Die „Unbekannten“

„Liberalität, die unterschiedlos den Menschen ihr Recht wiederfahren läßt, läuft auf Vernichtung hinaus wie der Wille der Majorität, die der Minorität Böses zufügt und so der Demokratie Hohn spricht, nach deren Prinzip sie handelt. Aus der unterschiedslosen Güte gegen alles droht denn auch stets Kält und Fremdheit gegen jedes, die dann widerum dem Ganzen sich mitteilt.“   (TWA, Minima Moralia: 135)

Wenn Deutsche behaupten, sie wüssten von nichts, kann man davon ausgehen, das man es wieder einmal mit Menschen zu tun hat, die keine Lüge aussprechen können, ohne sie zu glauben. Derzeit geistert eine Lüge durch jene Rackets, die man allgemein als „die Medien“ verunglimpft als wären es neutrale technische Instrumente, eine Lüge, die Wahrheit über den Betrieb spricht. Eine Lüge ist es nicht so sehr, als sie die Unwahrheit wider besseres Wissen behauptete, vielmehr, weil sie sich selbst glauben will gegen alles Wissen was da kommen hätte können und könnte. Es geht um Libyen. Die Aufständischen dort, so wiederholt man es, seien Unbekannte, und im Zeitalter der gefühlten totalen Erfassung und Beforschung gibt es kaum ein größeres Vergehen als unbekannt zu sein. Man befürchtet das Schlimmste von ihnen, gerade weil sie das Schlimmste zu befürchten haben, über das die Deutschen recht gut Bescheid wissen.

Gegen die Behauptung des totalen Unbekannten, der aus Bewohnern eines Nachbarstaates Europas Antipoden macht, drängen sich Fragen auf, die die Behauptung selbst fragwürdig machen. Seit mehreren Wochen befinden sich Reporter in einer Region, die ohnehin von Ausländern, Wanderarbeitern, Diplomaten, Ölhändlern, Technikern, Agenten wimmelte, und sie haben nichts besseres zu tun, als das Feuerwerk einer Flak am nächtlichen Himmel zu filmen und die Aufständischen zu sprachlosen wandelnden Victoryzeichen herabzuwürdigen, die ängstlich versichernd der Kamera entgegengebracht werden. In diesen Wochen, so sollte man annehmen, hätte ein Stab von trainierten Journalisten qualitative Interviews mit diesen Rebellen in den sicheren Städten des Ostens gefahrlos führen können. Vielleicht hätte man so erfahren, was der Rat der Aufständischen denkt, welche Legitimität er hat, ob es sich wirklich um einen Bürgerkrieg handelt und wer die schwarzen Wanderarbeiter bedrängt und lynchte. Stattdessen sehen wir immer wiederkehrend Victoryzeichen stummer Menschen und den Eurofighter aus 19 verschiedenen Blickwinkeln, Aktfotos gleich, grazile hingebogenes Metall in dynamischen Posen, der Beweis für alle Zweifler, dass nun Krieg ist und Europa auch mächtig auf den Putz hauen kann.

Triebe man die offenen Fragen weiter, nicht nur in die dringend gebotene skeptische Richtung, sondern in die optimistische, wäre der Vermutung nachzugehen, ob es sich bei den rasch gebildeten Räten, bei den spontan aus dem Boden gestampften Radios und Internetsendern nicht um ein intelligenteres, demokratischeres Modell handeln könnte als es die institutionalisierten, starren Rhytmen zivilgesellschaftlicher Konfliktbearbeitung in Europa ertragen können. Die weitgehende Abwesenheit von Frauen spricht gegen eine solche identifizierende These, ebenso wie die Bilder, die unbeholfene Rekurse auf die letzte Verlässlichkeit zeigen, die halbgeglaubte Religion. Wo man sagt, jetzt könne man „nur“ noch beten, ist kein Glaube mehr wirksam. Dennoch kann man ebensowenig garantieren, dass diese Rebellen nicht einem islamistischeren Staat den Boden bereiten wie man den fortschreitenden Faschismus in Europa als künftig in nicht wenigen Staaten dominierenden Machtfaktor ausschließen kann. Man könnte lediglich wissen, dass es in den von den Rebellen befreiten Städten bislang keine größeren ethnischen Massaker gab, wenngleich es ernstzunehmende Lynchmorde an mutmaßlichen Söldnern gegeben haben soll und Schwarzafrikaner große Angst vor Verfolgungen haben – ihr Schutz wird aber weder organisiert noch gedacht noch mit Vertretern der Rebellen diskutiert.

Die Berufung auf das Unbekannte ist vorerst nur Ausrede, solange man auf der Ebene des Bewusstseins laviert. Gelogen wird sie im Unbewussten, in dem was sie verleugnet: Man weiß nämlich sehr gut und ganz genau, wes Geistes Kind die Gegenseite ist und zu welchen Methoden und Maßnahmen sie in diesem Krieg schreitet und davon hängt die Intervention ab. Die verschütteten Bunker, in die Menschen lebendig vergraben wurden, die erschossenen Deserteuere, die unmißverständlichen Drohungen Gaddafis, das Vorgehen seiner Truppen, die erkauften und erzwungenen Jubelparaden für ihn. Gadaffi hat sicherlich seine Sympathisanten, wie in Tunesien und Ägypten bestimmte Gruppen noch lange nach der Revolution marodierten und marodieren. Das ist keine Ausrede, ihn gewähren zu lassen, es ist ein Grund, ihn schneller zu stürzen, da er nicht alleine in seinem Wahn ist. Ob er überhaupt auf größeren Rückhalt zurückgreifen kann, ist unklar. Insofern ist der Kamikaze-Angriff eines Piloten auf Gaddafis Sohn ein Symbol: Gaddafi kann sich nach diesem Angriff nicht einmal als in dem zynischen, von Adorno inkriminierten Sinne demokratischer Herrscher imaginieren. Er ist am verwundbarsten in seinem engsten Kreise, der allein den Betrieb aufrecht erhält. Der Zukauf von Söldnern beweist, dass er nicht auf eine mehrheitliche Machtbasis bauen könnte, die regelmäßigen Desertationen belegen die Hoffnung, die Armeeteile in den Aufstand noch setzen, den Deutschland noch nie unterstützt hat und den es als ärgerliche Störung des business as usual mit einem alten Freund ignorieren will. Das erklärt noch nicht die Ignoranz der Selbstdenunziation des telemedialen Zirkus, der ganz gewiss eines nicht ist: demokratische Information.

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