Kalkulierte Eskalationen

„Beim EU-Gipfel in Brüssel hatten sich die Teilnehmer darauf verständigt, die mögliche Einrichtung von Aufnahmelagern in Drittstaaten beispielsweise in Nordafrika zu prüfen. Dorthin sollten Migranten zurückgebracht werden, die versucht hatten, über das Meer nach Europa zu gelangen. Neben Ägypten lehnten jedoch auch Tunesien, Algerien und Marokko ab, Sammellager einzurichten.“
(https://www.deutschlandfunk.de/eu-asylpolitik-aegypten-lehnt-aufnahmezentren-ab.1939.de.html?drn:news_id=898763)
Der Versuch, die Dezimierung der Flüchtlinge aus afrikanischen Staaten an afrikanische Staaten zu deligieren ist nicht neu. Dänische und britische Politiker, dann Otto Schily und Thomas de Maizière und jetzt Donald Tusk, Jean-Claude Juncker und Markus Söder wollen, was die EU in Libyen und Australien in Papua-Neuguinea längst praktiziert: Sammellager, in denen Flüchtlinge in großer Zahl inhaftiert werden, bis sie freiwillig woandershin fliehen oder ihr elender Zustand zur Abschreckung weiterer Geflüchteter dient. Die eskalative Natur aktueller politischer Logik macht diese Zentren ebenso wahrscheinlich wie die Mauer um Europa, die seit 2000 kontinuierlich ausgebaut wurde.

Ebenso wie die Anker-Zentren werden außereuropäische Lager nach ihrer Etablierung auf absehbare Zeit nicht wieder aufgelöst werden, sondern wie heute die Mauer als fait accompli zu dem gerechnet werden, was als gesellschaftliche Realität und damit als „vernünftig“ gilt. Weil aber der agitatorische Trieb in Seehofer und anderen HeimatschützerInnen nie zufrieden sein wird und der inneren Logik zufolge sadistische Energie weiter nach außen richten muss, selbst wenn wie derzeit kaum noch Flüchtlinge den lebensgefährlichen Versuch wagen, wird die Zukunft dieser Lager ebenso eskalativ gestaltet werden.

Denn sollten dort menschenwürdige Bedingungen herrschen, würden sie als reale Option für Millionen Mendschen in den subsaharischen Staaten fungieren. Immerhin haben Staaten wie Sudan oder Äthiopien bereits fünfzehn Millionen afrikanischer Flüchtlinge aufgenommen, eine sichere Option auf afrikanischen Boden würde weitere verzweifelte Millionen aus Nigeria, Tschad, Niger, Mali und Zentralafrika anziehen. Daher muss in solchen Anlaufstellen entweder ein kontinuierlicher Abzug von Menschen durch Asyl und Aufnahme stattfinden, was angesichts der Zahl an Menschen, die objektiv ein Recht auf Asyl hätten, sehr unwahrscheinlich ist; oder es wird die exakt gleiche Dynamik einsetzen wie sie derzeit offene Politik der CDU/CSU für Lager auf EU-Boden ist: Abschreckung durch menschenunwürdige Bedingungen. Begleitet vom Druck zur Kostenersparnis, die aus den Lagern Billiglohnzentren, Organspendebanken und nicht zuletzt von islamistischen Organisationen, Milizen oder Privatfirmen autoritär verwaltete Elendsquartiere jenseits der journalistischen Zugänglichkeit machen wird, aus denen ein kontinuierlicher Brain-drain die wenigen verbleibenden Fachkräfte nach Europa rekrutiert. Menschenwürdige Flüchtlingslager außerhalb der EU-Grenzen sind ein Paradox.
Die arabischen Staaten wissen um die unerfüllbaren Anforderungen solcher Lager und lehnen sie daher vorerst ab. Sie müssen ohnehin auf Dezimillionen Umweltflüchtlinge aus Iran und afrikanischen Staaten vorbereitet sein, weil Europa sich demonstrativ in seiner infantilen Weltabgewandtheit einrichtet. Man hat sich unter dem Druck der CSU entschieden, nicht einmal ein paar lächerliche hunderttausend zu akzeptieren – ein Realitätsbruch mit dem Rest der Welt. Das Resultat kann nur deligierte Gewaltherrschaft über jene sein, die daran erinnern und die EU wird schrittweise den Weg dahin vorbereiten.

Tafelneid

Claus Strunz bringt bei SAT.1 etwas tiefenpsychologische Ehrlichkeit in die Diskussion: Die Mutter, er nennt sie wirklich so, kümmere sich immer nur um die Flüchtlinge. Merkel sei zur „doppelten Mutti“ geworden, zur „Stiefmutter der Deutschen“ und zur „fürsorglichen Mama der Flüchtlinge“. (Strunz)

Die Zwangshandlung, die Kanzlerin Merkel auf die traditionelle Frauenrolle „Mutter“ zurückzuzwingen, ist misogyner Wunsch nach einer mafiösen Vaterfigur, der einer ambivalenten Mutter ein unambivalent drakonisches Gesetz entgegenstellt, das nur die Anderen bestraft und das Selbst belohnt. So ist es auch kein Zufall, dass ausgerechnet Konkurrenz um eine sogenannte Tafel diese stereotype regressive Reaktion eines älteren Geschwisters ausgelöst hat, das dem jüngeren die Mutterbrust neidet. Gemeinsames Essen dient dem Aggressionsabbau, wie Freud am Totemsmahl in „Totem und Tabu“ zeigt. Der getötete Vater wird verspeist, dadurch internalisiert und sein Gesetz wieder aufgerichtet. Aggression geht in Schuld und dann Anerkennung über. Daher ist auch das gemeinsame Totenmahl eine transkulturelle Institution.

Dass nun mit Geflüchteten zusammen gespeist würde, ist für das eigentliche Projekt des Aggressionsaufbaus, das die Neue Rechte betreibt, mehr als hinderlich. Und daher stürzen sich nationalkonservative Akteure in Sat.1, FAZ, Cicero und anderen Medien auf den „Tafelskandal“. Der Klickköder lautet, man müsse „genauer hinschauen“. Suggeriert wird, es gebe eine verschleierte Wahrheit, einen wirklichen rationalen Grund für die Ausgrenzung von Menschen ohne deutschen Pass von einer Armenspeisung. Dieses Geheimwissen bleiben die entsprechenden Medien schuldig, aber die rechten Massen brauchten auch nur das Gefühl, es besser zu wissen, sie hungern nach Simulationen von Erkenntis ohne Anstrengung. Dahingehend ist Strunz zu danken, dass er seinen Mutterneid wenigstens ehrlich und öffentlich preisgibt. Was er damit belegt: es gibt keinen rationalen Grund für die Schließung der Essener Tafel für Menschen ohne deutschen Pass. Es ist blanker Futterneid der ohnehin Gesättigten in vorgetäuschter Fürsorge für Menschen, für die die gleichen Medien sonst auch nichts übrig haben als Verachtung. Es ist Rassismus.

70% der Besucher einer Essener Tafel waren Menschen ohne deutschen Pass –  für den Leiter war das ein Grund, die Schuldfrage zu stellen: „Ist der Vorstand schuld? Sind die Mitarbeiter schuld? Und letztlich haben wir festgestellt, dass die einzige Veränderung der Ausländeranteil ist. Wir grenzen auch keine Ausländer aus – wir geben den Deutschen die Möglichkeit, wieder zur Tafel zu kommen.“ (Jörg Sartor)

Nur der Ausländeranteil könne demnach der Grund sein „weshalb sich etwa viele Ältere nicht mehr wohlfühlten und das Hilfsangebot nicht mehr wahrnähmen.“ (Welt) Die an linksidentitären Institutionen verbreitete Maxime des kollektiven „Wohlfühlens“ hat zurückgefunden in die idiosynkratische Gemeinschaft der Rechten. Unspezifisch raunt Sartor etwas von „Belästigung“ oder „mangelndem Respekt“ – die Vorwürfe bleiben unkonkret, weil im Publikum schon als genehmigt gilt, dass „die alle so sind“ und man es ja schon wisse, worum es gehe.
Der Rückzug des Staates, dessen Symptom die Tafeln sind, macht sich mit dem autoritären Ruf nach ihm gemein. Wo man offenbar nicht in der Lage ist, bei konkreten Vorfällen die Polizei zu rufen oder auch dauerhaft zur Sicherung einer gereizten Lage bei der Verteilung von humanitären Hilfsgütern in den Krisengebieten am Rande eines der weltweit reichsten Länder abzustellen, wird nach ebenjener Polizei, letztlich nach der kastrierenden Mutter gerufen, die Geflüchtete abschieben, ausweisen, in jedem Fall unsichtbar machen solle.

70% der Besuchenden sollen ausgegrenzt werden, damit 30% sich wohler fühlen, wenn sie Reste von Lebensmitteln erhalten, ohne die sie Hunger leiden müssten. Selbst wenn eine spezifische Gruppe unter den Geflüchteten aufgefallen wäre, so ist es immer noch rassistisch, sämtliche Geflüchteten zu kollektivieren, sie dann als „Unkultivierte“ zu polarisieren und in der Hierarchie noch unter den untersten Rand der Gesellschaft zu stoßen. Man braucht gar keinen Notstand wie in der Kölner Silvesternacht mehr, um solche Kollektivstrafen zu legitimieren, es reicht, wenn jemand in der Schlange drängelt – was allemal zur deutschen Kultur des Ellenbogens gehört. Die wird durch folgende Werbung für den Klassenkampf von oben deutlich, welche sich sicher nicht an Rentnerinnen richtet, die als prekäre Arbeiterinnen einen Witz von Rente erhalten und bis zum Ende ihres Lebens an einer Armenspeisung anstehen müssen, die man „Tafel“ nennt, weil das feiner und nicht so sehr nach Armut klingt.

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Fußnote zur Praxis:
Sollte es zu einem seriellen Problem gekommen sein, wäre die adäquate Praxis wie folgt:

1. eine mit kräftiger Stimme vorgetragene Standpauke hilft in einer sozialen Einrichtung wie der Tafel sicher ebensoviel wie im Bus, wenn Spätadoleszente nicht durchgehen oder die Lichtschranke der Tür stören.

2. Gerade unter jungen Geflüchteten findet sich eine hohe Bereitschaft zum Mitmachen bei sozial nützlichen Projekten. Ebenfalls findet sich die Bereitschaft innerhalb einer diskriminierten Gruppe, negatives Verhalten anderer Angehöriger der diskriminierten Gruppe harscher zu verdammen als die Mehrheitsgesellschaft. Ein ehrenamtlicher Ordnungsdienst für die Tafel ließe sich unter Geflüchteten sicher leicht und bei Bedarf spontan auf Ansprache rekrutieren, wenn man nicht davon ausgeht, dass sich die deutsche Oma durch den bloßen Anblick von Ausländern beleidigt fühlt.


Rechtsantideutsch – Zur Genese eines Phänomens

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Die „antideutsche“ Haltung war zunächst eine recht diffuse Gegnerschaft zum wiedervereinigten Deutschland. Bis heute finden sich im individuellen Sediment Fossilien dieser Zeit:
Der Hass auf die Revolution gegen das totalitäre DDR-Regime, die in einer Fehllektüre der bürgerlichen Parole „Wir sind das Volk“ als „völkische“ identifiziert wird; die Glorifizierung der roten Armee als antifaschistische Institution, deren nicht erst unter Stalin erzwungene faschistische Prägung zugunsten des Rauschs der Fahne ausgeblendet wurde; eine generalisierende Fehlinterpretation von postkommunistischer Weltpolitik als Ausgreifen eines wiedererwachten deutschen Nationalsozialismus, darunter zuvörderst die Theorie, die den Jugoslawienkrieg ausschließlich als deutsche Verschwörung gegen die letzte sozialistische Macht in Europa deutete. Das sind jeweils Erbschaften antiimperialistischer Welterklärung durch Reduktionismus und Identitätspolitik, gegen die kritische Theorie sich schon in den 1930ern imprägnierte.

Diese Ursprünge führten dazu, dass unter anderem Jürgen Elsässer Mitherausgeber der Zeitschrift „Bahamas“ wurde, dem Organ jener Minderheitsfraktion der Gruppe K, die nicht mit der PDS zusammengehen wollte. Unter dem Einfluß der „Initiative sozialistisches Forum“ in Freiburg schärfte die Zeitschrift ihr Profil und rückte den israelbezogenen Antisemitismus ins Zentrum. Das provozierte polemische, hasserfüllte Reaktionen aus der traditionellen Linken, für die „antideutsch“ zunächst zum Synonym von Verrätertum wurde, bei nicht wenigen aber seriell zu Reaktionsbildungen und euphorischer Identifikation mit dem Label führte. Die Zeitschrift Bahamas warb noch in dem Maße um die Linke, wie sie diese kritisierte, die „Antideutschen“ waren in aller Regel ehemalige Linke und Marxisten.

Inhaltlich häufig von präziser Korrektheit, war die Polemik vieler Bahamas-Texte früh von jenem enttäuschten, abgewehrten Begehren geprägt, in dem Psychoanalyse die Intensität des Ekels begründet sieht. Es ist ein Begehren, das sich nur in der Verachtung artikulieren kann und letztlich sein Objekt zerstören muss, wo es sich der durch Schmähungen vorgetragenen „Werbung“ verweigert.

„Fangen wir doch einfach mal mit den Äußerlichkeiten an“ war die Parole von Justus Wertmüller nach den Demonstrationen von Heiligendamm 2007. Der Kommentar des Blogs „Psychosputnik“ greift diese „Äußerlichkeiten“ in einer Fußnote begeistert auf: „Mit diesem einfachen Wort rekurriert Wertmüller auf Adornos geniale Entdeckung, daß ohne Berücksichtigung der ästhetischen Empfindung das ganze Denken des Mensch blind wie frischgeborene Kätzchen ist.“

Einem geschichtsphilosophisch geschulten Herangehen hätte der Rekurs auf die frühneuzeitliche Ästhetik, in der die Konkurrenten Pietismus und Aufklärung zunächst von Form auf Inhalt, vom schönen Äußeren auf den schönen Geist und letztlich von der schwarzen Hautfarbe auf den fehlenden Intellekt schließen wollten, (wie George L. Mosse in seinem Standardwerk zur Geschichte des Rassismus nachweist) bekannt sein müssen. In der Szene wurde solche Skepsis von einer populären Faszination mit der angeblichen Rückbezüglichkeit von „Form und Inhalt“ überlagert. Daran schließt Wertmüller mit seinem „rant“ an:

„Immer noch trägt man diese schrecklichen Dreadlock-Wursthaare, immer noch ist man auf dem veganen Trip, immer noch ist man auf dem Kreativtrip, obwohl man zu nichts in der Lage ist, weder in der Kunst noch im Schreiben noch im Reden noch in der Beziehung. Immer noch hält man sich für etwas Besseres, obwohl aus einem das psychische und physische Elend grinst. So gesehen ist natürlich die radikale Linke, also alles jenes, was sich autonom, antifa, nehmen wir mal diese beiden Dinge oder ExK-Grüppler oder was es da noch so gibt, die Antirassisten und Antisexisten, natürlich nicht zu vergessen, die von ganz besonderer Hässlichkeit sind, etwas Abstoßendes und schon deswegen eigentlich ein Personenkreis, zu dem man auf Abstand gehen sollte.“

Das „physische Elend“ Anderer zu verurteilen war Wertmüller und nicht wenigen seiner Anhänger vor fast zehn Jahren probates Mittel, das sich nicht selbst der Identitätspolitik („ich sehe gut aus, also bin ich gut“) verdächtig wurde. Auf dem Titelbild der Ausgabe 55 (2008) fanden sich dann die „hässlichen Elendsgestalten“ mit Überbiss karikiert. Solche Ästhetik bildete einen Meilenstein auf dem Weg dahin, das bisherige Rekrutierungsfeld nicht mehr zu kritisieren, sondern von sich zu werfen.

An die Stelle dessen, was Psychoanalyse als reife Reaktion auf Verlust und Impotenz vorschlägt – Trauer – traten Wut, Hohn und Spott. Im Gegensatz zur feministischen Sache, die trotz der Gegnerschaft zum „Antisexismus“ noch lange von Autoren der Bahamas vertreten wurde, haben vor allem Clemens Nachtmann und Sören Pünjer den Antirassismus nicht nur als Bewegung sondern auch als Gegenstand gründlich entsorgt und damit den weiteren Wegverlauf vorbereitet.

„Seien wir doch ehrlich, Rassismus, der wirklich noch Rassismus genannt werden kann, also nicht die Verrücktheiten der Antira-Szene, die jede staatliche Regulierung von Zuwanderung als Rassismus geißelt, oder jeden, der das Wort Neger in den Mund nimmt, standrechtlich zusammenschlagen will, hat doch nicht wirklich eine Zukunft. Die Zukunft gehört der Ideologie des Antirassismus als menschenverachtendem globalem Massenbewußtsein, also als Fusion aus Multikulturalismus und Ethnopluralismus, zusammengehalten von einem politisch korrekten Antisemitismus.“ (Sören Pünjer)

Das knüpfte an eine ältere Tradition an. Bereits 1994 hielt Manfred Dahlmann einem durch und durch grotesken und in der „konkret“ sowohl abgedruckten als auch gründlichst kritisierten Referat von Christoph Türcke zugute, er habe der zu Unrecht empörten Linken lediglich „die Botschaft überbracht“,  dass wenn „der deutsche Staat sie mal vor die Alternative stellen sollte, entweder die ‚Flüchtlingsfrage‘ mit ihm gemeinsam zu ‚lösen‘ oder die soziale Sicherung entzogen zu bekommen, ihre Entscheidung eindeutig sein wird.“ Gemeint ist, dass die Linke sich wie der vernünftige Staat, den Türcke unterstellte, für die „soziale Sicherung“ und entscheiden würde, die durch die Jugoslawienflüchtlinge damals bedroht schien. Bei Pünjer wird im gleichen Duktus aus der humanistischen Kritik der immer weiter eskalierenden Dezimierung von Flüchtlingen durch Hürden, die sie in den Kriegsgebieten halten sollen, schon ein „Geißeln“ „jeder staatlicher Regulierung von Zuwanderung“.

Das ist der Jargon der Rechten, die aus der verzweifelten Flucht von etwa 50 Millionen Menschen weltweit eine gemütliche „Zuwanderung“ zu machen sucht, die dann nur „reguliert“ würde. Dass dieser „Regulierung“ zehntausende von Menschen zum Opfer fallen, die verdursten oder ertrinken, weitere Millionen zwangsweise in elenden Lagern gehaltene Flüchtlinge systematisch der Ausbeutung durch Organhandel, Zwangsehen, Zwangsprostitution und Sklaverei zugeführt werden, kann stets mit der bürgerlich-egoistischen Rationalität des Notstandes legitimiert werden: alles Andere seien Hirngespinste, Träumereien, Selbstschädigung und mancher auf der antideutschen Straße wusste bereits, dass „no border“ eigentlich nichts anderes sei als der „Antinationalismus“ des Islamischen Staates.

Wie gründlich die Redaktion Bahamas mit dem Humanismus abgeschlossen hat, und wie tief der Reflexionsausfall reichte, zeigte das Editorial der Ausgabe 73.

„Deutschland ist das Land der Durchhalter. Es brach 1914 einen fürchterlichen Krieg vom Zaun, den es, obwohl er schon nach drei Monaten verloren war, weitere vier Jahre fortsetzte, nur um sich nach der Niederlage als moralischer Sieger zu präsentieren und gegenüber dem Rest der Welt durchaus aggressiv den Beleidigten zu geben. Eine verwandte Aggressivität spricht seit dem Frühjahr 2016, als nicht mehr zu bestreiten war, dass sie ihren Kampf um die Hegemonie in Europa verloren hatten, aus den Deutschen. Aus Geiz und Gier, die exemplarisch in der Griechenland-Politik zum Ausdruck kommen, genauso wie aus dem narzisstischen Bedürfnis heraus, die anderen auch in moralischer Hinsicht ins Hintertreffen zu bringen, wofür die vollends wahnsinnige Flüchtlingspolitik seit dem Frühjahr 2015 steht, ist das Projekt Europäische Union maßgeblich von Deutschland zum Scheitern gebracht worden. Seither wird wieder durchgehalten.“

Die Aufnahme von einer Million Flüchtlinge wird hier mit dem ersten Weltkrieg gleichgesetzt (vor dem zweiten als Parallele schreckte man vorerst noch zurück).

„Wie vor hundert Jahren ist es die Intelligenz, die die so dringend gebotene Selbstkritik empört zurückweist und stattdessen zum Entlastungsangriff auf inzwischen alle europäischen Nationen bläst. Man sieht sich einer bösen Welt ausgesetzt, die von nationalistischen Kleingeistern, rechtspopulistischen, gar faschistischen Unmenschen, feigen und ehrlosen Umfallern und interventionistischen Bellizisten bevölkert zu sein scheint.“

Gegen diesen „Schein“ sollte man sich die Realität vergegenwärtigen: In Ungarn ist die antisemitische Nazipartei „Jobbik“ seit 2010 drittstärkste und seit 2014 zweitstärkste Kraft. In Österreich ist die FPÖ wieder Regierungspartei. In Deutschland hat die AFD alles zwischen rechtem Flügel der CDU/CSU und linkem Flügel der NPD abgeräumt. In Frankreich agitiert der Front National gegen Europa und Flüchtlinge und zwischen Polen und Großbritannien will man die „Islamisierung Europas“ stoppen, während die reale Islamisierung der Türkei, Indonesiens, Bangladeschs, Malaysias und des subsaharischen Afrikas von den jeweiligen Rechten als ethnopluralistische Kuriosität ignoriert wird, wo die Parteien nicht gleich mit islamistischen Regimes kollaborieren.

Den Gegner sieht die Redaktion Bahamas aber in den „guten Deutschen“, deren „kollekive Wiederholungstat“ darin besteht, Flüchtlinge aufzunehmen.

„Den brutalen Überlegenheitsdünkel und die unerträgliche Selbstgerechtigkeit der deutschen Intelligenz hat kürzlich der Schriftsteller Pascal Bruckner in Gestalt des ihn interviewenden Journalisten Georg Blume zu spüren bekommen. In einem Interview das am 14.4.2016 in der Zeit erschienen ist. Im Ergebnis geriet die intendierte Entlarvung des prinzipienlosen französischen „Parade-Intellektuellen“ durch einen Vertreter der „guten Deutschen“ zum Protokoll über einen kollektiven Wiederholungstäter, dessen Hang zu Sonderwegen Europa einmal mehr ängstigt.“

Dieses Interview wird im Editorial 73 der „Bahamas“ in langen Auszügen abgedruckt. Bruckners Argumentation ist im Wesentlichen die der neuen Rechten: Aus Vernunft hätte man den Millionen Flüchtlingen aus Syrien den Weg nach Saudi-Arabien zeigen sollen, den nach Europa aber versperren, weil Europa keine Schuld am Syrienkrieg trage. Bruckner beklagt:

„Man kann doch nicht von einem Tag auf den anderen, im Hauruckverfahren, eine Million Leute, die nur Diktatur, Krieg, Folter und Bomben kennen und aus einer Kultur kommen, in der die Frau ein zweitrangiges Wesen ist, in eine freie Gesellschaft verpflanzen.“

Auch hier wird wieder aus der Flucht eine Aktivität der Europäer, ein „Verpflanzen“. Die verräterische   Floskel verniedlicht die mörderische Flucht zu einem gärtnerisch-fürsorglichen Akt. Kritisiert wird nicht, dass CDU und SPD zu wenige, sondern dass sie zu viele Flüchtlinge aufgenommen hätten. Das wird von Bruckner psychologisiert:

„Ebenso uneingeschränkt und impulsiv war die Reaktion der Kanzlerin auf die Flüchtlinge: eine Million willkommen heißen, jetzt, sofort! Ohne Absprache mit uns anderen Europäern. Man begegnete in Merkel einem Narzissmus des Mitgefühls. Wie jeder Narzissmus war auch dieser grenzenlos und ein Alleingang.“

Hier steht alles schief. Merkels Weigerung, auf die Flüchtlinge schießen zu lassen, wird als Mitgefühl fehlverstanden, dieses dann pathologisiert[1] und nicht als zivilisatorischer Mindeststandard gewürdigt, der freilich wenige Wochen später mit Stacheldraht in Ungarn, auf dem Balkan und mit der Mauer in der Türkei unterlaufen wurde. Die nach wenigen Wochen beendete Phase entstand aus dem Problem, dass unter anderem Italien sich weigerte, die ökonomisch und humanitär aufwändige Drecksarbeit für Deutschlands repressive Flüchtlingspolitik zu erledigen und Flüchtlinge ohne Registrierung nach Deutschland weiterreisen ließ. Schengen stand auf dem Spiel und damit ein Instrument, mit dem vor allem Deutschland eine repressive Flüchtlingspolitik auf Kosten der Anrainerstaaten lösen wollte. Es ist schlichtweg eine Verdrehung, aus der Aufnahme von Flüchtlingen ein „deutsches Projekt“ zu machen. Seit den Brandanschlägen und Pogromen der 1990er war die deutsche Maxime, Europa zu nutzen um Flüchtlinge aus Deutschland herauszuhalten. Das kurze Intermezzo 2015 war ein komplexes Zusammenspiel von Syrienkrieg, Europapolitik und internationaler Entrüstung über die Behandlung von Flüchtlingen, der sich Deutschland zuletzt nicht mehr entgegenstellen konnte. Auch 70% der polnischen Bevölkerung waren damals für die Aufnahme von mehr Flüchtlingen.

Die Redaktion Bahamas bekundet hingegen:

 

„Die Redaktion Bahamas, die Bruckners Argumente vorbehaltlos teilt, befindet sich in der ungemütlichen Situation, dass Herr und Frau Durchhalter in deutschen Redaktionen, Studentenvertretungen und selbst sich israelsolidarisch nennenden Initiativen auf jeden kritischen Hinweis über deutsche Alleingänge wie die Flüchtlings- und Türkeipolitik der Regierung Merkel nicht nur mit Diffamierungen reagieren, auf die wir schon zu antworten wissen.“

Mit „Durchhalter“ wird explizit wieder die Parallele zwischen 1. und 2. WK und Flüchtlingsaufnahme gezogen und so der Notstand legitimiert, in dem man auf Realitätsprüfungen verzichten kann:

„Merkel-Deutschland, das man sich als ein nicht nur in Leipzig tätiges „Netzwerk gegen Islamophobie und Rassismus“ vorstellen muss, ist, seit es als Durchhalter-Gemeinschaft gegen Europa mit dem Rücken zur Wand steht, im Kampf gegen den inneren Feind noch Manches zuzutrauen.“

Diese Verkehrungen finden sich als Detritus in der Szene wieder, die sich inmitten der bürgerlichen Eiszeit ihrer ideologischen Obdachlosigkeit schämt und Nestwärme bei der gesellschaftlich hegemonialen Vernunft sucht: Flüchtlinge eben draußen zu halten, in Bruckners Jargon zu „filtern“, wegen dem Islamismus und weil man ja nicht alle aufnehmen kann. Die Idee, die europarechtlich verregelte Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen ausgerechnet mit dem Nationalsozialismus zu identifizieren ist offenbar so überzeugend, dass Paulette Gensler sie aufgreift und in einem Kommentar als „Biopolitik“ bezeichnet:

„Eben dieser Bezug auf Polen, wie Martin [Stobbe] ihn hier skizzierte, ist mir nämlich auch aufgestoßen. Denn auch ohne Bahamaslektüre, aber nach einem kurzen Blick in ein durchschnittliches Geschichtsbuch wäre doch zu erkennen, dass es eventuell Gründe gibt, aus denen sowohl die polnische Regierung als auch Bevölkerung etwas sensibel auf deutsche Biopolitik auf polnischem Boden reagiert.“

Die europaweit vereinbarte Verteilung von 120,000 Flüchtlingen sollte primär Italien und Griechenland entlasten. Wirtschaftliche Ausgleichsregelungen sind vorgesehen. Daraus ein „deutsches“ Projekt, gar „Biopolitik“ zu machen, zeugt vom Realitätsverlust ebenso wie von der Aufgabe von Aufklärung als Möglichkeit.

 

Der Abschied der Redaktion Bahamas vom Humanismus ebenso wie vom Realitätsprinzip ließe sich an weiteren Texten exemplarisch belegen. Er bleibt vorerst partiell und wird gelegentlich widerrufen in bestem Judith-Butler-Stil: Man habe das nicht so gesagt, was man eben gesagt hat. Und sicher wird man in der Bahamas weiterhin Texte finden, mit der sich andere Texte in der Bahamas kritisieren lassen. Aber die in die Welt gerufenen Ideologeme wie der Identifizierung der Aufnahme von Flüchtlingen mit dem ersten und zweiten Weltkrieg, von Antirassismus und Nationalismuskritik mit dem Islamismus, vom ästhetischen Elend der „Linken“, vom Untergang des Rassismus, diese Ideologeme werden weiter gedeihen, weil sie sehr einfache, identitätspolitische Lösungen für komplexe Probleme anbieten.

 

[1] Der Zusammenhang von inszeniertem Mitleid und Narzissmus wurde von Nietzsche durchaus richtig erkannt. Tatsächlich ist der pathologische Narzissmus aber zum echten Mitgefühl geradewegs unfähig und muss es an Anderen als Schwäche oder Perversion abwerten.

Alles bleibt

Die fortschrittlichste Forderung im Wahlkampf äußerte ausgerechnet eine Partei, die noch nie in ihrere Geschichte einen nennenswerten Fortschritt für die Freiheit erstritten hat: Die FDP.
In ihrem Parteiprogramm heißt es:

„Wir Freie Demokraten halten das Menschenrecht auf Asyl für nicht verhandelbar. Wir lehnen deshalb auch jede Form von festgelegten Obergrenzen bei der Gewährung von Asyl klar ab. […] Um Menschen die lebensgefährliche Flucht zu ersparen, möchten wir es ermöglichen, Asylanträge auch bereits im Ausland zu stellen. Ein Visum aus humanitären Gründen sollte nach Schweizer Vorbild ebenfalls erteilt werden, wenn im Einzelfall offensichtlich ist, dass Leib und Leben des Antragstellers oder der Antragstellerin unmittelbar, ernsthaft und konkret gefährdet sind.“

Das wäre eine erfreuliche Wendung, wenn sie glaubhaft wäre. Schließlich war es die FDP, die einst das Grundrecht auf Asyl zu stürzen half. Und in Koalitionsverhandlungen mit der CSU wird deren rechtlich ohnehin unhaltbare Forderung nach einer Obergrenze rasch gegen die FDP-Forderung nach einem „Botschaftsasyl“ eingetauscht werden, so dass beide als Sieger auftreten können ohne etwas zu verändern. Alles bleibt. Ob nun mit gelbgrün oder nach Neuwahlen doch mit der SPD: Die CDU/CSU ist von den Wählern nicht für ihre Verbrechen gegen das Menschenrecht abgestraft worden, sondern weil sie zu wenige davon begangen hat. Das weiß die CSU und sie wird mit der AFD im Bunde die CDU genüßlich vor sich hertreiben, routiniert mit Koalitionsbruch drohen, und am Ende doch den mörderischen status quo erhalten und das Ganze – aus ihrer Perspektive völlig zu Recht – als Sieg verkaufen.

Die Aufregung über die AFD ist Spektakel. So war es bei den Erfolgen der NPD in den 1960-ern, mit der DVU und Republikanern in den 1990-ern. Die rechtsextremen Parteien entstehen gerade weil sie wissen, dass die CDU/CSU ihre Forderungen umsetzen wird. So konnte CDU/CSU im Bündnis mit der FDP die Massaker an Flüchtlingen durch Abschneiden von Fluchtmöglichkeiten und Treiben in lebensgefährliche Situationen (Wüsten, Meere, Flüsse), die Privatisierung von Post und Krankenhäusern, die Zerschlagung eines halbwegs funktionierenden Universitätswesens und die weitere Verschärfung der den Grünen von der SPD aberpressten HartzIV-Reformen organisieren, bevor man von der AFD je hörte. Die Furcht, dass die AFD nun mit ihren 94 Abgeordneten und dem dazugehörigen Mitarbeiterstab marodieren kann ist so begründet, wie sie verhamlosend ist. Ohne die von der CDU/CSU und der SPD vorbereitete Verdummung von Schülern und Studierenden, ohne die generelle ideologische Obdachlosigkeit, die der intellektuelle Infarkt der Linken hinterlässt, gäbe es nichts zu befürchten. Der Schaden ist schon längst angerichtet. Die AFD ist das Ergebnis dessen, was die CDU/CSU den Wählern jahrzehntelang vor Augen führte: Dass man ohne Strafangst sadistische, aggressive Gelüste gegen Schwächere in Politik umsetzen, in ein paar rationalistische Floskeln verkleiden und damit langfristige Erfolge feiern kann.

 

https://nichtidentisches.de/2016/12/die-besondere-widerwaertigkeit/

Spielraum Anticapitalismus

Das Problem mit dem Widerstand im Kapitalismus ist, dass er sich nicht als Ganzer bekämpfen lässt, solange man auch kein Ganzes als Gegenmodell aufbauen kann. Beschränkt man sich nämlich auf die Teile, so gerät man in die Mühle der allseitigen Konkurrenz: die deutschen Gewerkschaften verteidigen deutsche Jobs, wodurch sie den rumänischen oder moldawischen schaden, die auf ebenjene Jobs hoffen. So sinnvoll der Streik im einen Betrieb ist, so wenig kann er gegen die globale Konkurrenz ausrichten. Widerstand bleibt pragmatische Spielraumbestimmung: Was ist objektiver Zwang, wie kann das eigene Interesse verteidigt werden, welche anderen Interessen werden dadurch gefährdet. In jedem Tauschakt steckt ein solcher Spielraum.

Spielräume

Das Problem ist, dass selbst die bestmöglichste Nutzung des Spielraums (etwa als „fair trade“ oder Soli-Euro) den Kapitalismus nicht abschafft, aber jede Nutzung die Konkurrenz verschärft und anheizt. Es gibt kein Draußen und auch die Aussteiger vertrauen auf das Gewaltmonopol, das ihr Eigentum schützt.
Die Bühne für diese meist stinklangweilige Arbeit heißt Sozialdemokratie, ihre Pole sind der Konservativismus und der Sozialismus. Eine verzweifelte Veranstaltung, die Opfer produziert und verlagert, manches verzögert, im Prinzip stets „ideeller Gesamtkapitalist“ bleibt, der die Kooperation der konkurrierenden Akteure in deren eigenem Interesse erzwingt.

Das wirklich verwirrende am Kapitalismus ist die abstrakte, vermittelte Herrschaft. Wer dagegen ist, hat keinen anderen Gegner als sich selbst und Milliarden anderer Menschen, mit denen man sich konsensuell und friedlich auf rationale Anwendung der Produktionsmittel einigen müsste. Die sehen das System aber aus ihrer individuellen Perspektive als etwas außer ihrer Gewalt stehendes, obwohl sie es zu einem winzigen individuellen Anteil aus insgesamt hunderten Milliarden von Tauschakten hervorbringen. Diese abstrakte, vermittelte Herrschaft bietet jedweder bewussten Aneignung Raum, also auch konkreten Kleptokraten und Faschisten, zynischen Ausbeutern ebenso wie farblosen Charaktermasken, Verwaltern und Räten. Das System bringt sie nicht als Einzelne hervor, es hängt nicht von ihnen als Einzelne ab. Es ist bewusstloser Prozess aus verketteten Einzelprozessen, der ebenso ziellose Zerstörungswut und schlimmstenfalls auf Schwächere kanalisierte Aggressionen, Pogrome, völlig absurde Konkretisierungen des Abstrakten in Minderheiten strukturell, aber eben nicht zwangsläufig hervorbringt.

Zielloses System, ziellose Gegnerschaft

Der Verlust von Gegenständen, um die sich zu kämpfen lohnte – Freiheit von bestimmten Regimes, Solidarität, Pressefreiheit, Arbeiterrechte, Emanzipation – lässt sich in der Linken schon länger beobachten. Ebenso wie das global wirkmächtige System, seines stalinistischen Gegners beraubt, ziellos die ökologische Krise auf Andere abzuwälzen versucht und kein ideologisches Obdach mehr bietet, treibt die Gegnerschaft zum System frei von konkreten Vorstellungen einer rationalen Gesellschaft. Man ist abstrakt gegen Krieg oder Kapital oder Waffenhandel oder Ausbeutung, aber nicht konkret für etwas. Man ist gegen die objektiv zynische Macht der Reichen, aber zu Enteignungen und Umverteilungen kommt es nicht, weil das Gewaltmonopol vorerst stärker ist und darauf achtet, dass einmal etablierte Eigentumsverhältnisse weiter bestehen. Diese erlauben die fortschreitende Bereicherung der Reichen auf Grundlage des Rechtes, des freien Vertrages zwischen doppelt freien Lohnarbeitern, die kaum noch jemand braucht, und einer Elite, die mit ihrem Reichtum gar nichts mehr anzufangen weiß, als ebenso ziellos privaten Luxus zu produzieren und Natur in Kitsch zu verwandeln.

Es gibt keinen Ausweg und mit ein wenig Bildung lassen sich die bürgerlichen Ideologien vom Konsens der Staaten, vom Umweltschutz auf Grundlage der bürgerlichen Produktionsweise, als Augenwischerei entlarven. Eine logische Folge ist endlose Frustration. Die sorgt auch bei den Abgeklärteren für klammheimliche Schadenfreude im Angesicht der brennenden Barrikaden. Wären nicht die meist doch sehr reaktionären, nicht selten linksantisemitischen Inhalte der angereisten antiimperialistischen Autonomen, enthielte der Rauch das Versprechen, dass im Ernstfall ein wenig Verteidigungswissen da ist. Das Barrikadenfeuer wirkt als symbolische Flaschenpost an künftige Hungerrevolten oder sogar an eine ferne Revolution, und sei es eine partielle, die noch die bürgerliche Gesellschaft gegen den in ihr aufkeimenden Faschismus und Menschen gegen den sich verschärfenden Klassenkampf von oben nach unten verteidigt. Oder, und das ist es eben auch, als Ventil für gestaute Frustration, vielleicht nicht das allerschlechteste wenn man sich die stabilisierende Funktion phallischer Aggression im Gegensatz zur projektionsfördernden Wirkung von verdrängter, zum analen Sadismus neigender Aggression als Selbstbestrafung am anderen Objekt vergegenwärtigt.

Analer Sadismus

Aber was an den optimistischsten Interpretationen auch sei, es schrumpft der Gegner des „antikapitalistischen“ schwarzen Blocks von einem abstrakten Prozess auf dessen sichtbare Manifestation, die Hüter des Gewaltmonopols zusammen, die Polizisten. Sie sind falsch-konkrete Ziele, mitunter überzeugte Mittäter des mörderischen Abschieberegimes, oft selbst ausgebeutete Söldnerinnen und Söldner. Werden sie nicht als Hindernis zu konkreten Zielen, sondern als konkretisiertes Ziel gewählt, wird die Projektion pathisch, der „Bulle“ zum Weltfeind, zum „Schwein“ an sich, den man mit Steinen nach Belieben traktieren und verkrüppeln dürfe. Offene Knochenbrüche und Todesfolgen werden in Kauf genommen für den Adrenalinkitzel. Der eigene Empathieverlust wird konsequent der dämonisierten Gegenseite angelastet.

Simulationen von Revolten

Das naturgemäße Produkt einer um Arbeiterorganisation und echter, als Differenzierungsvermögen erwiesene Bildung gleichermaßen beraubten Linken ist die Simulation einer Revolution, die man bestenfalls als Manöverspiel verstehen kann. Wo südamerikanische Guerillas teils aus Selbstverteidigung gegen Faschisten, teils aus totalitärem Castrismus heraus Polizisten Waffen entwendeten und gezielt kleine Areale (Foci) unregierbar machten, in der meist größenwahnsinnigen Hoffnung, von hier aus größere Areale zu besetzen, bleibt die Konfrontation des Black Block am brutalen Spiel des Hooliganismus orientiert: Man will gar nichts aneignen, nichts verteidigen, nichts erobern, man will Sport und ein wenig Freibier aus dem geplünderten Supermarkt als Trophäe. Wie auf Seiten der Staatsführungen ersetzen beim Black Block Symbole die eigentlich notwendige Realpolitik. Aus der Propaganda der Tat wird Propaganda der inszenierten Tat, aus Barrikaden werden Kulissen.

Das ist kritikabel. Aber es ist auch evident, dass dieser brutale Sport alt ist und gewissen Spielregeln gehorcht, die sich dynamisch und dialektisch tradieren und entwickeln. Deeskalation und Nulltoleranz bewegen sich dabei entlang relativ unberechenbarer Koordinaten, beide können scheitern oder erfolgreich sein. Es gab bei den Punkertreffen des letzten Jahrhunderts sowohl friedliche „Bierbrunnenfeste“ als auch Chaostage. Es gab mit dem Schwarzen Block weitgehend friedliche Großdemonstrationen, als auch rituelle Ausschreitungen. In Genua war eine faschisierte Polizei das Hauptproblem, in Rostock wollten Autonome die Eskalation um jeden Preis, in Hamburg war die „Hölle“ ein von den Autonomen offenherzig angekündigtes, aber von beiden Seiten begonnenes Kräftemessen mit relativ glimpflichem Ausgang ohne Tote. Nichts ist neu an den einzelnen Bildern, berechenbar ist es deshalb noch lange nicht. Eines aber hätte man wissen können: Terrain und Zahl der Gegner bilden eine kritische Masse, in deren rituellen Gesetzen jede als ungerecht empfundene oder stilisierte Repression nur als sportive Aufforderung zur Konfrontation verstanden werden konnte. Die konnte die Polizei als Institution nur verlieren, die Autonomen nur gewinnen, obwohl sie Zweck, Symbolik und Ziel ihrer Aktionen weniger als je trennen und bestimmen können.

Die wütenden Bürger

Ebenfalls nicht ganz neu ist die abspaltende Projektionsleistung von protofaschistischen Teilen des Bürgertums. Die Lynchstimmung macht aus den Autonomen Monster und Dämonen, ruft nach Schusswaffengebrauch und vorauseilender Abschaffung von Grundrechten. In einer verkitschten Vorstellung von Politik als fortschreitende, friedliche Zivilisation hat man jede Erinnerung an die relative Traditionalität und Universalität von solchen symbolischen Ritualrevolten verloren. Man will in einer der reichsten Städte der Welt generell nicht an Wut, an Unzufriedenheit erinnert werden. Die brennenden Mülltonnen und Autos erscheinen schon als Bürgerkrieg, weil man im arbeiterpazifistischen Deutschland gar keinen Begriff von sozialen Kämpfen, von Klassenkampf mehr hat. Jeder Lokführerstreik sorgt für Irritation und Nichtbegreifenwollen von Dissens und Konflikten. Dieser Harmonismus ist unrealistisch und neigt zur Überreaktion, zum Vernichtungswunsch beim Auftreten geringster Störungen. Wenn nur ein Zug aufgrund von Gewittern ausfällt, schreien Deutsche Bahnpersonal an, zeigen Stinkefinger und verhalten sich recht rasch wie ein schwarzer Block auf Butterfahrt.

Verlagerung der Zerstörung

Was aber andernorts an Störungen angerichtet wird vom eigenen Reichtum, blendet bürgerliche Ideologie als Naturnotwendigkeit aus. Das vermittelte Resultat deutscher politischer Entscheidungen ist die Verwüstung indonesischer Torfwälder und afrikanischer Fischgründe, die Folterung, Vergewaltigung und Dezimierung von Flüchtlingen in Libyen, das Anwachsen saudi-arabischer und iranischer Mittel zur Finanzierung des Djihadismus. Der Zustand der Welt ist letztlich auch das Ergebnis solcher Staatstreffen. Auch innerhalb der Spielräume allseitiger Konkurrenz gedacht ist Deutschland ein extrem mächtiger und dennoch aggressiver Akteur, der Konkurrenz nach Kräften verschärft und im globalen Maßstab Klassenkampf von oben nach unten betreibt,  die rücksichtslose Aneignung von Ressourcen auf Kosten anderer befördert. Sei es Soja, Öl, Kaffee, Bananen oder Holz für den deutschen Markt, der friedliche Wohlstand im hamburgerischen Luxusstädtchen ist wie überall im irrationalen Ganzen an Gewalt und Zerstörung andernorts gekettet. Die angedrehte Wut der rechtsnationalistischen Medien – Mittel für weit Schlimmeres als nur Randale – und die politische Verdummung und Selbstverharmlosung bürgerlicher Ideologen stammen aus dem rudimentären Bewusstsein der eigenen, auf die Autonomen projizierten Gewaltneigung.
Die dringend zu leistende Kritik an Martialismus, Sportivität, Ritualcharakter und Ziellosigkeit der Autonomen ist ohne die Kritik an der Zerstörungslust, Tödlichkeit und Ziellosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft unvollständig.

 

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In einer fernen Vergangenheit, vor 10 Jahren, wollte die Linke auf einmal vom Black Block nichts mehr wissen und fabulierte von agents provocateurs:

http://nichtidentisches.myblog.de/nichtidentisches/art/166440992/-Das-Proletariat-hat-nichts-zu-verlieren-als-seine-Goldkettchen-Die-G8-Proteste-als-Chiliasmus

 

 

Im Niemandsland der Singularität

„Das Gefangenenlager in einer Kleinstadt auf halbem Weg nach Tripolis bietet ein erbärmliches Bild. Bei einer maximalen Aufnahmekapazität für 400 Flüchtlinge sind jetzt nur 43 anwesend, sie kommen aus Ägypten, Guinea, Niger und Nigeria. Als Gruppe waren 39 Nigerianerinnen vor Monaten auf der Suche nach Arbeit aus ihrer Heimat aufgebrochen. An der Mittelmeerküste wurden sie nachts in ein kleines Schlauchboot getrieben, das aber Europa nie erreicht. Die libysche Küstenwache fing es ab und brachte die Frauen in dieses Abschiebelager. Seit einem Monat sind die Frauen hier gefangen, ohne Kontakt zur Außenwelt. Die kleinen Schlafräume sind verschmutzt, die Matratzen verfilzt, der Boden des Waschraums ist knöcheltief mit Kot und Urin bedeckt. Die Wasserhähne funktionieren nicht und Duschen gibt es keine, ihre Notdurft müssen die Frauen in Eimern verrichten, die dann in diese Lache entleert werden. Für die Körperpflege zweigen sie etwas Trinkwasser ab. Mit einem Durchschnittsalter von 22 Jahren sind die Flüchtlinge jung, aber fast alle haben Beschwerden. Die meisten leiden an infektiöser Haut-Krätze.“ (Tankred Stöbe, Ärzte ohne Grenzen. Deutsches Ärzteblatt 1114/15, 14.4.2017)

Die abstumpfende Serialität der Meldungen füttert mit Empirie, was Logik zu leisten imstande ist. In der Türkei wird eine 511 Kilometer lange Mauer entlang der syrischen Grenze fertig gestellt. Das ist Teil des Abkommens mit der EU und insbesondere Angela Merkel. Die Mauer soll Menschen vom Überlebenskampf abhalten. Die EU und insbesondere Angela Merkel fühlen sich unschuldig, es gibt keine Proteste, kein Gerichtsverfahren, alles ist rechtsmäßig. Währenddessen werden jene, die die aufreibende, jahrelange Flucht über den Landweg aus Afghanistan überlebt haben, abgeschoben in ein Land, in dem sie auf offener Straße ermordet werden, wenn sie sich öffentlich gegen den Islam oder die Taliban wenden. Auch dafür wird niemand bestraft, Proteste gab es nicht. Im Niemandsland der Flüchtlinge gibt es keine Täter, alle Gewalt ist vermittelt, scheinbar naturhaftes Resultat eines scheinbar abstrakten Prozesses, an dessen Ende man noch davon redet, dass Flüchtlinge freiwillig sich in solche Lager begäben.

Am 23. März 2016 beendete die Organisation Ärzte ohne Grenzen ihre Zusammenarbeit mit dem EU-Hotspot auf der Insel Lesbos. Die Zustände seine untragbar, auf die humanitären Bedürfnisse der Flüchtlinge werde keine Rücksicht genommen.
Berichte aus Flüchtlingslagern sowohl in Deutschland als auch im Drittstaatengürtel legen die Systematik offen. Natürlich sind die Lager stets zu klein geplant, haben meist kein professionelles Personal, lagern mitunter Wachdienste an Private aus, die billiger, aber dafür mit Neonazis durchsetzt sind, was in Ungarn und Griechenland auch bei der Polizei und den Asylentscheidern wahrscheinlich ist.
Die Berichte und Fotos aus den Lagern sind immer gleich: Restriktionen der Bewegungsfreiheit, die Haft gleichkommen, Überbelegung, Müll, Schmutz und Depression, die sich hohen Suizidalitätsraten umsetzt. Wer in die Lager gelangt wurde schon selektiert. Für die Flucht verkauft mancher seine Niere oder eine Schwester oder eine Tochter in die Ehe. Andere verschulden sich lebenslang, nur um aus ihren Höllen zu entkommen. Fast alle Frauen die durch Libyen fliehen werden vergewaltigt, viele kommen noch in der Wüste um, noch mehr sterben in afrikanischen oder syrischen Lagern oder Kriegen, weil sie gar nicht mehr fliehen können.

Jorge Mario Bergoglio nennt die Lager daher konsequent Konzentrationslager. Der Protest gegen solche angebliche „Gleichsetzung“ mit den Vernichtungslagern der Nazis kam erwartbar und mit den üblichen Verkehrungen: Wegen der Vernichtungslager solle man ihre historische Vorstufe, die Konzentrationslager nicht als solche benennen. Dem wertfreien und konsequenzlosen Formelwesen, auf das der Singularitätsbegriff heute zusammengeschrumpft ist steht das Ausbleiben von jeder Konsequenz von polnischen oder bayrischen Katholiken aus der Rede des katholischen Papstes entgegen. 

Und weil gegen die Dezimierung von Flüchtlingen durch Wüste, Meer, Kälte und Suizid, bislang keine Praxis denkbar ist außer sich als Fluchthelfer strafbar zu machen, wird nicht über das Empörende der Zustände diskutiert, das durch jahrzehntelange Wiederholung längst in stumpfe Akzeptanz überging, sondern im Zuge einer neurotischen Verschiebung darüber, ob der katholische Papst etwas Empörendes gesagt oder getan hat: „»Ich halte das nicht für empörend«, sagte der Exekutiv-Vizepräsident des Zusammenschlusses von Überlebenden des KZ Auschwitz, Christoph Heubner, am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.“

 

„Never again“ – Singularität und andere pathische Ideologeme

Das „Ähnliche“.

Gegen Erinnerungskultur

Gemütlich soll das Gedenken sein: Schülerinnen und Schüler schickt man einmal im Leben in eine Gedenkstätten, damit sie keine Nazis werden. Sie sollen dann in der Woche darauf wieder ihre Tests über die Leiden des jungen Werther und Wahrscheinlichkeitsrechnung absolvieren und nicht etwa traumatisiert, depressiv und überfordert reagieren. Dass sich in solcher Lehrplanmäßigkeit der Aufklärung Abwehr einstellt, ist erwartbar. Das Stelenfeld wird zum Skateboardfahren oder Jonglieren verwendet, manche wagen gar zu lachen, wieder andere tanzten „I will survive“ und auch Pokemons gab es 2016 vor Ort zu fangen. Shahak Shapira nannte das wenig ehrfürchtige Verhalten „Yolocaust“ und hinterlegte Selfies vor den Stelen in Berlin mit Bildern von Leichenbergen und Erschießungsgräben.

Leider fällt er damit nur die Strategie der Abspaltung herein, deren Ausdruck bereits die Schaffung von einigen wenigen Gedenkstätten war, mit denen man sich die Aufklärung in der Fläche ersparen wollte.
Grundsatz jeder Aufklärung ist die Erkenntnis, dass dieses gesamte Land ein Stelenfeld ist. Dazu immerhin haben Stolpersteine beigetragen, die freilich noch nichts über die Dimensionen des Holocaust im Osten verraten. Die offenkundig arisierten Häuser und Wohnungen hinter den Stolpersteinen werden weiter an Studierende vermietet, zu rekordträchtigen Renditen. Am Bahnhof von Marburg liest man die Namen der von Gleis 5 deportierten Juden – ein Anfang, den die glorifizierenden Kriegerdenkmäler im Hinterland konterkarieren. Die Fläche der niedergebrannten Synagoge war lange ein Refugium für Obdachlose und Junkies. Nun hat die Stadt Marburg dort ein schönes Rosenbeet mit Sitzbänken angelegt. Wenn man irgendeinen Jahrmarkt feiert, dann wird die praktischerweise sehr zentral in der Innenstadt gelegene Freifläche auch mal kurz für Schaubuden freigegeben.

Die rituelle Empörung über die angeblich erodierende „Erinnerungskultur“ von Jugendlichen an Gedenkstätten ist nichts als neurotische Verschiebungsleistung. Nie war es besser. Wie viele Familienschnappschüsse wurden vor arisierten Möbeln und Wanduhren gemacht? Detlev Claussen und Henryk M. Broder legten gegen solches ritualisierte und umschlagende Bedenken Protest ein, der mehr denn je gilt. Das falsche Gedenken ist die Grundlage des sekundären Antisemitismus. Typisch dafür ist die kopfschüttelnde Haltung einer jener Deutschen, die von der US-Armee zu den gerade befreiten KZ gezwungen wurden: „Was haben diese Leute wohl verbrochen, dass man ihnen das antun musste.“

Den psychologischen Prozess beschrieben Wolfgang Hegener, Elisabeth Brainin, Vera Ligeti und Samy Teicher als eine Unfähigkeit zu reifer Trauer, als manische Schuldbearbeitung. Es geht eben um Verdrängung, und nicht um „Geschmacklosigkeit“ oder „Takt“. Den Geschmack der Öfen hat Paul Celan als „schwarze Milch der Frühe“ beschrieben. Wie soll man sich dazu angemessen verhalten? Die Fehlleistungen, die fröhlichen Selfies, sind erträglicher als das routinierte, stilbewusste Kopfschütteln und das konsequenzlose Betroffensein. Der Selfie kann „primary naivety“ sein oder auch die durchbrechende Erleichterung, davongekommen zu sein. Sie lachen halt, aber lachen sie wirklich über die Opfer?

Jene, die sich mit gelegentlichen, artigen Schweigeminuten im Bundestag vor dem gesellschaftlichen Bild eines Demozids an massenweise verhungerten, verdursteten, ertrunkenen, verelendeten und vergewaltigten Flüchtenden ablichten lassen, geben vor, was in Deutschland „Umgang mit dem Holocaust“ heißt: harmonistisches Einfügen des angenehm fernen, vergangenen Schreckens in stumpfes Weitermachen. Der Holocaust soll gerade nicht „umgehen“, das Gespenst soll gebannt werden in den Ritualorten. Die Stelen und Schautafeln retten aber keine lebenden Juden vor der Hamas – das erledigen die international verhassten israelischen Checkpoints.

Die Frontlinien des Antisemitismus auf Deutschland und seine Gedenkstätten zu beschränken ist so antiquiert wie verharmlosend. „Antideutsch“ sein, ist nur Flucht vor den wahren Dimensionen. Wenn Aufklärung an Bildern ihren Ausgang nimmt, darf man sie gerade deshalb nicht auf Orte beschränken, sondern sie wäre in Wort und Schrift auch in die arabischen, russischen, südafrikanischen, süd- und nordamerikanischen und britischen Medien zu tragen.

Virtuelle Projekte wie deathcamp.org, das US Holocaust Memorial Museum
und Yad Vashem sind allerdings nicht nur schlecht gestaltet, sie lassen Besuchern alle Wahl, das unangenehme auszusparen, auf Unbekanntes gar nicht erst zu stoßen. So bleiben Filme, darunter Resnais „Nuit et brouillard„, oder Bildbände wie „Der gelbe Stern“ die verlässlichste Quelle des Zorns, der privaten, von sozialer Erwünschtheit oder Lerndruck nicht in Gegenreaktionen gepressten Empathie. Solange die bruchlose Fortführung des genozidalen Projektes der Nazis durch die arabischen Nazis und Islamisten aber ausgespart wird, hilft alle Aufklärung über den Nationalsozialismus erfahrungsgemäß gar nichts. Die Trennung von Geschichte, die man den Jugendlichen vorwirft, hat eine Ursache in der Trennung des Holocausts vom Zeitgeschehen, in der Weigerung, den arabischen Antisemitismus ernst zu nehmen. Die Rede vom Gedenken, von Erinnerungskultur, zielt gleichsam auf diese Trennung ab, man solle Vergangenes nur nicht vergessen. Als wäre man nicht jeden Tag mittendrin.

Deir ez-Zor

 Nach Meldungen, die sich im Moment nur auf Reuters, Stern, Heise und einigen putinistischen Medien finden, hat der IS Deir ez-Zor eingekesselt, die sechstgrößte Stadt Syriens.
Die Meldungen sind vom 17.1.2017.
http://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-syria-deir-alzor-idUSKBN1501CN
https://www.heise.de/tp/features/Deir-ez-Zor-Ueber-100-000-Bewohner-und-syrische-Armee-vom-IS-eingekesselt-3598933.html
http://www.stern.de/politik/ausland/is-droht-stadt-mit-mehr-als-100-000-zivilisten-einzunehmen-7285930.html

Informationen zum Kampfverlauf in Deir ez-Zor finden sich hier. Wie kaum ein anderer Konflikt wird Syrien in Echtzeit beobachtet und dokumentiert:
https://en.wikipedia.org/wiki/Deir_ez-Zor_clashes_(2011%E2%80%9314)

Eine Offensive des IS im Januar 2016 hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag:
https://en.wikipedia.org/wiki/Deir_ez-Zor_offensive_(January_2016)

Im Februar 2016 warfen UN-Truppen Hilfsgüter über Deir ez-Zor ab:
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/syrischer-buergerkrieg-vereinte-nationen-werfen-hilfsgueter-ueber-deir-al-zor-ab-14088984.html

Deir ez-Zor wird vorwiegend von sunnitischen Arabern und einem großen Anteil von Kurden bewohnt. Der IS will in Deir ez-Zor einen sicheren Hafen für Kämpfer aus Irak errichten. Es scheint, als sei die Strategie der Allianz, den Irak zu befreien und Syrien dem „Management“ Assads und Russlands zu überlassen, mit einer vorerst ungeklärten Rolle der kurdischen Gebiete.
Am 22.9.2014 fand der erste Angriff der am 5.9.2014 gegründeten Allianz statt. In der Provinzhauptstadt Rakka wurde ein IS-Hauptquartier zerstört und in der Provinz Deir ez-Zor wurde ein Checkpoint getroffen. Seit zweieinhalb Jahren also führen die mächtigsten Staaten der Welt Krieg gegen eine Guerilla ohne Luftwaffe und mit nicht nennenswertem gepanzerten militärischen Gerät und immer noch droht ein Massaker dort, wo der Angriff begonnen hatte. Nichts an diesen internationalen Institutionen löst noch ein Schutzversprechen (R2P) ein, während die Drohung mit global einsetzbaren Drohnen ein globales sadistisches Über-Ich erschaffen hat. Dass der IS trotz seiner Provokations-Massaker so lange gegen diesen mächtigen, aber für seine Bündnispartner verräterischen Gegner ausgehalten hat, ist bereits sein Sieg.
Deir ez-Zor war übrigens in den Jahren 1915–1916 im Rahmen des Völkermordes an den Armeniern Standort des größten osmanischen Konzentrationslagers für jene, die die Massaker überlebt hatten.

„Hooligans werden doch auch gekesselt“ – Scheinargumente und was sie sagen wollen

Die zirkulären Argumente, die im Moment kursieren, und was sie behaupten:

1. „Woher kamen so viele Nordafrikaner nach Köln?“ – Vermutlich aus Köln und Umland. Auch wenn der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Köln laut BPB von 33% (2005) auf 31% (2011) gesunken ist,  sind das immer noch 317.000 Menschen in Köln. Wenn man das Umland dazu nimmt, das zum special event pilgert, könnte man vielleicht auf einmal nicht mehr ganz so erstaunt tun über ein paar hundert nordafrikanisch aussehende Menschen, die in Zügen ankommen, um Silvester zu feiern. Sicher KÖNNTEN sie zu hunderten von Putin bezahlt und geschickt worden sein, sie KÖNNTEN sich auch zu hunderten in Netzwerken verabredet haben ohne dass die Polizei oder die Öffentlichkeit etwas davon mitbekommt – dann wäre aber doch nach den Kontrollen und der „guten Polizeiarbeit“ mittlerweile auch etwas mehr Licht ans Dunkel gebracht worden, etwa Nachrichten auf beschlagnahmten Handys: „Kommt alle wieder zum TG in Köln, Putin zahlt.“ Nichts dergleichen, erneut kein Hinweis auf eine „Verschwörung“.

Was das Argument eigentlich sagen will: „Es sollte doch nicht so viele nordafrikanisch aussehende Menschen in dieser von Juden, Nordafrikanern und Römern gegründeten Stadt geben. Schon gar nicht „hunderte“.“

2. „Die Polizei kontrolliert auch Hooligans!“ – Hooligans sind meist an ihren selbstgewählten Fußballabzeichen klar erkennbar. Einige wenige, besonders auffällige Unruhestifter sind in Hooligankarteien erfasst und erhalten vorab Platzverweise und Hausbesuche. Die Erstellung dieser Hooligankarteien ist ebenso umstritten wie die Erstellung von Punkerkarteien. Ihr gingen nicht eine Schlägerei oder eine Versammlung mit Übergriffen voraus, sondern Jahrzehnte des organisierten Hooliganismus mit mehreren Toten.
Die Menschen in Köln waren aufgrund ihrer nicht selbstgewählten Haut- und Haarfarbe festgesetzt worden, und das ohne dass eine ähnliche Serialität, Traditionalität oder Gravidität der Gefahrenlage wie beim Hooliganismus bestanden hätte. Hooligans schrecken vor spontanen Verbündungen gegen Polizei nicht zurück. Die Polizei hat aber an Silvester 2015 nicht einmal den Versuch unternommen, mit Gewalt einzuschreiten, kein einziger Polizist wurde verletzt. Die Exekutive hatte eine ganze Anzahl anderer, bewährter Möglichkeiten und andere Voraussetzungen als beim Hooliganismus und sie hatte ein Jahr Zeit für die Planung.

Was das Argument eigentlich sagen will: „Nordafrikaner sind Hooligans.“

3. „Man muss eben Racial Profiling machen, wenn Täter eines bestimmten Phänotyps kollektiv agieren.“
Racial Profiling ist klar definiert. Wenn am Bahnhof Gießen über Jahre hinweg gezielt Menschen mit Migrationshintergrund im Zug und am Bahnhof kontrolliert werden, um jene herauszugreifen, die an der Süd-Nord-Route ohne Ticket oder ohne Papiere unterwegs sind, dann ist das Racial Profiling. Wird hingegen nach einem Banküberfall eine schwarze Person mit Rucksack gesucht, so kann durchaus auch einmal eine völlig unschuldige schwarze Person mit Rucksack kontrolliert werden, das ist kein Racial Profiling.
In Köln gab es den Verdacht von kollektiv agierenden Tätergruppen einer bestimmten ethnischer Zugehörigkeit. Das legitimiert dennoch nicht, vor einer überhaupt begangenen oder als Plan nachgewiesenen Tat sämtliche Personen, die dem Phänotyp entsprechen, kollektiv bei Minusgraden festzusetzen.

Was das Argument eigentlich sagen will: „Racial Profiling ist eine super Sache. Gegen Kriminalität braucht man keinen Rechtsstaat.“

4. „Es wurden Übergriffe verhindert, alles in Butter!“ – Hunderte von Menschen wurden in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt mit körperlichen Folgen wie Erkältungen und materiellen Verlusten.
Was das Argument sagen will: „Wo man hobelt, fallen Späne.“

5. „Aber es wurden dadurch Übergriffe verhindert!“ – Das ist nicht belegt. Womöglich verhindert die Einkesselung eines sächsischen Dorfes Brandanschläge. Wenn keiner stattfindet, belegt das nicht, dass einer geplant war und auch nicht, dass einer verhindert wurde. Dazu gehört die Beweispflicht, ein hinreichender Tatverdacht. Die Polizei hat trotz der Kontrollen bislang keinerlei harte Beweise für die mutmaßliche Verschwörung „hunderter nordafrikanisch aussehender Menschen“ erbracht. Eine solche „Verschwörung“ war auch bei den Übergriffen von 2015 nicht belegt – das Fazit der sozialpsychologischen Analyse war ein „broken window“-Effekt: Das Nichteinschreiten der Polizei bei ersten Übergriffen hatte den Mob geweckt. Das logische Resultat wäre gewesen, wie bei gewaltbereiten Demonstrationen einzelne Trupps auf einem Risikogebiet in der Menge zu verteilen, um etwaige Übergriffe sofort zu stoppen und mit Luftüberwachung und Patrouillen eventuelle Kleingruppen in Seitenstraßen zu erfassen.

Was das Argument sagen will: „Die sahen doch schon so aus, als würde ihnen recht geschehen, was man mit ihnen macht!“

Die Polizei hat ausschließlich auf Racial Profiling gesetzt, obwohl es auch bei hartgesottenen Black-Block-Demonstrationen mehrstufige Deeskalationsprogramme gibt, von denen der präventive Kessel eines der rechtlich fragwürdigsten und extremsten ist. Sie hat als erste Legitimation die „Nichtnormalität“ der Präsenz von hunderten nordafrikanisch aussehenden Menschen in einer Stadt mit einem Migrationsanteil von 31% an einem Großereignis vorgetragen. Und als zweite Legitimation die „Grundaggressivität“. Nehmen wir zum Vergleich eine „grundaggressive“ Black-Block-Demonstration oder Nazis, die eine Stunde im Kessel sitzen. Man hätte sicherlich nicht jene erstaunlich friedlichen Bilder aus dem Kölner Kessel. Beide Legitimationsstrategien sprechen dagegen, dass hier tatsächlich eine Bedrohung vorlag, der diese extreme Maßnahme eines Kessels angemessen gewesen wäre.

Die ideologischen Folgen der Akzeptanz der Legitimationsstrategien sind absehbar: Weitere Verhärtung, Erkaltung und Verrohung, die weitere Erosion von Grundrechten insbesondere ausländischer Mitbürger, zuallererst aber die künftige Angst aller nordafrikanisch aussehenden Menschen, Silvester in Großstädten feiern zu wollen.