die heute dominant sind, sind dies ja nicht in erster Linie deshalb, weil sie theologisch konsequenter wären oder dem Wortlaut des Koran besser entsprächen als ihre innerislamischen Konkurrentinnen.“

Hier ist die Antwort klar und einfach: Doch. Man sollte sich dazu die vier großen Rechtsschulen im Islam ansehen. Der Wortlaut des Korans ist allen heilig. Die „Schließung des Tores des Idschtihad“ im 10. Jahrhundert führte auch dazu, dass keine relevanten neuen Rechtsschulen entstehen konnten. Die theologische „Korrektheit“ ist allen ein Anliegen, auch wenn einige den individuellen Urteilsschluss höher stellen als andere und die Schafiitische Rechtsschule die in der Sunna verordnete Steinigung bei Ehebruch der im Koran verordneten Auspeitschung vorzieht. Und gerade dort, wo vom Koran abgewichen wird, haben heute die Salafisten Erfolg in der Rückführung der sufistischen Schulen auf den Koran. (Siehe oben)

„Warum sollte sich in der Konkurrenz verschiedener Glaubensrichtungen ausgerechnet größere intellektuelle Stringenz als der alles entscheidende Vorteil erweisen?“

Weil es in einer literalistischen Religion wie dem Islam nicht um intellektuelle Stringenz, um Vernunft, geht, sondern um theologische, inhaltliche Konsequenz.

„Auch das Christentum ist ja keineswegs zugunsten einer »nichtreligiösen Kultur« verschwunden.“

Auch hier ist die Antwort: Doch. Wo es zurückgegangen ist, entstand eine Kultur, die weniger oder nicht religiös war. Eine stetig wachsende Zahl von Menschen bezeichnet sich im Westen als nichtreligiös. Dass das nicht von selbst geschieht, und zu langsam und mit Gegenbewegungen verläuft, ist selbstverständlich.

„Wer wissen will, warum, kann das bei Marx nachlesen – und daraus schlussfolgern, dass auch der Islam wohl kaum schneller verschwinden wird als der Kapitalismus.“

Hier unterstellt Schott eine Ableitung von Religion aus systemischen Zwängen. Das ist gerade nicht die Konsequenz der materialistischen Religionskritik Marx‘, die damit endet: „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.“ Es muss nach Marx eben nicht zuerst der Kapitalismus verschwinden, sondern die Religion. Marx war Atheist und hat Religion aktiv bekämpft. Für die großen Aufklärer des 19. Jahrhunderts, Freud, Marx, Nietzsche, endet jeder einmal gültige Anspruch von Religion mit Darwin, nicht mit dem Kapitalismus. Daher ist ein nichtreligiöser Kapitalismus denkbar und in einigen Staaten dominant, nicht aber ein nichtideologischer. Selbst in dem von Schott kolportierten Sinn kann man fragen, warum der Islam nicht durch andere, womöglich humanistischere, religiöse Formen ersetzt werden kann.

Weiter Schott:

„Wenn in weiten Teilen Europas und Amerikas Humanität und Liberalität einen zwar immer noch beklagenswerten, aber zweifellos deutlich besseren Stand haben als etwa zu Zeiten des Dreißigjährigen Kriegs oder der Kreuzzüge, dann auch deshalb, weil sich vergleichsweise humane Formen des Christentums gegen sowohl theologisch als auch historisch wesentlich besser fundierte durchgesetzt haben.“

Das Christentum ist anders als der Islam eine säkulare Religion. Sie besteht über 300 Jahre als marginalisierte und diskriminierte Minderheit, die sich Staat unterwirft. Das spiegeln alle Gründungstexte wieder. Der Islam wird zu Lebzeiten Mohammeds Staatsreligion und sieht eine künftige Trennung in seinen Gründungstexten nicht vor. Das Christentum ist für eine Rückkehr zum jüdisch-christlichen Humanismus offen, ein universales Tötungstabu ebenso enthalten wie das Vergeben den Sündern gegenüber im Zentrum. Die beiden Hauptquellen des Islam, Koran und Sunna, enthalten solche humanistischen Elemente schlicht nicht oder nicht annähernd in ähnlicher Weise.

Schott schließt:

„Riedel empfiehlt, als »Gegenkultur zum Islamismus (…) vor allem eine nichtreligiöse Kultur (zu) fördern«. Dem ist unbedingt zuzustimmen. Doch wer als Linker seine Aufgabe in der Förderung nichtreligiöser Kultur sieht, sollte der Versuchung widerstehen, die religiöse Kultur noch schlechter zu machen, als sie ohnehin schon ist, indem er sich uneingeladen in theologische Debatten einmischt, um den Fundamentalisten zugutezuhalten, im Gegensatz zu den Liberalen wenigstens konsequent zu sein. Riedel macht einen falschen Gegensatz auf, wenn er den Reformislam in Konkurrenz zu einem nichtreligiösen Humanismus wähnt – als mache Ateş den Islam für enttäuschte Atheisten attraktiv. Der Reformislam konkurriert vielmehr mit konservativeren islamischen Strömungen. Deshalb bedeutet er, aus religionskritischer Sicht, nicht etwa »mehr Islam« (Riedel), sondern weniger.“
Das, was in Europa fälschlich unter Reformislam verstanden wird, konkurriert nicht ernsthaft mit konservativen Strömungen. Diese Konkurrenz wäre zu belegen. Die Hauptkonkurrenten der jeweiligen (in sich politisch, aber kaum theologisch zerstrittenen) Salafisten sind der meist auch nur sehr konservative Mystizismus der Sufi-Bruderschaften, ebenfalls konservative und synkretistische Sekten wie die Ahmadiyya, und die sunnitischen Strömungen, mit denen sie sich in den meisten Angelegenheiten meist einig sind. Gestritten wird um die Anwendung der Steinigung, der Verbrennung, des Selbstmordattentates, die Burka und andere Extreme wie der Hausarrest für Frauen. Nur an marginalen Rändern umstritten ist der Hijabzwang, die untergeordnete Stellung der Frau und der generelle Ruf nach Einführung der Scharia. Und das ist der Grund, warum die Abstimmung mit den Füßen Menschen, die in den Islam geboren wurden und ihn kennen, eher in das Christentum oder in die schrittweise Abkehr von Religion führt und nicht in liberale Moscheen.

Ich sehe auch nicht den Reformislam als ernsthafte Konkurrenz für einen atheistischen Humanismus, sondern letzteren als einzig zu fördernde Alternative zum Salafismus. Alles andere ist Augenwischerei über die theologische Krise des Islam und deren Auswirkung, unter der die ganze Präventions- und Deradikalisierungsarbeit leidet. Für das Christentum mag es einen Übergang gegeben haben, wer aus den theologischen Fallen des Islams herausmöchte, muss in den Bruch oder in die synkretistischen und mystizistischen Sekten.

Ganz kurz gefasst: Man kann schlichtweg nicht jeden Rückzug vom Religiösen ins Private einen reformierten Islam nennen und so das Private wieder aufs Religiöse verpflichten.

Der Islam ist keine barmherzige Religion – Ein Plädoyer gegen den Herz-Jesu-Salafismus

Sawsan Chebli ist SPD-Staatssekretärin in der Berliner Senatskanzlei. Über das Attentat von London schreibt sie: „Als Muslima macht es mich wütend und traurig, schon wieder ohnmächtig mitanzusehen, wie Monster, die sich Muslime nennen, meine Religion pervertieren und im Namen des Islams morden. Ich habe den Islam immer als friedfertige, vergebende und barmherzige Religion gelebt.“

Hinter diesem Schutzschirm einer „gelebten“ Kultur steckt der Wunsch, vor Religionskritik bewahrt zu werden. Selbstverständlich gab und gibt es in islamischen Staaten eine Kultur der Gastfreundschaft, der Barmherzigkeit. Libanon, Irak, selbst die Türkei nahmen christliche und islamische Flüchtlinge aus Syrien bereitwilliger auf als das christliche Europa. Si Ali Sakkat, einst Bürgermeister von Tunis, beschützte unter deutscher Herrschaft sechzig Juden, die aus einem nahen Arbeitslager geflüchtet waren und an seine Tür klopften. Shaykh Taieb el-Okbi verhinderte ein Pogrom von profaschistischen Kräften in Algerien. Albaniens Muslime ermöglichten Juden die Flucht aus Europa. Stets gab es Muslime, die Barmherzigkeit und andere humanistische Ideale für sich entdeckten. Und doch sind solche Errungenschaften eines gerade nicht: islamisch.

Zwar verweist über fast allen Suren ein gleichlautender Vers, die „Basmala“, auf die Barmherzigkeit Gottes. Dieser Vers steht aber in keinem Kontext mit dem Inhalt der Suren und wurde vermutlich später hinzugefügt. Im Koran werden Höllenstrafen über 290-mal erwähnt, das Paradies gerade einmal zwanzigmal. In so gut wie jeder Sure werden Ungläubige und Sünder bestraft. Sprechen die Gläubigen im christlichen Vaterunser „und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, so endet das islamische Vaterunser mit den Sätzen: „Verzeih uns, vergib uns und erbarm dich unser! Du bist unser Schutzherr. Und hilf uns gegen das Volk der Ungläubigen!“ (2:286) In Sure 48:29 heißt es: „Und diejenigen, die mit ihm (gläubig) sind, sind hart gegen die Ungläubigen, und barmherzig zu einander.“

Die Barmherzigkeit Allahs erweist sich nicht durch Barmherzigkeit mit Sündern, sondern durch Barmherzigkeit mit den wahren Gläubigen. Diese sollen einander nicht töten – dafür aber die Feinde unbarmherzig verfolgen, ihnen Finger und Hälse abschlagen. Die barmherzige Handlung Gottes ist im Koran, die Ungläubigen im Diesseits wie im Jenseits auf ewig zu strafen und zu quälen – den Gläubigen aber das ewige Paradies zu bereiten. Das führt zwangsläufig zum Widerspruch, wie Glück im Paradies möglich sein solle, wenn die geliebten, aber sündhaften Verwandten und Freunde in der Hölle leiden müssen. Dieses Widerspruchs hat sich djihadistische Paradieskunde bedient, die Selbstmordattentätern (Shahids) verspricht, mit ihrer Tat auch ihren Verwandten einen Platz im Paradies zu reservieren. Die Barmherzigkeit Allahs erweist sich auch hier nicht als eine, die alles erretten will, sondern als eine, die nicht alles vernichtet.

Ist das christliche Evangelium in sich ambivalent zwischen Barmherzigkeit und Grausamkeit, so ist der Koran von sehr wenigen Passagen abgesehen überwiegend grausam. Solcher Sadismus ist vielen Religionen eigen, weil sie ihr Versprechen einer glückseligen Welt nicht erfüllen können und ständig Schuld aktivieren und projizieren. Der jüdische Gott straft im Diesseits – die Feinde der Juden, aber eben auch die Juden. Der jüdische Gott ist strafend und barmherzig: er lässt mit sich handeln. Der ungerechte christliche straft sogar den eigenen Sohn für die Sünden anderer. Der islamische aber definiert sich ausschließlich durch „gerechte“ Strafe. Am Beginn der Religion steht ein gewaltsamer Akt: als der Erzengel Gabriel Mohammed in seiner Höhle bekehrt, würgt er ihn dreimal, bis Mohammed gehorcht und den Koran rezitiert. Glaube entsteht im Koran primär durch vernünftige Unterwerfung aus Angst vor Strafe.

Die „sichtbaren Zeichen“ Allahs sind Naturkatastrophen und militärischer Erfolg, nicht die Speisung der Armen aus dem wundersam vermehrten Brot. Eine Theodizee ist so nicht entstanden, weil der Koran die militärischen Errungenschaften Mohammeds für den Endpunkt der Geschichte setzt und keinen Vorschlag macht, wie künftige Krisen und Rückschläge zu integrieren wären.  Auch das Determinismusproblem wird koranisch nicht gelöst: Allah erschafft die Gläubigen als gläubig, die Ungläubigen als Ungläubig. Er trägt zwangsläufig sadistische Züge, wenn er die Ungläubigen als solche erschafft und dann leiden lässt.

Aber gerade die Dysfunktionalität und Starre des Korans hat die Gläubigen dazu gezwungen, Kultur zu entwickeln, die wesentlich über den Koran hinausging. In weiten Episoden islamischer Geschichte spielte der Koran eine geringe Bedeutung für die politische Praxis, wurde regelrecht problematisiert. Das aber macht diese Kultur zu etwas anderem als Religion. Oder anders gesagt: nicht jedes Buch, das in der islamischen Welt geschrieben wurde, ist islamisch, nicht jeder Alltagsvollzug eine eigene „Lesart“ des Korans. Sich dem Identitätszwang von Ethnizität und Religion zu verweigern, in dem sich noch das eigene barmherzige Handeln als „islamisch“ legitimieren muss, ist der erste Schritt aus dem Dogmatismus. Regressiv ist hingegen, die aggressiven Hauptelemente des Korans zu einer „Pervertierung“ der Djihadisten zu erklären.

Die stumpfe Theologie der Hölle im Koran ist kein großes Rätsel, aus dem angeblich beliebig ganz unterschiedliche „Lesarten“ entstehen könnten. Glaubhafter wären die Bekundungen liberaler Muslime, wenn sie den Koran selbst (und nicht mehr die „Lesarten“) als gewaltiges Problem anerkennen und nicht mehr als Lösung verkaufen. Wer aber wie Sawsan Chebli und Mouhanad Khorchide behauptet, „der Islam“ und damit der Koran wäre eine barmherzige Religion, übt sich in Herz-Jesu-Salafismus. Wie die Salafisten behaupten sie, dass der Islam und damit der Koran die Lösung für die Probleme des Islam sei. Anders als die Salafisten täuschen  sie die Ungläubigen über das Wesen des Koran. Deshalb sind solche Aufrufe primär patriotisch, nicht kritisch: Sie versuchen das Selbstbild des Islam vor Enttäuschungen zu bewahren, indem sie von häretischen „Monstren“ sprechen, wo eigentlich der Koran selbst zur Diskussion stünde.

 
Zur Erweiterung:

http://www.freie-radios.net/74804

Deir ez-Zor

 Nach Meldungen, die sich im Moment nur auf Reuters, Stern, Heise und einigen putinistischen Medien finden, hat der IS Deir ez-Zor eingekesselt, die sechstgrößte Stadt Syriens.
Die Meldungen sind vom 17.1.2017.
http://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-syria-deir-alzor-idUSKBN1501CN
https://www.heise.de/tp/features/Deir-ez-Zor-Ueber-100-000-Bewohner-und-syrische-Armee-vom-IS-eingekesselt-3598933.html
http://www.stern.de/politik/ausland/is-droht-stadt-mit-mehr-als-100-000-zivilisten-einzunehmen-7285930.html

Informationen zum Kampfverlauf in Deir ez-Zor finden sich hier. Wie kaum ein anderer Konflikt wird Syrien in Echtzeit beobachtet und dokumentiert:
https://en.wikipedia.org/wiki/Deir_ez-Zor_clashes_(2011%E2%80%9314)

Eine Offensive des IS im Januar 2016 hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag:
https://en.wikipedia.org/wiki/Deir_ez-Zor_offensive_(January_2016)

Im Februar 2016 warfen UN-Truppen Hilfsgüter über Deir ez-Zor ab:
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/syrischer-buergerkrieg-vereinte-nationen-werfen-hilfsgueter-ueber-deir-al-zor-ab-14088984.html

Deir ez-Zor wird vorwiegend von sunnitischen Arabern und einem großen Anteil von Kurden bewohnt. Der IS will in Deir ez-Zor einen sicheren Hafen für Kämpfer aus Irak errichten. Es scheint, als sei die Strategie der Allianz, den Irak zu befreien und Syrien dem „Management“ Assads und Russlands zu überlassen, mit einer vorerst ungeklärten Rolle der kurdischen Gebiete.
Am 22.9.2014 fand der erste Angriff der am 5.9.2014 gegründeten Allianz statt. In der Provinzhauptstadt Rakka wurde ein IS-Hauptquartier zerstört und in der Provinz Deir ez-Zor wurde ein Checkpoint getroffen. Seit zweieinhalb Jahren also führen die mächtigsten Staaten der Welt Krieg gegen eine Guerilla ohne Luftwaffe und mit nicht nennenswertem gepanzerten militärischen Gerät und immer noch droht ein Massaker dort, wo der Angriff begonnen hatte. Nichts an diesen internationalen Institutionen löst noch ein Schutzversprechen (R2P) ein, während die Drohung mit global einsetzbaren Drohnen ein globales sadistisches Über-Ich erschaffen hat. Dass der IS trotz seiner Provokations-Massaker so lange gegen diesen mächtigen, aber für seine Bündnispartner verräterischen Gegner ausgehalten hat, ist bereits sein Sieg.
Deir ez-Zor war übrigens in den Jahren 1915–1916 im Rahmen des Völkermordes an den Armeniern Standort des größten osmanischen Konzentrationslagers für jene, die die Massaker überlebt hatten.

Der kalkulierte Skandal

Talkshows sind nicht mit mit Aufklärung zu versöhnen. Ihre Form reduziert jedes Argument zum Geschwätz, jeder entfaltete Gedanke, jedes Material wird schon auf die Meinung der eingeladenen „Positionen“ reduziert. Noch die sechsstündigen Monologe Castros und Chavez‘ enthielten mehr kritisches Potential als diese telemedialen Inszenierungen von Demokratie, die sich nicht scheuen würden, Nazis und KZ-Opfer in einen Raum zu setzen.

Kalt wechselt Anne Will daher beim paraten Stichwort vom Opfer des Islamismus, dem sie nicht einmal ein „das tut mir leid“ zum Abschluss sagen kann, zur Täterin, die in der szenetypischen Codierung zum heroischen Kampf aufruft – freilich sagt sie den prospektiven Heldinnen, dass ihre „Zivilcourage“ kein Zuckerschlecken wie in der gewärmten Stube wird, wohl wissend, dass die Rekrutinnen sich gerade deshalb einschreiben.

Die Islamistin konnte nur gewinnen. Der größte Fehler von Moderatoren ist es, eine verächtliche Person öffentlich vorzuführen, sie mit einer hier auch noch männlichen Übermacht zu konfrontieren. Dieser Overkill produziert Underdogs, denen Mitleid und Sympathien zukommen. Das wusste die Moderation. Sie hat das aber in Kauf genommen, um kulturindustrielle Quote zu machen. So verkehrte sich alles in Gegenaufklärung. Die parallel laufende Dokumentation von Al-Jazeera über die Tuareg in Mali und Niger belegt trotz der Inszenierungen der Jeep-Shows von Wüstenkämpfern, dass das deutsche Fernsehen durchaus aus eigenem Antrieb eine kultürliche Entscheidung zur Verdummung trifft und dass eine andere Aufklärung auch im Bestehenden möglich wäre.