Deutscher Beef

Es gibt ein gutes Buch. Edgar Hilsenrath hat es geschrieben und es heißt „Der Nazi und der Friseur„. Max Schulz, ein grenzenloser Opportunist, verrät den jüdischen jugendlichen Freund Itzig Finkelstein und schließt sich den Nazis an. In einem KZ erschießt er tausende von Juden. Nachdem er Partisanen knapp entkommt, erkennt er seine letzte Chance darin, sich als Jude auszugeben, genauer, als Itzig Finkelstein. Er geht nach Israel, wird dort sogar ein Kriegsheld und lebt einen weitgehend gemütlichen Lebensabend.

Es gibt ein Diktum von Adorno: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“

Und es gibt ein gutes Interview. Volker Weidermann hat es für die FAS mit Marcel Reich-Ranicki geführt. Das Gespräch ist tatsächlich ein Gespräch, ein einfühlsames und reflektiertes, mitunter lustig. Weinen musste ich am Ende. Ob für den Überlebenden Reich-Ranicki die Angst denn immer da sei? Und er antwortet einfach nur:  „Ja. Ach, es ist alles schrecklich!“

Siebenundsechzig Jahre nach Auschwitz gibt es einen deutschen Schriftsteller und sein Gedicht. Es war so erfolgreich wie wohl kein Gedicht zuvor und hieß sogar Gedicht. Sämtliche Zeitungen kommentieren und diskutieren es, jeder hatte es gelesen und jeder hatte eine Meinung über dieses Gedicht. Es war ein Gedicht über Auschwitz.

Es gibt also Zeitungen. Auf Seite 3 einer besonders infamen Ausgabe einer besonders infamen Zeitung schreibt Jörg Magenau etwas von Graubereichen von Tätern, es habe auch deutsche Opfergeschichten gegeben. Von Tätern und Opfern zu reden sei, so Magenau, eine „doch etwas schlichte, schematische Gegenüberstellung„. Die Graubereiche der jüdischen Opfer auszuloten überlässt Magenau den Lesern. Er denkt ihnen aber noch etwas ganz besonders Graubereichliches vor:

Hätte er auf das ganze „Warum schwieg ich so lange“-Brimborium verzichtet, hätte die Debatte vielleicht nicht den Umweg über Ekelbekundungen, Antisemitismusvorwürfe und täglich anschwellende Hysterie nehmen müssen, sondern sich gleich auf die westliche Lebenslüge konzentriert, nach der eine Atommacht Iran unzumutbar, der arabischen Welt die Atommacht Israel aber durchaus zumutbar ist.

Gäbe es eine Diskussion, so könnte man argumentieren: Die arabische Welt hat über vierzig Jahre mit der Atommacht Israel so gut gelebt. Sie hat noch 1973 den Überfall auf Israel an Jom Kippur ohne atomaren Gegenschlag überstanden. Israels Gesellschaft hat den Beweis hinreichend geführt, dass sie kein Land „auslöscht“, nicht einmal, wenn sie angegriffen wird.

Es gibt keine Diskussion. Die Vorstellung von zwei Gegnern oder Gegnerinnen, die im philosophischen Gespräch Argumente austauschen ist ganz illusionär. Selbst die diskursive Teichoskopie von Sunny Riedel ist geheuchelt: „Kritik an Israel wird lauter„, das ist Titel und Programm zugleich. Der Untertitel: „Hysterie. Schrille Töne in der Debatte um das ‚Israel-Gedicht‘. Friedensbewegung verteidigt Grass.“

Also: hysterische, schrille Angreifer, friedliche Verteidiger. Eine Seite voller Leserbriefe aus der Friedensbewegung rundet dieses Ritual ab. Moshe Zuckermann wird als Hauptgang serviert. Der gibt den Ton an: „Wer Antisemit ist, bestimme ich!“ Es gab den Antisemit Karl Lueger, ein Wiener Bürgermeister, von dem dieser Satz abgekupfert wurde: „Wer Jude ist, bestimme ich!“ Zuckermann weiß das so genau und schreibt es gerade deshalb. In diese Zeitung rein. Die es dann druckt. Es ist wahrlich keine Unbildung am Werk. Vielleicht muss man diese Leute, die Zuckermann sind, in der Endlosschleife reden hören, um zu verstehen, was sie zu so etwas drängt:

Und so ist Günter Grass infolge der Publikation seines Gedichtes zum Antisemiten erklärt worden. Von wem? Vom israelischen Premierminister, vom Zentralrat der Juden in Deutschland, von führenden Personen der in Deutschland lebenden „jüdischen Intelligenz“ und von vielen Nichtjuden, die sich mit „Juden“ und „Israel“ panisch zu „solidarisieren“ pflegen. […]

Jene in Deutschland, die wie Günter Grass denken, sich jedoch nicht getrauen, ihre Gedanken zu artikulieren, nun aber erfahren müssen, dass der, der ihrem Denken Worte gegeben hat, als Antisemit gebrandmarkt wird, sie somit selbst den Dreck des wahllosen Antisemitismusvorwurfs indirekt abbekommen haben, werden sich überlegen müssen, wie sie mit dieser psychisch-politischen Unwirtlichkeit umgehen.

Zuckermann gibt dem Literaten die Weihe zum Überlebenden, zum Juden, der nach dem „Brandmarken“ als DP in „psychisch-politischer Unwirtlichkeit“ herumirrt. Trauriger noch, Zuckermann eignet sich nicht nur das Ressentiment sondern auch den Duktus der Nazis an. Man muss diesen Menschen leider im Vollzitat lesen.

Man ist aber auch objektiv Gesinnungskomplize des Zentralrats der Juden in Deutschland, der sich inzwischen wohl als Zweigstelle der israelischen Regierung beziehungsweise ihrer Botschaft in Deutschland begreift, mithin jede noch so horrende Politik Israels blind absegnet und mit unreflektierter Verve vertritt.

Gar nicht zu reden von gewissen in Deutschland lebenden jüdischen Intellektuellen, die ihren Judenbonus und die Furcht von Deutschen, als Antisemit apostrophiert zu werden, so perfekt ausgereizt haben, dass sie eine Hegemonialstellung erlangt haben bei der Herstellung von „jüdischen“ Denkimperativen und ein Anrecht auf Einschüchterung von jedem, der sich ihren reaktionären Interessen und ihrem ideologischen Ansinnen in den Weg stellt. […]

Man befindet sich nämlich in einem Boot mit faschistischen Siedlern in den von Israel besetzten Gebieten, die sich der Unterstützung seitens der reaktionärsten islamophoben Kräfte in Europa und den USA erfreuen dürfen; mit israelischen Alltagsrassisten, die jede Verurteilung ihres menschenverachtenden Denkens und Handelns „von außen“ mit dem Antisemitismus-Vorwurf parieren; mit dem gegenwärtigen Premierminister Israels, der wie wenige in letzter Zeit dazu beigetragen hat, die Schoah-Erinnerung instrumentalisierend zu besudeln, um seine Okkupationspolitik umso ungehinderter betreiben zu können; mit Ariel Scharon, einem seiner Vorgänger, der schon vor Jahren postulieren zu dürfen meinte, dass alle aus Europa kommende Kritik an der von ihm mit besonders schädlicher Emphase betriebenen Siedlungspolitik im Westjordanland zwangsläufig antisemitisch sei. […]

Die Reflektierten unter ihnen werden sich vielleicht zu einer gewissen Courage bewegen lassen – zum emphatischen Veto gegen die Manipulation des diffamierenden Antisemitismusvorwurfs und seiner einschüchternden Wirkmächtigkeit. Jenen, die an dem hinterhältigen Spiel dieses Vorwurfs partizipieren und sich an dem gegen den renommierten Schriftsteller erhobenen Vorwurf gerade delektieren, ist wohl ohnehin nicht mehr zu helfen.

Man muss sich schon einmal an diesem entsetzlichen Triptychon aufhalten, das Zuckermann hier entwirft und vielleicht sollte man dazu ein wenig Rammstein anstellen und vielleicht auch nicht. Es gibt links in diesem Bild menschenverachtende, faschistische, islamophobe, besudelnde, schädliche, intelligente, unheilbare, hinterhältige Rassistenjuden, ein schräg von unten anstürmender Pöbel deren Kleidung vom Blut von „noch so horrenden Verbrechen“ starrt, und dann den „renommierten“ Dichter in königsblauem, sauberen Gewand, rechts im goldenen Schnitt mit Toga und mahnender Hand. Im Hintergrund eine Anzahl von verwirrt dreinblickenden Deutschen, sich entweder „panisch“ mit dem Renommierten „solidarisierend“, eine gewisse Traditionalität im Ausdruck, sie konnten noch nie ein anderes Brauchtum „pflegen“, die andere Hälfte erstarrt in „Furcht“ um ihren Renommierten, der „ihrem Denken Worte gab“. Im Mittelbild nehmen die Rassistenjudenfaschisten gerade den „diffamierenden Antisemitismusvorwurf“, werfen ihn samt Dreck auf den Renommierten, „brandmarken“ ihn, und „delektieren“ sich köstlich über das grausame Schauspiel. Der Renommierte blickt tränenumflort zum Himmel. Im dritten Bild tappt er dann mit 12 Tapferen durch die Steppe der „psychisch-politische Unwirtlichkeit“, am Horizont droht die Eiswüste der Abstraktion.

Es gab da einst Johannes Pfefferkorn. Der konvertierte jüdische Antisemit, schrieb 1508 seine Schrift: „Wie die blinden Jüden ihr Ostern halten“. Zu Ostern 2012 wird Zuckermanns ganz eigenes Passionsspiel gezeigt und die Susi schreibt ihm gleich einen Psalm.

Lieber Moshe Zuckermann, wäre ihr lesenswerter Artikel als Leserkommentar erschienen, die taz hätte ihn wegen Antisemitismusverdacht wahrscheinlich nicht veröffentlicht. Klaus Hillenbrand & Co. schwingen derart die Antisemitismuskeule, dass man nur in Deckung gehen kann…

Es gibt keine Diskussion. Es gibt Medien, die sich für demokratisch halten, weil sie das Niveau der Leserschaft systematisch unterbieten. Die taz hält sich für pluralistisch und links, ganz gewiss nicht für antisemitisch. Es gibt aber zu wirklich alledem ein Diktum, von Adorno und seinem Freund Horkheimer:

„Aber es gibt keine Antisemiten mehr. Sie waren zuletzt Liberale, die ihre antiliberale Meinung sagen wollten.“

Nur, was macht man mit so einer präzisen Diagnose, wenn Kritik nicht mehr zeitgemäß ist?


Der Vorwurf der Feigheit ist ein Atavismus im modernen Kampfgeschehen

Drei Soldaten aus Deutschland sind im Zuge des antifaschistischen Militäreinsatzes der NATO in Afghanistan bei einer Attacke der Taliban getötet worden. „Hinterhältig“ (Merkel) und „feige“ (Steinmeier) wurde der Angriff auf die Truppen genannt. Diese Rethorik zeugt davon, dass vom Wesen des Krieges gegen den Terrorismus ebenso wenig begriffen wurde wie von der Struktur des Guerillakrieges im Allgemeinen. Wer Luftschläge anordnet und mit ferngesteuerten Drohnen ausgespähte Treffen von Talibanführern bombardiert, sollte nicht ernsthaft auf rührige Begriffe wie den der Feigheit seine Kritik bauen. Die Rede von der Feigheit versucht, eine Praxis des Mutes oder Heldentums zu etablieren, in der ein einzelner Mensch sich seinen Ängsten verweigert und letztlich im Zuge eines narzisstisch aufgebauten Ideals von Mut oder Heroismus sein Leben riskiert oder opfert. Feigheit und Vernunft, Kühnheit und Tollkühnheit sind Begriffspaare, die sich in der klassischen Literatur verschwisterten. Der Guerillakrieg verabschiedete sich gänzlich von Schlachthierarchien und -ordnungen – er setzte anstelle der herkömmlichen Kriegsgesetze moralische, politische Gesetze, deren Durchsetzung jedes militärische Mittel erlaube.  Hit and run war letztlich die einzige Möglichkeit, gegen eine etablierte Armee Erfolge zu erzielen. Diese Kriegsform ist hochgradig ökonomisiert: Der einzelne Krieger soll ein Maximum an militärischem Erfolg erzielen können. Gerade um das zu erreichen, wird er nicht wie in der modernen Armee als ersetzbares Material – als Soldat – verschwendet, sondern aufgewertet zum Krieger. Die Modernisierung des Guerillakrieges erfolgte stets unter dem Vorzeichen einer Retraditionalisierung des Krieges. Der Guerillakrieg ist eine synthetische Form aus modernsten Instrumenten und archaischsten Institutionen wie dem individuellen Kriegertum. Letztlich haben alle Armeen dieses Prinzip teilweise inkorporiert und in Elitetruppen und Luftwaffe professionalisiert.

Von Feigheit zu reden, heißt, die wirklich verabscheuenswürdigen Momente der Ideologie der Taliban zu verschweigen. Krieg und die darin zur Anwendung kommenden Strategien werden wie bei den Pazifisten als absolute Kategorie betrachtet. Krieg wird als Form abgelehnt und der Inhalt des spezifischen Verhältnisses nicht mehr analysiert.  Man kann es als feige betrachten, wenn eine Drohne aus dem Hinterhalt eine Riege von Talibanführern tötet. Dass so der Krieg verkürzt wird und Menschenleben geschont werden ist ein Grund, dennoch diesen Angriff zu befürworten und eine solche Taktik weiter zu professionalisieren – und sich letztlich zur Feigheit als möglicher Form der Vernunft zu bekennen. Und auf der anderen Seite: Wären die NATO-Soldaten tatsächlich mit der Absicht nach Afghanistan gekommen, alle Muslime zu töten, wie das die Propaganda der Islamisten bisweilen behauptet, so wäre es überaus legitim und antifaschistisch von den Taliban, einen Angriff wie den jüngsten durchzuführen. Die Parteispitzen Deutschlands haben in ihrer jüngsten Verurteilung der Mittel der Kriegsführung einen Fauxpas begangen – sie verurteilten eine konkrete Kriegstaktik, die NATO-Truppen im Prinzip selbst anwenden. Sie haben es dadurch versäumt, auf die wahnhafte Ideologie zu verweisen, die Leben nur als Krieg gegen Ungläubige und Frauen denken kann. Letztlich knüpfen sie an eine ungute deutsche ideologische Tradition an, dass der seinem Wesen nach unbesiegbare deutsche Soldat nämlich nur durch Verrat oder Hinterhalt besiegt werden könne. „Feigheit“ zu unterstellen bedeutet letztlich zuzugeben, dass man die Soldaten dort auf einen „fairen“ Kampf, eine Art Fußballturnier mit Schiedrichtern und nicht auf einen Guerillakrieg mit entsprechenden Methoden und zu erwartenden Todesfällen vorbereitet hat. Dieser eklatante Mangel an Ernsthaftigkeit gefährdet das Leben von jungen Menschen, die viel lieber Karten spielen und Bier trinken würden, als in Afghanistan trotz aller mitgeschleppten Bewaffnung Todesangst durchzustehen.

Der institutionalisierte Antiziganismus

Deutschland hat es nach den rassistischen Pogromen der 1990-er geschafft, ein liberales Selbstbild zu etablieren und zugleich eine zutiefst dem nazistischen Bedürfnis entsprechende Ausländerpolitik zu fahren. Immer noch droht für 10 000 Flüchtlinge aus dem Kosovo die Abschiebung und damit grenzenlose Armut und die ständige Drohung des antiziganistischen Pogroms.

Für das Brandmarken und die Prügelstrafe, die Zigeuner 1711 durch eine Anordnung August des Starken vor der Ausweisung erwartete ist man sich heute zu modern, im Geiste hält man es mit dem uralten Ressentiment gegen die Mobilität verkörpernden Kollektive. Lewy weist nach, dass die Rassisierung der Sinti und Roma der Feindschaft gegenüber der von ihnen verkörperten Mobilität weitgehend untergeordnet war und erst spät in Paragraphen gefasst wurde. Wie der ältere Antisemitismus weist das gegen Sinti und Roma gerichtete Ressentiment eine Prävalenz auf, die sich einer Interpretation als kulturell bedingt oder einem bestimmten gesellschaftlichen Zustand gemäß sperrt. Im Kern ist das Ressentiment einem gegen die Juden gerichteten außerordentlich ähnlich: Die Mobilität wird mit Bedrohung und Glücksversprechen assoziiert. In der Geschichte der Sinti und Roma in Europa gab es stets drei Konstanten: Die häufig zwangsweise Seßhaftmachung, die massenhaft in der Sowjetunion vollzogen wurde, und die ebenso zwangsweise Mobilisierung, die Fahrende zum Weiterziehen und zur Flucht nötigte. Und als drittes tritt die Vernichtung dazu, systematische Menschenjagd. Seit der Erklärung zu „Vogelfreien“ wurden Zigeunerkinder auf Jagdlisten zwischen Rehen und Hasen  erwähnt, im Nationalsozialismus fand Joseph Mengele dann besonderen Gefallen daran, Zigeunerzwillinge in seinen „Experimenten“ zu Tode zu foltern.

Jegliche Argumentation, die auf noch bestehende juristische oder ökonomische Umstände rekurriert, geht am Kern des Problems vorbei und rationalisiert den Plan zur Massenabschiebung noch zum irgend verhandelbaren Gegenstand oder zum Interessenskonflikt. Ob im Kosovo ein wie auch immer zu fassender inakzeptabler Zustand herrscht ist ebenso nebensächlich wie die schrumpfenden Bevölkerungszahlen, die sich Deutschland als eines der letzten Länder der Welt leistet. Das Bedürfnis, die Roma abzuschieben ist ein allein dem rassistischen Ressentiment entsprungenes – es steht in der unmittelbaren Tradition der Aggression die in den Vernichtungslagern gipfelte. Nur das kann zur Sprache kommen, wenn es gegen die immer noch drohenden Massenabschiebungen und die Psychofolter des widerwärtigen Instruments der Kettenduldungen geht.

Quellen:

Guenter Lewy: „Rückkehr nicht erwünscht.“ Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich. Propyläen, 2000.

Benjamin Laufer: Deutschland schiebt weiter Roma in das Kosovo ab. Heise, 21.2.2010.

„Denkst-du“ – Wie Menschen mit Behinderung den sozialen Frieden in Deutschland bedrohen

Im IC die Bahn-Zeitung „Mobil“ aufgeschlagen, draußen das graubraune Land. Eine ganzseitige Anzeige  von „denkst-du“ lässt die Zehennägel kräuseln. Motiv: Ein Schweißer, überladen mit Schläuchen, unter dem Arm eine Schweißerhaube, eine dicke Unterlippe wird von einem schwarzen Schnurrbart kontrastiert. Dicke Schrift: „Unmöglich, denkst du“. Ich frage mich natürlich, was man hier für unmöglich halten soll. Dass zum Schweißen so derart viele Schläuche nötig sind? Dass ein Mensch mit Schnurrbart und dicker Lippe schweißen kann? Erkennt die Spezialistin hier sofort an irgendwelchen Merkmalen eine Trisomie oder einen Mangel an Sauerstoff während der Geburt? Mir als Laie bleibt das verborgen, da steht also ein Schweißer und schleppt ziemlich elend an dem Material herum, das ihn ausweisen soll. Vielleicht gibt der Text mehr her:

„An über 2.300 Standorten leisten täglich Menschen mit Behinderungen ihren wertvollen Beitrag für unsere Volkswirtschaft. So helfen wir, den sozialen Frieden in Deutschland zu sichern. Das ist nur eine unserer Stärken. Gute Arbeit aus Werkstätten für behinderte Menschen.“

Man ist aufgeklärt. Würden die Werkstätten für behinderte Menschen nicht Menschen mit Behinderungen beschäftigen, wer weiß, was die sonst so anstellen würden mit dem sozialen Frieden hierzulande. Nasebohrende, pöbelnde Rollstuhl-Punks an allen Orten, arbeitsscheue Trisomie-21-Agitatoren an den Straßenrändern, eine Spastiker-RAF soll auch schon in der Gründung sein: Sodom mindestens, wenn nicht Gomorrha… Berlin also gerade noch mal davongekommen, den Werkstätten sei Dank. So ist „unsere“ Volkswirtschaft doch auch von „denen“ abhängig. „Wertvoll“ muss der Beitrag aber schon sein, sonst gibts keinen sozialen Frieden zum Abendbrot.

Vielleicht ist auch das Gegenteil gemeint. Vielleicht hat man nur Angst, dass, würden Behinderte nicht in Werkstätten durch zumeist weitaus stupidere Arbeit als Schweißen oder Feuerwehr „beschäftigt“, der soziale Frieden dahingehend zusammenbricht, dass die Volkswirtschaft mal wieder über die Menschen mit Behinderungen herfällt. Die Rede vom „Sozialen Frieden“ droht schon mit Genozid. Wo Ausländerhatz systematisch organisiert wird, von Fernsehsendern bejubelt und vom Volk goutiert, herrscht „sozialer  Frieden“. Wo allseitige Konkurrenz den Menschen das Leben sauer macht, beschwört man die Volkswirtschaft. Nichts wie raus aus diesem Zug.

Der Baader-Meinhof-Komplex – Dokutainment und Halbbildung

Der Aufstieg der RAF zum großen Filmevent ließ über dreißig Jahre auf sich warten. Ein solcher „cultural lag“, die Nachträglichkeit des Überbaus, wie ihn Adorno in einer Antizipation von Bordieus „Trägheit des Habitus“ definierte, ist typisch für gesellschaftliche Rituale, an denen neben der Filmproduktion der Wissenschaftsbetrieb im Besonderen teilhat. Geschichtliche Ereignisse erscheinen aus der Distanz rund erklärbar, können leichter rationalisiert werden und fügen sich als abgeschlossene Großversuche in die Schubladen von Positivisten ein.

Weil die Wahrheit der Ereignisse immer unnahbarer sich verbirgt, wird das Geschehen zur willkommenen Projektionsfläche. Und die Projektoren wummern in der Regel im Kino am lautesten. Die grenzdebile Lehrerschar kann diesmal anders als beim „Untergang“ aufgrund des vielen Blutes nicht wirklich nach der Einführung des „Baader-Meinhof-Komplexes“ als Unterrichtsstoff rufen. Dem sperrt sich auch der durchaus ernstzunehmende Ansatz des Filmes, Widersprüche eher aufzubewahren als sie zur Synthese zu zwängen.

Der Hooliganismus der RAF entsprang schließlich nicht einigen gestörten Individualpsychen, sondern tatsächlich an den Verwerfungslinien ideologischer Kontinentalplatten und gesellschaftlicher Umbrüche. Die Aggression gegen die Studenten, sowohl von Seiten der Jubelperser als auch der der diese unterstützenden Polizei, trug eindeutig faschistische Schriftzüge. Der Polizeistaat Deutschland war durch und durch mit jenen Elementen durchsetzt, deren Weiterleben mit der Demokratie Adorno als tendenziell gefährlicher als die offen antidemokratischen Bewegungen bezeichnete. Die brüchige Intransingenz und Gewaltbereitschaft, die später die RAF prägten, war auf Seiten der Gegner schon traditionell fest gefügtes Element politischer Gesinnung. Wer meint, gegen die RAF mit ihren historischen Gegnern sympathisieren zu müssen, erhebt den deutschen Nachkriegsstaat zum Ideal. Der Konflikt zwischen nazistischer Kontinuität und seinen autoritären Bewältigungsversuchen zwischen totschweigen und totschießen lebt fort – und daraus erklärt sich die Provokation und das gewaltige Medienecho des Bader-Meinhof-Komplexes. Das deutsche Menetekel ist der bewaffnete Widerstand. Dieser blieb aus, wo er am nötigsten war. Die RAF ist immer noch ein Finger in dieser auch ihr eigenen Wunde.

Die RAF war nicht nur eine Terrorgruppe, ein pöbelnder Lautsprecher des modernen Antisemitismus. Die Stärke der RAF war die Schwäche der bürgerlichen Gesellschaft. Die Terrorgruppe ging unter – die Krise der bürgerlichen Gesellschaft besteht fort und damit die Frage nach Bedingungen und Voraussetzungen für gewaltsamen Widerstand, die von der RAF stets schon beantwortet war, bevor man sie gegen sie zu stellen wagte. Dem Problem des Antisemitismus stellt sich der Film allerdings nicht. So steht das Plädoyer Ensslins gegen Zionismus und Faschismus gänzlich unwidersprochen im Raum. Horst Herold sinniert über die Landfrage der Palästinenser in der Absicht, dem Wahn eine merkwürdige Realität abzugraben. Und die Palästinenser wiederum werden zwar in ihrer sexuellen Prüderie verspottet, ihr Antisemitismus steht aber kaum zur Debatte. Bruno Ganz hängt zudem die Hitler-Rolle nach. Für die als versöhnende Vermittlung gedachte Figur des Herold hätte man sich vielleicht einen Charakter gewünscht, dessen Gesicht nicht sofort mit „Führerbunker“ verknüpft wird.

Deutschland, die UN und das Horn von Afrika

Die UN zieht sich derzeit endgültig aus der Zone zwischen Eritrea und Äthiopien zurück. Zwei gleichermaßen unsympathische Staaten, die in Sachen Pressefreiheit und Menschenrechte auf den letzten Plätzen rangieren, sind damit auf dem Sprung, ihren alten Konflikt wieder kriegerisch auszutragen. Auch wenn Eritrea den letzten Krieg sowohl verursachte als auch verlor, wurde ihm im Wesentlichen genau jenes Land zugesprochen, das es annektieren wollte. Äthiopien akzeptierte diese oktroyierte „Konflikt-Lösung“ durch die UN-Grenzkommission nicht und seither sorgte UNMEE vor Ort für Spott und Häme. Eritrea, das sich militärisch in einer schwächeren Position befindet als Äthiopien, übt sich auf einmal in Kritik am Abzug, den es durch seine boykottierende Haltung maßgeblich auslöste.

Im benachbarten Somalia tobt indes der Stellvertreterkonflikt zwischen den von Eritrea und Al-Qaida mitfinanzierten Islamisten und den mit der Übergangsregierung verbündeten äthiopischen Truppen. Die von der African Union versprochenen 8000 AU-Soldaten sind immer noch nicht angekommen, die Hauptlast der wieder erfolgreichen islamistischen Aggressionen tragen derzeit 1300 AU-Soldaten aus Uganda und die äthiopische Armee. Allein in Mogadishu werden dagegen etwa 3000 islamistische Kämpfer vermutet. Die Chance, Somalia nach der äthiopischen Intervention und der vorübergehenden Zerschlagung der islamistischen Verbände zu einen und zu stärken, wurde einem Experiment geopfert: regionales Konfliktmanagement sollte der AU die Gelegenheit bieten, sich als starke Regionalmacht zu präsentieren. Bei dieser Rechnung wurde allerdings der desolate Zustand der afrikanischen Armeen, ihrer Verwaltung und der Regierungen als vernachlässigbarer Faktor benannt: Die Opfer dieser zynischen Rechnung sind jene Somalis, die in Somalia, Somaliland und Puntland auf stabile, friedliche und halbwegs freie Verhältnisse hoffen. Sie erfahren erneut den Unwillen und die Unfähigkeit der UN, mit vergleichsweise wenigen militärischen Mitteln selbst bei einer größtmöglichen Chance, wie sie sich nach der äthiopischen Intervention bot, irgend etwas Positives zu bewirken. Der AU geht mittlerweile auf, dass sie durch die UN nach Strich und Faden betrogen wurde. So sagte der südafrikanische UN-Botschafter jüngst laut BBC: „[…] the AU is doing a job that the UN is supposed to be doing.“ Und selbst das ist noch gelogen, bestehen die AU-Truppen doch bislang lediglich aus 1300 ugandischen Soldaten, während Südafrikas Regierung sich nach Kräften bemüht, im benachbarten Simbabwe die Todesschwadronen Mugabes gewähren zu lassen und sogar zu bewaffnen.

Am Horn von Afrika werden indes von Oxfam 13 Millionen Menschen als mögliche Todesopfer einer aufziehenden Hungerkatastrophe ausgemacht: Eine Dürre plagt die Region während in Südafrikas Häfen 80 000 Tonnen Nahrungsmittel verrotten, weil – anders als deutsche Freizeitargonauten – kein vernünftiger Kapitän mehr sein Schiff durch die von Piraten besetzten Gewässer Somalias fahren will. Die vor der Küste stationierte deutsche Marine hat anscheinend kein Mandat, Piraterie zu bekämpfen. Das ist laut Amigues/Bishops vor allem der innerdeutschen CDU-Politik geschuldet. Während in Afghanistan deutsche Soldaten durchaus Polizeiaufgaben übernehmen, will die CDU durch die Verweigerung der Zustimmung zu einem solchen verfassungsrechtlich bereits prinzipiell möglichen Vorgehens am Horn von Afrika die SPD dazu erpressen, die Trennung von Bundeswehr und Polizei endgültig aufzuheben. Weil bei den derzeit der Bundeswehr zugeordneten Auslandseinsätzen in Guerillakriegen logischerweise keine klare Trennung von militärischer Aktion und Polizeiarbeit vorzunehmen ist, wäre die Forderung nach einer Neuregelung bei Auslandseinsätzen durchaus nachvollziehbar. Diese Rationalität wird allerdings von der CDU nur zu offensichtlich instrumentalisiert, um dem notorischen Faschisierungskurs der Partei als Profilwetzstein zu dienen. Jede weitere Auflösung der Trennung von Polizei und Bundeswehr ist somit Wasser auf die Mühlen der ewigen Scharfmacher und „tough guys“ innerhalb der CDU/CSU. Die Konsequenz daraus wäre, einem demokratischeren Staat, bei dem man nicht bei einem humanitären und somit in Somalia eben militärischen Einsatz gegen islamistische Guerillas den Verfall von demokratischen Institutionen und den Ausbruch des Faschismus im eigenen Land befürchten müsste, die Befehls-Obhut über eine so diffizile Konfliktregion zu überantworten und Deutschland nur noch entsprechend zur Kasse zu bitten. Dem allerdings steht die Kolonialmacht-Attitüde der Bundeswehr entgegen, die jede Präsenz im Ausland als Siegestrophäe über die in Jugoslawien erstmals offen und lautstark in aller Widerwärtigkeit gebrochene deutsche Verteidigungsdoktrin braucht.

Die EU beruhigt ihr Gewissen mit lauwarmen Geldgeschenken: Satte 21 Millionen Euro, etwa der Preis von wenigen Kilometern Autobahn, schickt sie mit zweifelhaften Vorgaben auf den Weg nach Somalia und Eritrea. Das ist jedoch allemal billiger, als ein Militäreinsatz, der Somalia endgültig von den islamistischen Guerillas und den kriminellen Banden befreien würde, die Produkt und Ursache des derzeitigen Zustandes zugleich sind. Erfahrungsgemäß wird solcherlei nicht militärisch geschütztes Kapital über die zahllosen Straßensperren und Schutzgelderpressungen in die Kassen der Milizen fließen. Den Militäreinsatz gegen solcherlei über Hilfslieferungen finanzierte Guerillas überlässt man getrost der notorisch bankrotten AU und den USA, die dann für die gelegentlichen zivilen Opfer von Luftangriffen mit allen Zeigefingern angeprangert werden können, während man selbst die Hände im Blut der Opfer der Nichteinmischung wäscht.

Deutschland ethnologisch – Teil 2

Wenn der Franke nicht weiß, wie er seine Touristen bei Laune halten soll, lässt er sich mannigfache Attraktionen einfallen. Da sinnt er dann darauf, was seine Goldesel wohl so sehen wollen. Sicher würden manche Radfahrer gerne öfter Gelegenheit erhalten, legal und stressfrei auf irgendwelchen Wiesen am Ortsrand zu biwakieren und so den gefürchteten Delikt des „Hausfriedensbruchs“ oder manches Ordnungsgeld zu vermeiden. Tiefer noch als seine Freude am Kapitaleintrag duch den Touristen wurzelt beim Franken allerdings die urdeutsche Furcht vor Zigeunern und Obdachlosen, die durch derlei Infrastruktur nur auf den falschen Gedanken gebracht werden könnten, hier sei man etwa auch ihnen wohlgesonnen. Der Franke wälzt also hin und her: er braucht seine Attraktion. Und so benennt er also einfach bereits existierende Radwege mit weiteren vielversprechenden Namen wie „Karpfenradweg„, was den Radfahrer entlang der wahrlich sehenswert mäandrierenden Wörnitz nahe Dinkelsbühl darauf verweisen soll, dass man hier besagten Edelfisch zu züchten, zu erlegen und zu verspeisen versteht, eine hohe Kunst, deren wässrige Zeugen man in den am Wegesrand verstreuten Karpfenteichen schon immer bewundern wollte. Wer da noch nicht zufriedengestellt ward, den schickt der Franke auf seine Spezialität: Die „Oberamtstour„.

Den Touristen, die danach noch den Genuss der lokalen Spezialität überlebten, verkauft der Franke in Ermangelung von Holzindianern ausgestopfte andere Franken, die mit Devotionalien behangen werden. Hat der Tourist dann noch Geld übrig, für das er vielleicht einige Mitbringsel erwerben möchte, stehen ihm an jeder Ecke Läden zur Verfügung, die das Beste, was die fränkische Hobbywerkstatt zu bieten hat, zu Schleuderpreisen als höchsten Ausdruck deutscher Kunstfertigkeit feilbieten.

Deutschland ethnologisch – Teil 1

Deutsche Städte haben einen je unterschiedlichen Zugang zum Umgang mit den Toten des zweiten Weltkrieges gefunden. Während die einen eher bescheidene Denkmäler mit Titeln wie „Nie wieder…“ oder „in Trauer um…“ wählten, zeigt sich in Dörfern wie Klepsau an der Jagst der Drang zum ewiggestrigen Protzen mit der nationalsozialistischen Gesinnung. Rings um die Kirche ziert jedes Haus ein Marienaltar, vor der Kirche prunkt symbiotisch ein Märtyrerdenkmal in Marmor und Blattgold. „Die dankbare Gemeinde“ verehrt unter dem eisernen Kreuz ihre „tapferen Helden“ für das Morden und Brandschatzen im Osten, das Gemetzel an den alliierten Streitkräften, die Vernichtung der europäischen Juden, an deren ehemalige Anwesenheit in ähnlichen Dörfern oft noch eine alte Synagoge oder ein alter jüdischer Friedhof erinnert. Der Nationalsozialismus ist mitnichten im Rückzug auf deklassierte Ostgebiete begriffen: In einer der reichsten Regionen der Welt, Baden-Württemberg, mit einer Arbeitslosigkeit von gerade einmal 6% und einer flächendeckenden Versorgung mit Gymnasien, Freibädern und Ärzten ist das Fortwesen nationalsozialistischer Gesinnung kaum aus vulgärmaterialistischer Expertise abzuleiten. So sind die Klepsauer Nazis weder besonders arm noch ungebildet, sie lernten Latein und wählen brav ihre CDU oder auch SPD. Sonntags gehen sie in die Kirche hinter dem Denkmal, um Nächstenliebe und Frieden zu erbitten. Es hat sich vielmehr über Jahrhunderte hinweg eine kulturell bedingte Immunität gegen kritischen Geist und Selbstreflexion eingeschlichen. Die dem so in die Hirne zementierten autoritären Charakter gut zu Gesicht stehende Identifikation mit den vermeintlichen Helden und Altvorderen findet in dieser Region ihr Pendant in der Götzenverehrung. Im benachbarten Krautheim befindet sich jenes Denkmal an den Ausspruch des Götz von Berlichingen, sein Duellant könne ihn „von hinden lecken“. Das sich in allen touristischen Schriften der Region in zahllosen vielsagenden Andeutungen und Pünktchen ergehende verklemmte Gekichere darüber trägt das Zeichen der mit äußersten Gewalt unterdrückten (Homo-) Erotik, die sich letztlich auf Heldenverehrung zurückzieht: diese toten Männer können ebenso gefahrlos geliebt werden, wie in den Klöstern die erotischen Marienbildchen. Den „Fremden“ verkauft man derweil von Rothenburg bis Schöntal ungenießbares Gebäck als regionale Spezialität, lockt sie mit Radwegen in Hinterhalte aus Höhenmetern, um ihnen drittklassige Sehenswürdigkeiten als kulturelle Leistung zu präsentieren oder ihnen den desolaten Zustand des Hausflusses im fernen Tal zu verheimlichen. Wehe den stets willkommenen Fremden jedoch, wenn St. Anna oder die Heilquelle vor Ort auf einmal nicht mehr hilft – dann packen dankbare Gemeinden eben jederzeit wieder tapfere Helden aus.