Singularität – ein toter Begriff

Lebendig sind Begriffe, wenn sie das Begreifen befördern und an Erfahrungen, an Material gebildet werden. Ein Begriff ohne Kenntnis des Gegenstandes verliert seine Bedeutung. Daher beinhaltet Dialektik bei Adorno auch, „die Sache selbst zu begreifen, anstatt sie durch Begriffe bloß zuzurüsten.“ (In: Fragen der Dialektik) Für Adornos pädagogische Philosophie steht die Erfahrung im Zentrum, die abermals „lebendig“ zu sein hat. Der Vorrang der Empirie, der Darstellung, wird in seinen soziologischen Studien betont.

Singularität ist ein toter Begriff. Wer nicht an den Zeugnissen der Überlebenden, an den Funden, an den Dokumenten der Nazis, an ihrer Propaganda begriffen hat, dass ihr genozidaler Charakter grenzenlos war, wird durch das dürre Wort „Singularitär“ nichts hinzulernen. Der Genozid an sechs Millionen jüdischen und zu Juden oder Halbjuden erklärten Menschen war der Kern der gestaffelten und ineinander übergehenden Genozide der Nazis: die Operation T4 mit der Ausrottung von körperlich und geistig Behinderten als „lebensunwertes Leben“, der „Holocaust by bullets“ an jüdischen Menschen in den „bloodlands“, die Vernichtungslager in Auschwitz, Sobibor, Treblinka, Belzec, Majdanek, Stutthof, Chelmno, und die Vernichtung durch Arbeit in den zahllosen Arbeits- und Todeslagern, die Vernichtung der Sinti und Roma, der Politizid an politischen und ideologischen Gegnerinnen, die geplante Versklavung und Dezimierung der slawischen Menschen in den eroberten Gebieten, die mit der Aushungerung Leningrads und der zynischen Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener als Praxis einsetzte.

Gerade wegen der Grenzenlosigkeit der Genozidalität der Nazis ist es Unsinn, eine Kategorisierung des Leidens der Opfer vorzunehmen. Ein Mensch, der zum Verhungern gezwungen ist, leidet ungeachtet der Ideologie der Täter und des Ortes. Ein Mensch, dem Gliedmaßen abgeschlagen, der ertränkt, erschossen oder stranguliert wird, leidet, ein Mensch, dem die Kinder entrissen werden, um sie vor seinen Augen zu ermorden, leidet ungeachtet dessen, ob das während der Shoah oder während der Sklaverei geschah. Dieses Leiden ist so individuell, wie der Sadismus der Täter*innen sich ähnelt.
Was die Ideologie angeht, so ist das Hauptanliegen historischer Kritischer Theorie, die Entstehung der genozidalen, auf Triumph und Regression fußenden Fortschrittsideologie der Nazis aus einer „Dialektik der Aufklärung“ zu erklären, in der Fortschritt nur als Herrschaft über unterworfene Natur denkbar wird und in der Opfer systematisch mit unterworfener Natur identifiziert werden.
Für die Geschichtswissenschaften hat George L. Mosse die Bedeutung des Rassismus für den Antisemitismus herausgestellt, seine Entstehung als Rassenantisemitismus, als Rassismus, unterstrichen. Daher behandeln viele Bücher, die in den 1940er und 1950ern entstanden sind, unter dem Begriff des Rassismus auch ausschließlich oder primär den Rassenantisemitismus der Nazis. In dieser Zeit war mit Rassismus der Antisemitismus gemeint. Entsprechend unbedarft wirken Versuche der Trennung von Antisemitismus und Rassismus heute, weil sie vollständig gegen die historische Erfahrung immunisiert sind. Wahr ist jedoch, dass die Antisemitismusforschung dieser Zeit dem Rassismus gegen Nichtweiße wenig Aufmerksamkeit schenkte und dahingehend eine Rassismusforschung sich erst in den letzten beiden Jahrzehnten und durch gesellschaftliche Kämpfe hindurch annähernd etablieren konnte und musste. Umgekehrt spielte in dieser modernen Rassismusforschung der Antisemitismus kaum noch eine Rolle, so dass eine antisemitische Rassismuskritik und eine rassistische Antisemitismuskritik entstehen konnten, die aus genau diesem Grund jeweils beide die Rassismuskritik wie die Antisemitismuskritik umso notwendiger machen.

Mit „Wege aus der Dichotomie“ spricht Urs Lindner in der tageszeitung einige der Mythen zu Singularität und der Trennung von Rassismus und Antisemitismus an, um sich dann allerdings in weitere Mythen zu verstricken. Ihm zufolge sei angesichts der Genozidforschung die Shoah als „Extremfall“ zu verstehen, der Erlösungsantisemitismus am „Ende eines Kontinuums paranoider Feindkonstruktionen“ verortet. Lindner erkennt die strukturelle Überflüssigkeit des Begriffs „Singularität“, wo er eigentlich „Spezifik“ meint: „Dass Antisemitismus nicht in Rassismus aufgeht, ist trivial. Kein einziger Rassismus geht in seinem Allgemeinbegriff auf.“ Dann allerdings erklärt er ausgerechnet Edward Saids Propaganda von den „Palästinensern“ als „Opfer der Opfer“ zur „Überwindung“ der „Täter:innen/Opfer-Dichotomie“. Zwar erwähnt er die Vertreibung der arabischen Jüdinnen und Juden als Antisemitismus, kann diesen aber nicht sinnhaft mit der Landnahme in Israel in Zusammenhang bringen, die er dann als „kolonial“ markiert. Mit dem „Landkauf“ sei bereits eine „sachlich vermittelte Gewalt“ entstanden, deren „Modell“ die „innere Kolonisierung“ von „Westpreußen und Posen Ende des 19. Jahrhunderts“ gewesen sei. Hier rutscht Lindner in die Gleichsetzung von deutschem Expansionismus im Gefolge des Deutschordens mit dem von Auswegslosigkeit getriebenen Zionismus jüdischer Geflüchteter ab. Der Zionismus blieb über die fast zwei Jahrtausende des jüdischen Exils erhalten, weil Jüdinnen und Juden ihre Religion nicht aufgeben wollten und weil der Antisemitismus zunächst in islamischen, dann christlichen Gesellschaften in Ghettos einzwängte, absonderte, diskriminierte, verfolgte. Der politische Zionismus Ende des neunzehnten Jahrhunderts trug dann nur noch der ohnehin einsetzenden Auswanderung russischer Jüdinnen und Juden in das historische Israel und Judäa Rechnung.

Die Landkäufe mögen wie jeder Landkauf „sachlich vermittelte Gewalt“ gewesen sein. Diese Gewalt richtete sich jedoch primär gegen die jüdischen Geflüchteten: von ihnen forderten die osmanischen Effendis Mondpreise für Wüste und malariaverseuchte Sümpfe, teilweise ein Vielfaches der Preise, die historisch für fruchtbares Land in den USA gezahlt werden mussten. Die ersten zionistischen Siedler*innen starben zu ganzen Dörfern an Krankheiten, Arbeit und Armut und sie mussten ständige Verfolgung, Diskriminierung oder Überfälle aus der islamischen Mehrheitsbevölkerung befürchten. Diese Situation auch nur annähernd mit dem Landkauf von deutschen Adeligen in den fruchtbarsten Ländereien an der Ostsee zwischen St. Petersburg und Warschau zu vergleichen, ist mehr als unscharf.

Falsch wird Lindners Analyse auch, wenn er behauptet, dass diese „sachlich vermittelte Gewalt“ dann im Zuge des Unabhängigkeitskrieges in „unmittelbare Gewalt“ der „Nakba“ umgeschlagen sei. Ein Umschlag fand nicht statt, tatsächlich wurde Israel von den arabischen Staaten angegriffen, um das jüdische Land zu vernichten und zu „nehmen“. Dafür wurde die muslimisch-arabische Bevölkerung von den arabischen Staaten aus aufgefordert und mit Gräuelpropaganda motiviert, die Wertsachen einzupacken, die Häuser abzuschließen, die Schlüssel mitzunehmen, und sich zeitweise, bis zur Eroberung Israels durch die arabischen Legionen, in muslimisch dominierte Regionen zu begeben. In der israelischen Realität ging es – vom mythologisch bedeutsamen Jerusalem abgesehen, im Unabhängigkeitskrieg nicht um Landnahme, sondern um militärische Kontrolle von militärisch extrem bedeutsamen Engpässen. Das den Jüdinnen und Juden zugestandene Flickwerk aus Wüste, Küstenstreifen und einem kleinen fruchtbaren Fleck Land um den See Genezareth herum war militärisch kaum zu halten, solange muslimisch-arabische Bevölkerungsmehrheiten an vulnerablen Stellen die Verteidigbarkeit in Frage stellten. Hier war eine tatsächlich von israelischer Seite aus forcierte temporäre Evakuierung oder Vertreibung einer militärischen Ratio unterworfen, die unmittelbar das Überleben der Jüdinnen und Juden in Israel zum Ziel hatte, die vom Genozid durch die arabischen Legionen bedroht waren. Und hier kämpften Holocaust-Überlebende, Zionist*innen und Alter Jishuv mit improvisierten Waffen gegen eine von Großbritannien ausgerüstete und unterstützte Übermacht. Die Eroberung Ostjerusalems durch die arabischen Legionen unter dem Briten John Bagot Glubb, der seinen Sohn Geoffrey nach dem Kreuzfahrer Gottfried von Bouillon benannte, der Jerusalem eroberte und in Blut waten ließ, sollte klar machen, welche Seite Land durch „unmittelbare Gewalt“ nahm und wem diese „unmittelbare Gewalt“ galt. Jüdinnen und Juden wurden aus den von Jordanien eroberten Teilen vertrieben oder ermordet, Synagogen und Friedhöfe zerstört.

Israel musste nach dem Krieg bis zu einer Million arabischer Jüdinnen und Juden aufnehmen und integrieren. Die anhaltenden Überfälle durch muslimisch-arabische Milizen und Armeen, sowie ausbleibende Reparationszahlungen und die Weigerung, Israel anzuerkennen oder Frieden zu schließen, sind die Bedingungen, die eine Landnahme im historischen Judäa und Samaria begründeten. Diese Gebiete waren und sind bis heute winzig im Vergleich zu dem Land und dem Besitz, der einer Million arabischer Jüdinnen und Juden geraubt wurde. Dahingehend ist selbst der chauvinistischste Anspruch von israelischen Jüdinnen und Juden auf das gesamte Land im historischen Judäa und Samaria nur als Ergebnis einer ausstehenden, tatsächlich gerechten Kompensation für die von muslimisch-arabischer Seite aus erlittenen „unmittelbare Gewalt“, Landnahme und Kosten zu verstehen.

Jeder Vergleich mit dem Kolonialismus verbietet sich an der historischen Faktenlage. Europäische Kolonialmächte verteilten Länder, in denen vorher nie ein Weißer geboren wurde, in denen ihre Sprache praktisch unbekannt war, mit dem Ziel der Extraktion von Rohstoffen und mit einer genozidalen Militärstrategie, die teilweise ohne überhaupt Notiz zu nehmen ganze Sprachen auslöschte.

Im Vergleich dazu existierte in Israel nach der Zerstörung und Ausmordung Israels durch das römische Reich eine „indigene“ jüdische Bevölkerung fort, trotz der ständigen Diskriminierung, zunächst durch polytheistische Römer, dann durch das christliche Rom, dann durch islamische Schutzsteuern, Verbote und Pogrome. Auf 3200 Jahre lässt sich die jüdische Präsenz an archäologischen Funden auf ägyptischen Stelen zurückverfolgen, die älteste bekannte Synagoge ist mit 800 vuZ datiert. Nur wenige andere heute noch existierenden ethnischen Gruppen können eine derartige in Schriften dokumentierte Präsenz vorweisen. Nur weil sie zur Minderheit dezimiert wurden, schmälert das nicht ihren Anspruch – wie auch bei den Native Americans, die teilweise mehrfach vertrieben, umgesiedelt, dezimiert wurden. Der heute wieder auflebende selbsbewusste Nativismus von Jüdinnen und Juden, die Betonung der Bindung der jüdischen Gesellschaft an Israel, das ist keine modische Identitätspolitik, das hat größtes historisches Recht und das ist eine Revolution gegen die antisemitische Behauptung vom „ewig heimatlosen Ahasver“, der nach Belieben verschickt und vertrieben werden kann.
Jüdinnen und Juden haben nun einmal tatsächlich über Jahrtausende hinweg für die Heimkehr nach Jerusalem gebetet. Entsprechend leben rassistische Kurzfilme auf, die Jüdinnen und Juden eine westliche „DNA“ nachweisen und dadurch ihren Anspruch auf Israel leugnen. Dass das osmanische Reich in der Region gezielt Muslime aus dem Balkan und Kaukasus ansiedelte, um die lokalen christlichen Mehrheiten zu schmälern, solche koloniale Bevölkerungspolitik wird nicht erwähnt. Dass die „Palästinenser“ in der Mehrzahl in jüngerer Zeit eingewandert sind, dass Yassir Arafat in Ägypten geboren wurde, dass „die Palästinenser“ vor 1970 als ethnische Gruppe unbekannt waren, auch das versucht die Propaganda von den angeblich „nicht indigenen“ Jüdinnen und Juden projektiv zu verdrängen.

Es gibt eigentlich keinen Konflikt von Theorien. Es ist nicht die Kritik am Kolonialismus, die konträr zur Kritik am Antisemitismus steht. Israels Entstehung war ein Akt des doppelten Antikolonialismus: gegen das osmanische Imperium mit seiner zynischen Bevölkerungspolitik und Diskriminierung der älteren, jüdischen Minderheit, und gegen den europäischen Kolonialismus der Briten, die sich letztlich mit den arabischen Staaten verbündeten, um ihr Imperium zu stabilisieren und heute gegen den islamischen Chauvinismus, der die jüdische Emanzipation rückgängig machen will.
Es ist das Auslöschen von Fakten, von Geschichte, und die nach doppelten Standards vorgenommene Bewertung von Fakten, die in der antikolonialen Bewegung den Antisemitismus hegemonial machte.

Erst wenn „Genozidalität“ im Zuge einer Täter-Opfer-Verkehrung auf die jüdische Seite projiziert und auf der muslimisch-arabischen Seite geleugnet wird, wenn aus den islamischen Tätern und Angreifern auf einmal Opfer werden, wenn die jüdische Landnahme als „kolonial“ gilt, während die islamische Expansion und ihr Anspruch auf ein „Palestine from the river to the sea“ als „antikolonial“ markiert wird, wird der Begriff des Genozids zum Problem. Entsprechend problematisch ist daher auch, dass Lindner auf Facebook einen Kommentar nicht in Schranken wies, der einen Genozid Israels in Gaza behauptete. Hier greift der Begriff Singularität nicht, hier liegt Täter-Opfer-Verkehrung vor. Ginge es um Hunger oder Obdachlosigkeit der Menschen in Gaza, so müsste man nicht mit „Singularität“ argmentieren, sondern zunächst grundsätzlich den Unterschied zwischen einem Genozid und den Folgen urbaner Kriegsführung erklären. Es geht aber bei der Behauptung eines „Genozids“ in Gaza nicht um die Menschen dort oder das, was befürchtet wird. Mit dem erfundenen „Genozid“ soll vielmehr verdrängt werden, dass Israel sich in Gaza gegen genozidale Gewalt zur Wehr setzt, eine genozidale Organisation zerschlägt. Das lässt sich an den doppelten Standards nachweisen, mit denen die Situation in Gaza bewertet wird. In kaum ein Kriegsgebiet werden mehr Hilfsgüter pro Kopf entsandt, werden mehr Hilfswerke abgestellt. Die Situation in Tigray, Sudan, Jemen, Myanmar, erzeugt in den Menschen, die sich über Gaza empören, nicht annähernd soviel Hass oder Aktivismus. Es geht nicht um individuelles Leid, um realistische Strategien, den Konflikt so zu beenden, dass Israels Sicherheit langfristig gewährleistet ist, und die Gesellschaft in Gaza demokratischer wird. Auch wenn einzelne Aussagen von israelischen Politiker*innen an genozidale Propaganda erinnerten, fehlt in den Vorwürfen des Genozids doch ein Abgleich mit der Militärpraxis und ein von doppelten Standards freier Vergleich mit anderen Kriegsgebieten.

Der Begriff der Singularität erweist sich in jedem Fall als unwirksam, wenn nicht sogar als Instrument, den Antisemitismus zu relativieren. Täter-Opfer-Verkehrung, Relativierung und Rationalisierung sind die zentralen Stratageme antisemitischer Geschichtsfälschung. Dass geschichtliche Ereignisse spezifisch sind, ist selbstverständlich, und die Dimensionen des nationalsozialistischen Genozids an Jüdinnen und Juden lassen sich nur durch ausführliche Darstellung vermitteln, nicht durch ein einziges Wort.


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Weiterführend: „Dass nichts Ähn­li­ches ge­sche­he – Kri­ti­sche Theo­rie nach der Wie­der­ho­lung“ (https://archive.org/details/KritischeTheorieNachDerWiederholung)
Das Ähnliche“ (https://versorgerin.stwst.at/artikel/06-2013/das-ahnliche)




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