Antiintellektualismus vs. Kriechertum – vom Skandälchen Guttenberg und Skandalen

Die beumfragte Mehrheit der Deutschen findet, der zurückgetretene Guttenberg habe gar nicht plagiiert oder sei zumindest trotz und wegen erwiesener Hochstapelei und Lügen noch ein respektabler Mann. Würde ein Arzt mit einem erschlichenem Abschluss Gesundheitsminister, der Skandal sähe anders aus. Abstraktere Wissenschaften allerdings genießen in Deutschland ohnehin eher den Ruch des Betrügerischen. „Hirnwichserei“ sei die überhebliche Bücher-Zitiererei, so kann man es sich jederzeit von jenen vergewissern lassen, die als Grundlage für die Philosophie und das politische Urteil den Alkohol am Stammtisch und nicht die Bibliothek setzen. Wenn also die Massen ihr Urteil über einen zu befinden haben, der im Verbund mit ihnen dieses Ressentiment durch seine ostentative öffentliche Geringschätzung der wissenschaftlichen Methode bestätigt, ist klar, dass ihr Antiintellektualismus ein Wörtchen oder gar einen ganzen Hauptsatz mitredet.

Man sollte allerdings von den solchermaßen Angegriffenen, den Intellektuellen, mehr erwarten dürfen, als ein deutschtümelndes Manifest, in dem es heißt:

„Forschung leistet einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung. Redliche und innovative Wissenschaft ist eine Grundlage des Wohlstands in unserem Land. Wenn der Schutz von Ideen in unserer Gesellschaft kein wichtiger Wert mehr ist, dann verspielen wir unsere Zukunft. Wir erwarten für unsere wissenschaftliche Arbeit keine Dankbarkeit, aber zumindest den Respekt, dass man unsere Arbeit ernst nimmt. Durch die Behandlung der Causa Guttenberg als Kavaliersdelikt leiden der Wissenschaftsstandort Deutschland und die Glaubwürdigkeit Deutschlands als „Land der Ideen“.“

Diese betuliche, kleingeistige Absage ans Kosmopolitentum, das den ersten intellektuellen Schritt in die wissenschaftliche Integrität bedeutet – und dieser bleibt den meisten GeisteswissenschaftlerInnen trotz aller Abschlüsse schon verschlossen –  ist bemerkenswert. Jede Ökonomie oder Philosophie, die ihren Marx gelesen hat, muss zum Schluss kommen, dass Deutschlands Mittelschicht und Eliten nicht aufgrund der großartigen Geisteswissenschaften zu Wohlstand gekommen sind, sondern mittels industrieller Kapazitäten, die eine positive Handelsbilanz gewährleisten. Für diese industriellen Kapazitäten sind neben regelmäßig gepiesackten Arbeitenden und Arbeitslosen spezielle Wissenschaften zuständig, die als dementsprechend hochbezahlte jene kriecherische Bescheidenheit weit von sich weisen würden, die von „Dankbarkeit“, „Respekt“ und „Ernst“ spricht, aber nicht von angemessener Entlohnung. Wie im Falle der  Proteste gegen Stuttgart 21 ist nicht dem Anliegen zu wiedersprechen, sondern dem Missverhältnis zwischen Skandälchen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Wegen eines Plagiats gehen auf einmal zehntausende WissenschaftlerInnen virtuell auf die Barrikaden:

„Da fühlen wir uns verhöhnt und persönlich angegriffen – als hätte unsere Arbeit, die wir als Doktoranden leisten, keinen Bezug zur realen Welt.“

Ihre bisherige Arbeit hatte offensichtlich schon wenig Bezug zur realen Welt. Dass man ihnen jahrelang die Lehrstühle und ganze Institute kürzte, die Forschungsaufträge austrocknete, sie durch den Bologna-Prozess in ein Korsett von straff durchdeklinierten Abschlusskategorien zwängte, dass man noch keine einzige Stellenanzeige gesehen hat, in der ein Bachelor der Philosophie oder der Kulturwissenschaften ein menschenwürdiges Gehalt versprochen bekam, dass auf promovierte Ethnologen entweder die Umschulung oder die Arbeitslosigkeit oder das immer vergeblichere Andienen an wissenschaftliche Moden, der Ausverkauf der eigenen Meinung und Interessen zugunsten marktgängiger Floskeln wartet, dass man aktuell keinen einzigen Haushaltentwurf gesehen hat, der irgendwie den Ansturm von zwei Abiturjahrgängen ohne Wehrdienst oder Zivildienst planbar machen würde, dass man also zur Zeit jedem und jeder finanziell nicht völlig Unabhängigen nur dringend davon abraten kann, überhaupt irgendetwas in Richtung Geisteswissenschaften zu studieren, das alles ist bereits die von den Doktoranden erst jetzt entdeckte „…Verhöhnung aller wissenschaftlichen Hilfskräfte sowie aller Doktorandinnen und Doktoranden, die auf ehrliche Art und Weise versuchen, ihren Teil zum wissenschaftlichen Fortschritt beizutragen.“

Wer in Guttenbergs Vorgehen nicht auch den Zwang eines zu sich gekommenen Systems sieht, verachtet in der surrealistischen Imagination einer ohne andere Nöte am Aufbau des Landes werkelnden Wissenschaft jene Studierenden, auf die nicht die Promotion, und oft schon nicht einmal ein Platz im notorisch ausgebuchten „Masterstudiengang“ wartet. Wer einen intimeren Blick ins System der nicht an die Industrie gebundenen Wissenschaften geworfen hat sieht dort recht häufig ganz und gar nicht ehrliche Günstlingswirtschaft bei der (Nicht-) Vergabe von Stipendien und Stellen, überforderte ProfessorInnen, die mitunter schon den Sprung von der Schreibmaschine zum Computer verpasst haben, ein paranoides Konkurrenzsystem, in dem jede und jeder sich mit niemandem überwerfen will, weil man von allen das schlimmste – keinen Zweijahresvertrag – und das beste – einen Zweijahresvertrag – zu erwarten hat, in dem Forschungsergebnisse geheim gehalten werden aus Angst vor dem Ideendiebstahl durch in der Hierarchie höher gestellte Personen. Man sieht zum Beispiel in Marburg, wie der  vom Theoretisierungsbedarf, Themenspektrum und Forschungsaufwand her aufwändigsten Geisteswissenschaft, der Ethnologie, eine einzige, kärglich ausgestattete Professur unter Drohungen ständiger weiterer Kürzungen oder Schließungen zugestanden wird, während ein reicher Unternehmer einen ganzen Lehrstuhl für Medizin stiftet und Physikstudenten noch vor dem Abschluss in die internationale Industrie abgeworben werden.

Es ist möglich, dass sich die Rechtswissenschaften, die Guttenberg studierte, irgendwo dazwischen aufhalten und insgesamt recht gute und wohlbezahlte Berufschancen haben. Die Unterzeichnenden des Aufrufs sind aber mitnichten nur RechtswissenschaftlerInnen. Sie verstehen sich als Vertreter einer fiktiven Entität der „Wissenschaften“ – und darin verleugnen sie den Zynismus eines von Beginn an widersprüchlichen Systems der Wissenschaften, in dem die einen industriell verwertbar sind und die anderen nicht zugeben dürfen, dass sie als bezahlte Korrektive im Sinne systemimmanenter, affirmativer Kritik allenfalls eine sehr mittelbare Funktion für die Wohlstandsproduktion haben und weitgehend austauschbare und verzichtbare Liebhaberobjekte und Sammlerstücke sind. Der Betrieb wird auch ohne eine weitere Promotion über Derridas Subjektbegriff reibungslos laufen, von der neuesten Entwicklungen in der Motorentechnik hängen dagegen Milliarden ab.

Nein, ich will nicht den wohlfeilen Dank oder Respekt der Kanzlerin für meine Arbeit als Ethnologe und Promotionsstipendiat. Ich will mindestens bescheidene 2000,- Euro pro Monat Einstiegsgehalt und eine halbwegs planbare Karriere als Universitätsdozent – und das im Bewusstsein, dass meine Forschungsergebnisse einzig den Verlagen einen minimalen Gewinn versprechen und sie keinesfalls zum Wohlstand Deutschlands beitragen wollen oder können. Und ich würde mir bei der Gelegenheit wünschen, dass gewerkschaftliche Arbeit in den prekarisierten Rändern der Universitäten ohne den Bezug auf das vorgeblich so bedeutende, wertschöpfende Moment geleistet wird,  dass also geisteswissenschaftliche Arbeit nicht als Voraussetzung für Wohlstand in die patriotische Pflicht und an die Kandare genommen wird sondern als Recht innerhalb einer zufällig zu Wohlstand gekommenen Gesellschaft eingefordert werden kann, dass Stipendien in Arbeitsverhältnisse umgewandelt werden und sie somit auf rechtlichen Verträgen und nicht auf Gönnertum beruhen, dass schließlich und endlich in Universitäten das System der unbezahlten Lehraufträge abgeschafft wird, weil das tatsächlich organisierter und massenhafter Diebstahl geistiger Arbeitskraft ist.

Sofern das alles eingefordert ist, könnte ich auch eine angemessene Kritik an Guttenbergs Verhalten nach dem Aufdecken des Plagiats unterschreiben und diese in Relation zu seiner  inzwischen beendeten, gänzlich unvisionären, strategielosen Arbeit als Verteidigungsminister setzen.