Der nette Antisemit von Stoodley Pike

Eine Wanderung vom Pendle Hill durch die Pennines kann trotz lauwarmen Regens und nasser Wanderschuhe eine entrückende Erfahrung sein. Nach zwei wenig mit Schlaf gesegneten Nächten unter einer Brücke und an einem Forsthaus stand mir aber der Sinn nach einer etwas geräumigeren, abgeschlossenen Unterkunft.
Ein Maurer im schönen Kurort Hebdenbridge empfahl mir, mich doch zum Stoodley Pike zu begeben, der Ort sei zwar „very spooky“, aber möglicherweise geeignet für eine gesegnete Nachtruhe. Das selten hässliche Monument erreichte ich nach einem knapp gewonnenen Wettlauf mit einem Wolkenbruch. Trotz der meterdicken Steinen war es allerdings nicht wasserdicht und gar nicht zum Übernachten geeignet. Über die stockdunkle Wendeltreppe lief das Wasser, während ein Mann aus Pakistan sich mit seinen Kindern dazugesellte. Wir kamen ins Gespräch, Belanglosigkeiten zuerst, dann der Terrorismus, Iran, Pakistan. Ich lasse ihn reden. Die Pakistanis würden ja die Terroristen hassen. Die Religion sei doch Privatsache. Ich nicke ermunternd. Ja, sagte der nette Mann, wenn man den Pakistanis Waffen gäbe, dann würden sie die Terroristen schon vertreiben. Sie hätten keine Waffen. Das wäre das Problem. Sehr interessante Theorie, denke ich, aber ein guter Mann. Dann legt er los. Die Amerikaner, die würden ja die Terroristen bezahlen. Ach so? Ja, das sei erwiesen. Aber wieso das? Nun gerät er ins Grübeln: Er habe gehört, dass die Amerikaner die Taliban aus Afghanistan raushaben wollten, daher würden sie ihnen Geld geben, damit die Terroristen in Pakistan bleiben und dort das Land verwüsten. Das kommt ihm aber nun doch selbst etwas ungereimt vor und er wechselt das Thema. Er sei ja in England aufgewachsen. Am Anfang hätte man ihn nicht gegrüßt, misstrauisch beäugt, aber heute seien alle Nachbarn beste Freunde und sie würden sogar zum Zuckerfest gratulieren, das übrigens heute stattfindet. Ach, das Fastenbrechen ist heute? Ja, ein schöner Brauch, die Kinder lieben es. Man darf aber doch abends essen während der Fastenzeit, nicht wahr? Sicher, nur abends. Da ruft er auch seinen Bruder immer an, in Pakistan, jeden Tag telefoniert er mit ihm, das sei ja heute ganz anders, früher habe es nur ein Telefon in der nächsten Ortschaft gegeben, heute könne man in ganz Pakistan sehr gut und billig telefonieren. Schöne Sache, sage ich. Er hat einen kranken Fuß, ist arbeitslos. Kein Spaß in England. Aber er mag alle Leute hier. Alle Menschen seien ihm gleich recht, egal woher. Das sei das schöne an England. Ich nicke zustimmend: in der Tat, so ist es. Sehr nettes Land. Sehr höflich. Außer die Juden, sagt er da. Die Juden, nein, von denen habe er nur schlechtes gehört. Die würden sich nicht integrieren und die würden auch so viel Macht haben und Geld. Nein, die Juden seien nicht seins. Er möge auch die Deutschen. Ich sei als Deutscher ja bestimmt kein Jude. Ich erschrecke ihn ein wenig und sage: Nun, aber es könnte ja doch sein, oder nicht? Man sehe es ja nicht. Zweifelnd wiegt er den Kopf. Nein, sehen könne man es wohl nicht. Aber er habe auch gehört, dass in Iran 2/3 der Bevölkerung aus Juden bestehe und die würden nun Krieg gegen Israel machen oder auch umgekehrt, aber die Juden profitieren in jedem Fall davon. Ich korrigiere ihn höflich: In Iran gebe es sicher nur 25000 Juden, eher weniger. Er ist ehrlich erstaunt. Ach. Da habe ihm wohl sein Bruder aus Pakistan etwas falsches erzählt. Ob ich sicher sei? Ja, ganz sicher, gar kein Zweifel, er könne es im Internet prüfen. Es gehe ihnen da eher schlecht. Ich würde übrigens einen sehr netten Rabbi kennen, kein reicher Mann, auch recht arme russische Juden gäbe es in Deutschland. Ob er denn selbst Juden kenne? Verzagt wirkt er da, nein, sagt er und dann: vielleicht liege es ja daran. Vielleicht müsse er mal einen kennen lernen. Nagt bedenklich an seiner Lippe. Eine prächtige Aussicht sei das hier. Ja, wirklich, eine prächtige Aussicht. Es hat auch aufgehört zu regnen. Fantastisch.

Ruft dann seine Kinder, die nette Tochter hilft ihm den rutschigen Abhang hinunter, ich stapfe ihm nach. Als ich mich umdrehe, sehe ich über dem Eingang des Mahnmals noch ein Hexagramm, ein in England häufiger anzutreffendes Zeichen auf Maurerhandwerk. Das zeige ich dem guten Mann besser nicht, suche stattdessen die hübsche kleine Jugendherberge in Mankinholes auf. Da esse ich dann auch ein sehr kräftiges Lamm in Rotweinsauce, das erste und letzte gute Essen, seit ich hier bin.

6 thoughts on “Der nette Antisemit von Stoodley Pike

  1. Ein wirklich interessanter Text, der eine Begebenheit schildert, die dem einen oder anderen nicht ganz unbekannt vorkommen mag. Wie verhält man sich als gegenüber dem Thema Antisemitismus halbwegs informierter und sensibler Mensch in so einer Situation? Da wäre zunächst einmal die (ich denke bei vielen mehr oder weniger vorhandene) Sprachbarriere. Der gänzlichen Unbegründetheit und fatalen Falschheit des von dem Pakistani vorgebrachten Antisemitismus mit langen Erläuterungen zu entgegnen, und ihn auf seine fragwürdige Einstellung hinzuweisen, ist bei gebrochen Englisch sprechenden Personen (wie mir) nicht immer leicht, und kann zusätzlich zu Missverständnissen führen. Zudem in solch einer besonderen Situation: Eine zufällige, kurze und vorrübergehende Zweckgemeinschaft in einem vor Wind und Wetter schützendem Asyl lädt eher zu unverfänglichen Gesprächen ein als zu tiefschürfenden Diskussionen über den Nahostkonflikt und Antisemitismus. Wie also handeln? Doch das klärende Gespräch suchen? Seine Äußerungen als nichtig abtun, und sich wieder dem small-talk annähern? Der betreffenden Person einen verachtenden Blick zuwerfen, links liegen lassen und das Weite suchen? Ich denke, du hast das Richtige unternommen, zumal du auf keinen hardcore-Antisemiten getroffen bist, sondern auf einen (in dieser Hinsicht) eher halbgebildeten und uninformierten Menschen. Ganz nebenbei hast du sein illusionäres Weltbild entzaubert und ihn vielleicht zum Nachdenken angeregt. Soviel Contenance muss man bei diesem heiklen Thema erstmal aufbringen können.

  2. Danke dir. Es war wirklich ein sensibler, unsicherer, eher schüchterner Mensch und sein Ressentiment war nicht verhärtet oder wahnhaft auch wenn es so klang. Es war schlicht eklektizistische Wahllosigkeit und halb reflektierte Unwissenheit, medial verstärkt. Er hat seinem Ressentiment einen Projektionsraum geschaffen, der war aber gewiss nicht so unzerstörbar wie der linke Antisemitismus. Was wiederum die Frage nach richtiger Praxis und Aufklärungs-„Propaganda“ aufwerfen sollte.

  3. Ja, eine schöne Erzählung, die etwas besonderes erzählt. – „Alle Menschen seien ihm gleich recht, egal woher. Das sei das schöne an England. Ich nicke zustimmend: in der Tat, so ist es. Sehr nettes Land. Sehr höflich. Außer die Juden, sagt er da.“ – Was für ein Bruch; und auch: ähnliches hat wohl jeder schon einmal erlebt.

  4. Ich habe Aktuelles zu berichten, das hierher gehört:

    Bekanntlich schachere ich ja nicht nur mit Wertschriften und Unternehmensbeteiligungen, sondern auch mit Immobilien. Heute rief mich von wegen eines solchen Geschäfts ein südamerikanischer Kollege an, der mir bislang — mindestens in seinem Selbstbild — recht wohlwollend gegenüberstand.

    Er sagte in Hinsicht auf das Gebäude, um das es geht: »Lass‘ die Finger davon, dieses Ding hat noch niemandem Glück gebracht, wahrscheinlich hat da jemand drei Juden darunter vergraben.«

    Ich habe aufgelegt.

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