Nachdem das Bürgerbegehren um das Tempelhofer Feld in Berlin beendet ist, kursiert unter einer modernistischen, rationalistischen, vielleicht auch liberalen oder marxistischen Gruppierung Empörung darüber, dass dort ein leerer Raum, Ödnis, verehrt würde. Manche fühlen sich zu Zeitdiagnostik veranlasst, die das Treiben der sonst als Ökospinner beglimpften Berliner zu lebloser Wüste in irgendeine dialektische Pathologie zu pressen versuchen. Die Essenz lässt sich als Beschwerde verallgemeinern: „Nicht einmal einen Wald wollen sie„.
Gegen solche Ignoranz erfolgt hier ein wenig ehrenamtliche Aufklärung gegen romantische Naturvorstellungen derer, die sich sonst als anti-romantisch bezeichnen würden.
Das Tempelhofer Feld hat etwas über 300 ha Fläche, das sind ungefähr 3,5 Quadratkilometer, also einen Kilometer im Durchmesser und 3,5 in der Länge. Berlin beherbergt in naher Zukunft vier, vielleicht auch in der weiteren Metropolenregion sieben oder acht Millionen trendige, hippe Weltbürger, die aber partout nicht in Hochhäusern leben wollen wie in New York City, wo etwa 8,4 Millionen Menschen leben und dort Zugang zum Central Park genießen mit etwa 350 ha Fläche. Insgesamt hat New York City eine Parkfläche von 11 700 ha, davon das meiste Küste und Strand, aber auch stattliche 2700 ha Waldfläche, die in natürlichen Zustand gebracht wird. Wie das vonstatten geht, erklärt die Forstpraxis:
„Vor der Bepflanzung wurden die Böden beider Standorte mit Herbiziden behandelt und aggressive exotische Pflanzen entfernt. Aufforstungszonen sind häufig von Kletterpflanzen bedeckt und müssen von ihnen befreit werden, um sie zugänglich zu machen (Abb. 3). Ziel ist es, die Bäume eng zu pflanzen, um so schnell wie möglich einen Dichtschluss zu erreichen, der durch Lichtmangel Neophyten an der Entwicklung hindert. „
Danach wird noch erheblicher Aufwand betrieben, um die Bäume zu wässern und Neophyten zu jäten. Warum das alles? Weil es im rationalistischen Naturschutz um die Erhaltung von Artenvielfalt geht, mehr noch: Um die Vielfalt innerhalb von Arten, also die Subspecies, die an lokale Klimata angepassten Formen. Man möchte nicht nur eine überlebensfähige Restpopulation, sondern nach Möglichkeit verschiedene Populationen in gesunden Stärken, die sich dann innerartlich unterscheiden, aber auch austauschen können. Daher erfahren manche Spezies einen besonderen Schutz in der Fläche, obwohl ihr Überleben durch Restpopulationen in Zoos auch gesichert werden könnte. Andere Arten, Neophyten und Neozoen, möchte man regional lieber wieder ausrotten, weil sie Artenvielfalt stark senken – so etwa die in Florida aus Terrarien ausgewilderten tropischen Reptilien wie den Tigerpython oder die Hauskatze, die auf aller Welt Vogelpopulationen das Fürchten lehrt.
Gesellschaft kann sich das einigermaßen leisten, auch wenn mitunter die Frage nach der Relationalität in der Gewichtung der einzelnen Arten entsteht – die wird zuallererst unter Naturschutzfachleuten lebhaft und meist auch kompetent diskutiert. Mit dem Aussterben von Arten hat man sich längst abgefunden – man möchte dennoch bestimmte Biotopmodelle erhalten, um an ihnen Evolutionsbiologie oder das Prinzip Artenvielfalt im Allgemeinen zu demonstrieren. Für die Biomedizin, die Physik und die Bionik hat das bereits erahnbaren, ökonomischen Nutzen – in Deutschland dürfte der eher in der allgemeinen Bildung über Evolutionsbiologie, der antiklerikalen Wissenschaft schlechthin, liegen. Darwin widerlegte einst an den karnivoren Pflanzen die göttliche Ordnung, in der die Pflanzen den Tieren untergeordnet seien.
Was bedeutet das für das Tempelhofer Feld? Dort gibt es Ödland, Beton, Ruinen, Steppe – dem naiven Augenschein nach nichts, was schützenswert wäre. Da soll also wenigstens ein Wald oder ein Park hin. Grün und vor Leben strotzend, so imaginiert sich gerade der von Natur entfernte, etwas spießige, engagierte Bürger seine Natur. Tatsächlich ist Deutschland zu etwa 33% von Wald in unterschiedlichsten Formen bedeckt: Fichtenforst, Buchenforst, Eichenmischwald, Hartholzaue, Weichholzaue, und viele der pflanzensoziologischen Bezeichnungen mehr.
Wiesen aber sind auf weniger als 5 % zurückgedrängt worden. Das meiste davon wiederum unterliegt intensiver Nutzung: dreischürige Mahd, Gülleverklappung, Kunstdüngung. Es sind Monokulturen aus zwei bis drei Gräser- und Kleearten, auf denen nur noch zwei Heuschrecken-Arten leben können. Was nicht befahren werden kann, wird aufgeforstet. Wo noch Magerrasenflächen, Meso- und Xerobrometen übrig blieben, wird von benachbarten Flächen und über den Regen Stickstoff eingetragen, also gedüngt. Das hat die meisten deutschen Orchideenarten an den Rand des Aussterbens gebracht, die wenigsten kennen noch die changierenden Farben blütenreicher Spezialstandorte wie Küchenschellenwiesen, die man allenfalls in Reservaten und auf Geheimtipps hin gezielt mit Auto oder Zug aufsuchen muss. Solche „Ödnis“ muss aufwändig erhalten werden durch Landschaftspflege mit Maschinen oder Weidevieh, die Stickstoff in Form von Gras austragen und Baumaufwuchs verhindern.
Artenvielfalt, das ist ein Paradox, das man in der Schule lernen sollte, entsteht in nährstoffarmen Biotopen. Dort, wo die Konkurrenz Spezialisten Raum schafft, denen dann andere Arten sich anpassen. Beispiel Korallenriff: In absolut nährstoffarmen Wasser entstehen Korallen und einige wenige Algen, um die ganze Abhängigkeitsketten bis hin zum Hai entstehen. Die wenigen Nährstoffe werden ständig umgesetzt in einem sagenhaften Formenreichtum ausbildenden Konkurrenzkampf. Der Regenwald am Amazonas steht auf wenigen Zentimetern Humusschicht, Lateritgestein und Zweischicht-Tonmineralen. Er wird fast nur von Saharasand gedüngt – auch hier würde das Ausbringen von Dünger zu rapider Verarmung der Artenvielfalt führen.
Das gleiche Prinzip herrscht in Deutschland vor. Insektenreichtum findet sich auf extrem nährstoffarmen Wiesen und Mooren. Hier können Brennnesseln und fette Gräser nicht zu Monopolisten werden und schwächere Pflanzen, Spezialisten, insbesondere Orchideen, erhalten eine Chance. Historisch bestanden solche Flächen an Erdrutschen, Moränen, Binnendünen, Waldbrandflächen, Flussgeröllflächen – sogenannten Primärbiotopen. Diese Primärbiotope hat vor allem die Flurbereinigung und die Flussbegradigung zerstört. Kilometerbreite Geröllflächen an Alpenflüssen lassen sich erst wieder in Slowenien und Italien beobachten.
Mitteleuropa ist eigentlich ein Hotspot an Artenreichtum. Vom Süden und Norden lässt sich noch der Einfluss der Eiszeiten spüren, subarktische Libellenarten fliegen in kühleren Mooren, während am Kaiserstuhl mediterrane Arten sich finden und an Harz und Rhön die Steppenarten Osteuropas Grenzen ihres Ausbreitungsgebietes erfahren. Dazu kommen noch einige endemische Arten, also solche, die nur an eng begrenzten Standorten vorkommen. Hessen etwa beherbergt weltweit die meisten Vorkommen des dunklen Wiesenknopfameisenbläulings, einem Falter, dessen Raupe die Blüten des Wiesenknopfes frisst, um sich später von Ameisen in deren Bau bis zur Puppenreife ernähren zu lassen.
Kurzum: dem Artenschutz mangelt es in Deutschland massiv an „Ödnis“, an heißen, steinigen, trockenen, nährstoffarmen Standorten. Bei Flächen wie dem Tempelhofer Feld hat man diese trockenheißen und nährstoffarmen Flächen künstlich geschaffen. Hier findet sich daher die italienische Schönschrecke und die blauflügelige Ödlandschrecke. Beide würden verschwinden, wenn dort Wald wäre, oder schlimmer: ein öder deutscher Park mit Rasenflächen. Beides dort anzulegen wäre nicht nur immens teuer – es wäre vom naturschutzfachlichen Standpunkt aus kontraproduktiv. So etwas machen Kommunen, um Zwangsgelder für „Ausgleichsmaßnahmen“ zu verprassen, ohne kommunale Fläche zu verschwenden. Man „intensiviert“ einfach eine Wiese mit 30 teuer gepflanzten Apfelbäumen, um die Zerstörung einer anderen Wiese durch ein Neubaugebiet zu kompensieren. Oder man „bepflanzt“ einen neu geschaffenen Teich mit Gehölz, das binnen zwei Jahren ohnehin dort aufkommen würde. Wer davon profitiert, sind Baumschulen, Landschaftsgärntner und Bauunternehmen – die kommunale Ökonomie. Billiger wäre es, einfach der Natur ihren Lauf zu lassen und sogenannte „Sukzessionsstadien“ abzuwarten. Also die Übergänge zwischen einer Ruderalfläche, entstehendem Aufwuchs aus Brombeeren und Anfluggehölz und irgendwann der natürliche Buchen- oder Birkenwald – der aber im Vergleich zur Ruderalfläche eher arm an seltenen Arten wäre. Der Sukzession vorzuziehen wäre die extensive Beweidung oder das Freihalten durch Brände, wie sie auf Truppenübungsplätzen durch Schießübungen entstehen.
Ob und wie Berlin seine im Vergleich mit Hamburg doch eher moderate Wohnungsnot löst, ist eine andere Frage. Die Erfahrung mit kapitalistischer Naturvernutzungsprozessen zeigt, dass die Konkurrenzstellung zwischen Mensch und Natur meist nur ein Popanz ist, weil von der Naturvernutzung die Arbeiter ebenso wenig haben wie von der Vernutzung ihrer Lebenszeit in den Verwertungsprozessen. Erst in einer anderen Gesellschaft würde sich ernsthaft die Frage stellen, ob man diesen oder jenen Biotop gegen das Wohl von Menschen aufwiegt. Bis dahin wird nur der leere, unbestimmte, menschengemachte, aber nicht bewusst vollzogene Verwertungsprozess weiter in seinem Selbstzweck, der Akkumulation von Kapital zerstörerische Kreise treiben – kurzum, Rohstoffe durch Hinzufügung menschlicher Arbeitskraft in billige Gadgets, in Plastikschrott und hässliche Wegwerfmöbel umzuwandeln.
Auf einer tiefenpsychologischen Ebene gilt Adorno/Horkheimers Diktum: „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur immer tiefer in den Naturzwang hinein.“ Zunächst herzustellen wäre ein Bewusstsein dessen, was Natur ist, was Formenreichtum ist, und was sich daran an Differenzierung und Denken von Interdependenzen und Verwertungsprozessen, von Ästhetik und Fetischismus lernen ließe. Historisch war der Anfang aller Philosophie die Naturbeobachtung.
Zweifellos ein interessanter Gedanke. Aber auch wenn ich nicht genau weiß auf welchen Text dieser hier anspielt und ich mich nur wenig mit den Argumenten von 100% Tempelhofer Feld beschäftigt habe, so muss ich doch trotzdem vermuten, dass der Text ziemlich am Thema vorbei geht. Der Wunsch nach „Freiräumen“ in der linken Debatte ist keiner nach extensiver Grünlandnutzung sondern scheint eher auf eine intensivere Nutzung des öffentlichen Raums – in dem fortan gegärtnert, gegrillt und gecampt wird – hinauszulaufen.
Das Tempelfeld ist im Einklang mit Berlinern – und: Berlinerinnen!