„Fluchtnostalgie“ – Jan Feddersen mobilisiert gegen Empathie und Engagement

Der gesellschaftliche Rechtsruck fordert seinen Tribut auch in linken Zeitungen und Magazinen. Die Übung, nicht in Routineabwehr zu verfallen und reale Angriffspunkte der Rechten aufzuspüren ist ja zunächst einmal Selbsterhaltungsstrategie politisch bewusster Menschen. Ab und an sollte man sich angesichts der Abgewracktheit der Linken fragen, ob und wo die Rechte inzwischen, wenngleich aus falschen Beweggründen, punktuell zur Avantgarde mutiert ist.

Da gäbe es vieles: Die Qualität rechter Propaganda hat – durch Thinktanks befeuert – ungeahnte Höhen erreicht und die digitale und ästhetische Überlegenheit der Linken gebrochen. Das Problem des Antisemitismus ist in der Linken global völlig unerhellt und in der deutschen Linken allenfalls in schrumpfenden Randgruppen präsent. Die Einheit von Konsumgesellschaft und Arbeiter*innenhedonismus und die Dialektik von (notwendigen) Kulturkämpfen bleiben ungelöst, wenngleich sie nirgends so ausführlich diskutiert werden wie in linken Publikationen.

Was aber wählt Jan Feddersen als „wunden Punkt“ der Linken? Ausgerechnet eine „Fluchtnostalgie„.
Einen Popanz also. Es geht mit leeren Behauptungen los: „In nichts ist die linke, alternative, grüne Szene so gut, so versiert, so rhetorisch sattelfest wie im Abwiegeln realer Probleme.“

Wo lebt und liest Feddersen? Die Veröffentlichungen von Rosa-Luxemburg-Stiftung und Heinrich-Böll-Stiftung zählen zu einem der letzten Resorts der Benennung realer Probleme auch dort, wo das der eigenen, behäbigen Parteiapparatur zuwiderläuft. Aber es geht für Feddersen ja vor allem um ein ganz besonderes Problem: Ausländer. Man dürfe „weder über Geflüchtete, schon gar nicht über den Islam“ reden. Wir lesen dann aber nichts über den Islam, diese chauvinistische, suprematistische Religion eines narzisstischen Sektenführers aus der arabischen Halbinsel. Auch nichts über harte islamistische Strukturen wie die Hisbollah in Deutschland oder die Muslimbruderschaft, die nicht selten bestens mit der CDU zusammenarbeiten. Nein, es geht um drei Menschen, die aus welchen Motivationen auch immer zu Gewalttätern und Mördern wurden, das heißt, um die drei Täter ohne deutschen Pass und aufgewachsen in „männlichen Kulturen, denen zufolge nur ein Mann mit einem Messer ein echter Kerl ist.“ Wo soll das so sein? In islamischen Ländern läuft man nicht mit einem Messer herum. Lediglich in Jemen ist der Prunkdolch verbreitet, mit dem man allerdings schwerlich einen Messerkampf gewinnt. Mit einem Messer läuft man dort herum, wo in westlichen Großstädten der Kapitalismus den Menschen einschärft, dass sie Alphas zu sein haben, die es um jeden Preis schaffen müssen und dass der Dumme ist, der sich hier etwas bieten lässt und dass die Schwachen untergehen. Es ist eher die Ideologie der FDP, die sich hier austobt, als die des Islams, der häufig eher noch mäßigend wirkt durch Einbindung von Jugendlichen in rigide Strukturen und das Angebot, Aggression zu ventilieren gegen den Zionismus oder Frauen oder sich selbst.

Feddersen schaut sich aber drei Gewalttaten an und nickt der AFD-Propaganda anerkennend zu: Die Konsequenz hat Abschiebung zu sein. Da höhnt er: „Und soll man sie abschieben? Aber nein, wie menschenverachtend ist das denn!“ Und fordert dann:
„Seitens der Grünen und Linken darf es kein Tabu sein, offensiv über Konzepte der Abschiebung von straffällig gewordenen Migranten und Migrantinnen nachzudenken.“ Weil: „Wer das alles nicht will, riskiert nicht nur die Thematisierung dieser Konflikte durch Konservative und Rechtsextremisten, sondern auch eine Schließung der Grenzen, gegen die der eiserne Vorhang ein Witz war.“

Wir sind also schuld, am eisernen Vorhang und schlimmeren Dingen. Weil wir – ganz Risikoverhalten – partout nicht offensiv abschieben. Logisch. Wir erinnern uns: die Republikaner, die NPD und die DVU in den 1990ern sind verzweifelt an den Konflikten mit der Einwanderung und haben vor brennenden Flüchtlingsheimen „Konflikte thematisiert“. Flüchtlingsheime, in denen laut Feddersen Grüne und Linke nicht auftauchen. Die würden in Wohlstandsvierteln leben, ihre Kinder in Privatschulen schicken und nicht mitbekommen, was in migrantischen Vierteln abginge. „Wer die eigene Brut (!) sicher und störungsfrei durch das Bildungsmeer segeln lassen will, findet Wege.“

Was für ein Zynismus. Es waren Linke, die fast die gesamte Last der Hilfe für Geflüchtete ehrenamtlich trugen und organisierten, teilweise noch auf Kosten der eigenen Kinder. Es waren Linke, die die Zustände in den Heimen dokumentierten und die Welle von Brandanschlägen auf Geflüchtete. Es waren Linke, die mit kurdischen Großfamilien nach Hause gegangen sind und dort eine Flut von Schulbriefen, später dann noch während der Coronazeit alle möglichen Maßnahmen übersetzten, Konflikte mit Vermietern klärten, Impftermine organisierten, Stromrechnungen, Geldstrafen für den obligatorischen illegalen Grenzübertritt vermittelten, Aufklärung über Kinderschutz und Geschlechtskrankheiten leisteten. Es sind Linke, die auf den Rettungsschiffen ihre psychische Gesundheit opfern dafür, einem längst zynischeren und großräumigeren Abschottungssystem als die Berliner Mauer ein paar gerettete Menschenleben abzuringen.
Feddersen lügt sich hier einfach noch einmal zentnerweise in die Tasche, um endlich über Abschiebungen zu reden, die ein Tabu seien.

Aber auch da sind es doch Linke, die über Abschiebungen sprechen. Die mit Menschen noch auf den Flughafen gehen, wo sie nicht heirateten, versteckten, Anwälte organisierten, Kirchenasyl vermittelten. Es sind Linke, die das Verhalten von AFD-nahen Abschieberichtern dokumentieren. Wie Menschen in den Tod springen, um einer Abschiebung zu entgehen. Wie Sali Krasniqi im Kosovo starb, weil er nach einer Herzoperation dorthin abgeschoben wurde und dort erwartbar keine fachgerechte Behandlung erhielt. Wie in Österreich Marcus Omofuma 1999 im Flugzeug bei seiner Abschiebung nach Nigeria mit Klebeband erwürgt wurde. Wie Kinder auf Lesbos suizidal werden, weil die Lager ja niemanden zur Flucht motivieren dürfen.

Nur will Feddersen darüber ja nun auch gar nicht reden, er will über Abschiebungen positiv reden, als Lösung und Strafe. Warum sollen Menschen nicht in Folter, Todesstrafe oder Tod durch äußere Zustände abgeschoben werden, auch wenn sie in Deutschland Scheiben eingeworfen oder sogar Menschen angegriffen oder getötet haben? Weil das eben Tabus sind, zivilisatorische Tabus. Man macht das nicht. Man richtet nicht Menschen hin. Man schiebt einen Menschen nicht nach Afghanistan ab. Man schiebt nicht Jesidinnen ab in den Irak. Man schiebt keine Oppositionellen in die DRC ab. Natürlich gilt das Tabu nur noch für Randgruppen. Schließlich macht macht der deutsche Staat das längst. Bei jedem rechten Propagandawindchen stellt sich einer aus der SPD hin und fordert brutaler abzuschieben und dabei stehen auch immer die gleichen Grünen und applaudieren und stets wird ein neues Asylpaket verabschiedet, das noch weiter geht. Seriell und systematisch und seit Jahrzehnten wurde und wird in Folter und Tod abgeschoben, werden selbst Menschen, die in Deutschland geboren sind, jahrzehnte hier lebten, abgeschoben. Darüber sprechen nur: Linke. Das Tabu gegen Folter und Todesstrafe ist zivilisatorischer Mindeststandard und deshalb sind Menschen, die dieses Tabu nicht kennen wollen, der Formstahl des Faschismus, der von je her nur seine Meinung sagen will.



ADHS – zur Ideologie des gesunden Menschen

Hirschhausen: „Wer profitiert denn von ADHS?“
Expertin: „Also ich würde es andersherum formulieren: Was kostet uns ADHS?“


In diesem kurzen Fragment aus einer WDR-Sendung zu ADHS ist die normative Gewalt einer Diagnose enthalten: Sie kostet Geld. Leute nehmen Drogen, sind unproduktiv und im schlimmsten Fall produzieren sie Verkehrsunfälle. Normale Menschen kosten kein Geld.

Den Studien und einigen Erfahrungen zufolge existiert so etwas wie ADHS tatsächlich und für Leidensfälle kann Medikation eine subjektive Erleichterung bringen. Wie aber für bürgerliche Ideologie typisch, steht in der Dokumentation das rationalisierende Moment im Vordergrund und die Frage von Ideologiekritik muss stets lauten: Was wird NICHT gesagt, dadurch, dass etwas ANDERES gesagt wird? Was ist das Negativ?

Mit den popularisierten Symptomen kann sich nach dem Prinzip der Horoskope jede identifizieren. ADHS führe zu „Empathie“, zu „Unruhe“, zu Schwierigkeiten, sich auf „kleine Aufgaben“ und „Deadlines“ zu konzentrieren. In all der Diagnostik ist eine entsetzliche Figur im Negativ abgebildet: Der normale Mensch, wie ihn sich der Spätkapitalismus wünscht, nicht zu empathisch, im Vollbesitz aller Sekundärtugenden, mit denen man auch ein KZ führen kann.

Der selbst mit ADHS diagnostizierte Hirschhausen meint, ihn habe ein Netz aufgefangen, und er könne daher „Medizin mit Zauberei und Comedy verbinden“, und das fehle Jugendlichen häufig. Was Jugendlichen fehlt, ist überhaupt die Möglichkeit, Arzt zu werden, wofür bekanntermaßen immer noch ein NC von 1.0 erforderlich ist und strukturell studierte Eltern, die etwas Reichtum mitbringen. Verschwiegen wird, dass man mit Methylphenidat eben nicht auf einmal den Weg zum Traumjob findet, sondern mehrheitlich für die elendiglich langweiligen Bürojobs fit gemacht werden soll, für die Fließbänder, für die Fertigungshallen und Routinejobs an Kassen und Countern.

Wer sich nach dem Überleben von 13 Schuljahren mit inhaltsleeren, sterbenslangweiligen Geschichten aus dem Cornelsen-Kabinett in eine der zumeist technologisch längst überflüssigen Stellen vermittelt wird und sich damit nicht identifiziert, gar in Drogen flieht, hat ADHS, ist krank. Heitere Eltern präsentieren Kinder, die fit gemacht wurden für das Stahlbad aus „work hard, play hard“. Man gibt ihnen ein Smartphone mit vorinstallierten und teilweise gar nicht mehr löschbaren Medienplattformen wie Spotify, Youtube, Tiktok, Instagram, etc., nötigt ihnen dann noch ein I-Pad auf für den Schulunterricht auf, auf dem die gleichen Apps vorinstalliert sind, und dann wundert man sich, dass sie im Französischunterricht „Clash of Clans“ oder „Brawlstars“ spielen und keine Zweien schreiben.

Dass Menschen an vermeintlichen Routineaufgaben Widerstände erwachsen, ist nicht individueller Pathologie geschuldet, sondern unter Umständen einem klaren oder unbewussten Erkennen der bösen Nachlässigkeit von Formulierungen, Formularen, Ämtern, Schulbetrieb, kurzum: den Pathologien des Systems. Wo eine vermeintlich „gesteigerte“ Empathie als „Zeichen“ gilt, wird nur verschleiert, wie eiskalt und menschenfeindlich der Betrieb einer Verwaltung über Menschen als Fälle und Schülerinnen regiert. Dass im (selbstschädigenden) Verweigern von Handlungen, die anderen selbstverständlich sind, eine Form der Erkenntnis liegt, eine Treue zur Wahrheit, dass hier die geknechtete Kreatur aufschreit und sich Ambivalenz und Spannung beibehält, wo Reibungslosigkeit und widerstandslose Mitmachkultur vorgeschrieben sind, kommt nicht im Ansatz zum Vorschein. Selbst wo Menschen mit ihrer Diagnose ohne Medikation leben und sich damit versöhnen, werden sie sofort dazu gedrängt, die Vorteile für das System zu feiern: ADHS helfe auch, nach Prokrastinion in kürzester Zeit intensivste Arbeiten zu vollziehen, sich mit vielen Dingen gleichzeitig zu befassen, oder wie Hirschhausen: einfach Arzt UND Comedian UND Bestsellerautor zu werden.

An der Diagnose verschwindet die Frage nach dem Sinn des Bestehenden, in dem Menschen Symptome zeigen, nach dem Anderen, das möglich wäre, nach dem Abflauen von Angst vor Klima, Krieg, Ausbeutung im Allgemeinen. Bürgerliche Gesellschaft geht tatsächlich in Gefängnisse und behandelt dort ADHS, damit Gefangene keine Drogen mehr nehmen – anstatt Gefängnisse als Symptom zu entlarven oder Drogenkonsum von Kriminalität zu entkoppeln und Sucht als Krankheit zu sehen, deren physiologische Gewalt jeden Widerstand einreißen kann.

Aus der eigentlich richtigen Frage „Haben jetzt alle ADHS?“ entsteht keine Kritik. Die einen schämen sich dafür, dass sie die Steuererklärung nicht abgeben, die anderen können sich eine Steuerberaterin leisten. Die einen haben Schuldgefühle, dass ihr Alltag nicht so „smooth“ gelingt, die anderen haben Managerinnen, Agentinnen, Sekretärinnen, die ihnen den Alltag organisieren oder sie stehen an gnadenlosen Stechuhren, gefangen im Stahlgerüst der Arbeitskultur, aus dem dann einzig Somatisierung oder ein Arbeitsunfall Auslass gewährt. Die Diagnose entsteht daher primär aus den „Problemen“, die eine Person erfährt. Und diese Probleme werden nicht analytisch aufgearbeitet, sondern naturalisiert. Es gibt eben Probleme, und die neurodiverse Struktur einer Person wird behandelt, anstatt das Problem tatsächlich zu benennen und damit in seiner Lächerlichkeit auch zu entlarven.

Ein Schulbuch beispielsweise entspringt eben nicht dem Reich der Freiheit und Notwendigkeit. Da sind die Geschichten von Sally und Ron durch Filter von konservativen Juries hindurch zu Manifesten der Anpassung geronnen. Da findet Birgit mit anderen Kindern einen Schatz und muss ihn der reichen Hausbesitzerin übergeben, und der Hund, der daran maßgeblich beteiligt war, erhält eine Münze davon für Hundefutter. Da kommt der Onkel zu Besuch und es gibt doch tatsächlich Pudding. Da macht man eine Klassenfahrt nach Snowdonia und alles ist prima. Und am Ende wird getestet, ob man auch alles behalten habe: dass es Daniel war, dem der Schnee so gefallen hat, dass der Hund braun war, dass das Hundefutter 3 Pfund kostete, dass Clara die Rosemary mag und dass Onkel William funny ist, weil er kalten Pudding mag und dass es drei Formen von if-clauses gibt.
Wer in diesem Treibsand aus Kitsch und Dressur mit Füßen scharrt oder gar zu strampeln beginnt, wird für krank erklärt. Das ist vielleicht nicht die Absicht, aber der Effekt solcher Dokumentationen.
Lediglich an einem Punkt wird der Film ehrlich: Als die Mutter angibt, man habe das ausprobiert und „keinen Tag bereut.“
Die Tochter unterbricht: „Ich schon. Ich hasse das.“

Und vor dem Szenario der drohenden „Folgeerkrankungen“ erklärt der Film dann Finnja, die das alles „kacke“ findet, dass sie in Wirklichkeit brutales „Glück gehabt habe“:

So gibt der Film Eltern und dem von ihnen verinnerlichten System recht und entzieht dem Widerstand der Tochter, ihrer Unzufriedenheit, einfach die Solidarität und die Empathie, die sie tatsächlich vor Depressionen schützen könnten. Diese Parteinahme für das System, in dem Menschen erst auffällig werden, die in anderen Kulturen und Systemen kein Problem gehabt hätten, verrät vieles über die Beschränktheit psychomedizinischer Praxis heute.

Mit Atomkraft zum Klimazid

Die Erklärung der COP28 zur Atomkraft ist ein weiterer Tiefpunkt menschlicher Zivilisation. Im Angesicht der vollständigen Auslöschung mariner Riffe und tropischer Regenwälder durch 2-Grad-Plus im Jahr 2050, sowie 3-4,5 Grad plus im Jahr 2100, mit einem Anstieg des Meeresspiegels um dann zwei Meter fällt den Verantwortlichen nichts Besseres ein, als die Leistung der Atomkraft bis 2050 „zu verdreifachen“.
Schon in der Einleitung erfolgt die erste Lüge: „keeping the 1.5-degree goal within reach“. Wer noch vom 1,5-Grad-Ziel redet, ist ahnungslos oder harter Klimaleugner. 1,5 Grad werden aller Wahrscheinlichkeit nach im Jahr 2027 erreicht, also in drei Jahren. Der CO2-Ausstoß in diesem Jahr war ein neuer Rekordwert: 40,2 Milliarden Tonnen. Nichts deutet darauf hin, dass dieser Wert in den kommenden Jahren sinken würde. Dieses CO2 wird erst in vielen Jahren in den oberen Schichten der Atmosphäre ankommen und dort Infrarotstrahlung auf die Erde zurückreflektieren. Auch wenn die Puffer in den Weltmeeren aufgebraucht sind, bleibt das System so träge, dass das Klima in 10 Jahren durch unsere Aktivitäten heute schon feststeht – und dass sich (bislang unwahrscheinliche) netto und global positive Änderungen allerfrühestens in 10 Jahren bemerkbar machen, vermutlich aber wesentlich später.


Atomkraft erzeugt derzeit ca. 10% des weltweiten Strombedarfs, und nur 2% des Primärenergiebedarfs. Diesen Anteil zu verdreifachen wird nichts am krachenden und gewollten Scheitern von 1,5- und 2-Grad-Limits ändern. Nachdem die EU auf Drängen Frankreichs unter dem Reaktionär Macron Nuklearenergie als „nachhaltig“ verklärte, folgen nun auch Teile der internationalen „Gemeinschaft“ diesem Ruf nach der vermutlich teuersten Art und Weise, Energie zu produzieren. Die Erklärung liefert ein paar „Bekenntnisse“ zur Bedeutung von sicheren Versorgungsketten ab, widmet einen Viertelsatz der bislang unabgegoltenen Entsorgung, schwafelt etwas von neuen Reaktoren und Sicherheit, während Pakistan und Nordkorea ungehindert Atomwaffen erlangen konnten und der Iran auf dem besten Weg dazu ist, 40% der Brennstäbe aus Russland kommen und die Kosten und Risiken in allen Nuklear-Staaten auf die Gesellschaft abgewälzt werden. Atomkraft ist in diesen Zuständen nichts als eine Taktik, die Diversifizierung der Energieversorgung zu blockieren und die Netze zu verstopfen und Energiesparmaßnahmen zu sabotieren. Um das gigantische Speicherproblem der auf Dauerlast laufenden Reaktoren zu lösen, wurde der Nachtstromtarif erfunden, Strom in ineffizienten Nachtspeicherheizungen verklappt und in Leuchtreklamenwüsten verschleudert. Atomkraft hat nicht im Geringsten mit dem Ausbau der Kohlekraftwerke konkurriert. An keiner Stelle war das Argument, ohne ein Atomkraftwerk müssten klimaschädliche Kohlekraftwerke gebaut werden. Atomkraft wurde in Frankreich, USA und GB primär gefördert, um Plutonium für Nuklearwaffen zu erbrüten und war ohne die Nuklearwaffenproduktion nicht denkbar.

Während die Atomkraftwerke in Frankreich in den Dürren der letzten Jahre noch nicht einmal „Zitterstrom“ lieferten, sondern wochenlang auch mal gar nichts, während der Sanierungsstau schon nicht planbar ist und der Neubau von gerade einmal zwei Atomkraftwerken in England und Finnland Jahrzehnte dauerte und alle Plankosten sprengte, hat die Photovoltaik alle paar Monate technologische Fortschritte verzeichnet. Photovoltaik-Techniker geben oft keine Kostenvoranschläge mehr, weil die Preise und Anlagentypen sich praktisch alle sechs Monate revolutionieren. Auf FFPV ist eine massive ökologische Aufwertung der Fläche bei möglich, so dass die Flächeneffizienz im Vergleich zu anderen Energieformen legendär ist. Bislang ist im Sommer eine Tagstromversorgung zu 100% aus Photovoltaik realisierbar, mit aktuell technisch möglichen Speicherbatterie-Anlagen auch bis weit in die Übergangszeit hinein. Freiflächen- Solarthermie ergänzt z.B. in Greifswald die Wärmeproduktion dort, wo nicht elektrifiziert werden kann. Die ergänzende Kombination mit Hackschnitzelverfeuerung ist allemal flächeneffizienter als die barbarisch ineffiziente Verstromung von Energiepflanzen in Biogasanlagen.

Der derzeitige Primärenergiebedarf wird sich aber kaum mit irgendeiner Energieform nachhaltig decken lassen. Auch wenn trotz Fachkräftemangels eine „Wärmewende“ gelingen sollte und die Umstellung des Erdölbasierten Verkehrssektors auf Strom irgend realisierbar würde, bliebe es eine freche Lüge, von „Netto-Null-Ausstoß“ zu sprechen, ohne eine Planwirtschaft und umfassende Umwälzungen von Wohnkultur und Konsum zu denken. Eine industrialisierte Gesellschaft mit Verdoppelungsraten ihrer Warenproduktion binnen 24-36 Jahren (bei 3% bzw 2% Wirtschaftswachstum) wird CO2 ausstoßen und Natur vernutzen und beides immer mehr. Alles Gerede von „Kreislaufwirtschaft“ ist Schönfärberei in einem kapitalistischen System, das von Planwirtschaft nicht einmal im Angesichts des Untergangs der Menschheit etwas wissen will.

Und dieser Untergang ist nicht sprichwörtlich, sondern real: Bangladesch und weite Teile Ozeaniens werden bei 2m Meeresspiegelanstieg praktisch verschwinden, die Niederlande und viele reiche Flachmeer-Anrainer (Nordsee, Ostsee, etc.) nur unter immensen Kosten für Pumpwerke, Schleusen, Deiche noch eine Zeitlang aushalten können. 3 oder 4 Grad im Jahr 2100 bedeuten einen Fall aller kritischer Kipppunkte und damit eine weitere Erhitzung in den folgenden Jahrhunderten.
Megafluten sind bei den Meerwassertemperaturen bei 2-Grad-Plus ebenso wahrscheinlich wie Megadürren und beide werden im dichten Wechsel erfolgen, Wälder unter Hitzestress absterben und Seen in Windeseile verdunsten lassen. Die Klimakatastrophe ist vom Mord an hunderten Millionen Menschen nicht zu trennen. Da die Folgen seit Jahrzehnten bestens bekannt sind und die Ursache einer wachstumsgetriebenen, sprich: kapitalistischen Gesellschaft selbst dem konservativen Club of Rome schon seit 60 Jahren bewusst gewesen sind, ist von einem bewussten, kriminellen Handeln unzähliger Beteiligter auszugehen. Es ist jedem mit Basisschulbildung offensichtlich, was Hitzewellen von 40 Grad bedeuten für proteinbasiertes Leben, das bei 40 Grad an denaturierten Proteinen verendet oder Organe durch Regulierung unter Dauerstress vernutzt. Wer bei 40 Grad Fieber ärztlichen Beistand sucht, hat ausreichend Bildungshorizont, um zu verstehen, was 40 Grad Hitzewellen für den Körper bedeuten. Es ist jedem klar, dass sich in Städten und Staaten mit regelmäßigen Hitzewellen von 50, 60 Grad nicht mehr leben lässt, dass also weite Teile der Tropen und Subtropen unbewohnbar werden und die Menschen dort zu Millionen umkommen werden. Auf diese Probleme mit einer Verdreifachung der Atomkraft zu antworten, ist nichts als ein weiteres Bekenntnis zum dreisten Mord an hunderten von Millionen von Opfern der Klimakatastrophe, es ist praktizierte Menschenfeindlichkeit.

Windkraftpotentiale neuer großer Anlagen liegen derzeit bei 16MW pro Offshore-Anlage und eine durchschnittliche Nennleistung ist bei den derzeitigen Anlagenhöhen von 200 Metern auch im Dauerbetrieb lieferbar. Onshore liegt die Leistung bei 3 MW. Atomkraftwerke liefern gerade einmal 500-1500GW je nach Größe. Das bedeutet, 100 der neuesten Offshore-Windräder oder 3-500 aktuell übliche Onshore-Windräder ersetzen ein Atomkraftwerk – zu einem Bruchteil des Preises und ohne Entsorgungskosten. Natürlich benötigen Windräder Schmiermittel, u.U. Heizsysteme um Vereisung zu verhindern und seltene Erden, um die Magneten bei den im Offshore-Betrieb anfallenden Temperaturen stabil zu halten. Aber was benötigt ein Atomkraftwerk nicht alles an Material für Verschleißteile, Hochleistungsstahl, Spezialwerkstoffe, Beton für Kühltürme, Reaktorblöcke, Abklingbecken…
In den Rechnungen der CO2-Bilanz ist nicht enthalten der Abbau, die Umwälzung von gigantischen Abraumhalden, die als Ewigkeitsaufgabe Schwermetalle und radioaktive Stoffe in die Umwelt entlassen. Es ist nicht enthalten die Aufarbeitung des Uranerzes bis zum Brennstab sowie die ungelöste Entsorgung. Das alles gibt es nicht zum CO2-Nulltarif.

Die Atomkraft wird personengleich von Klimaleugnern beworben, nicht weil sie tatsächlich CO2-neutral wäre, sondern weil sie den Prozess des Klimazids unter der Flagge der „Netto-CO-Neutralität“ weiterzuführen verspricht. Solange von CO2-Ausstoß an allen Teilen der Produktionskette weißgewaschene Atomkraftwerke für das Jahr 2045 geplant werden, können anderweitige Aktivitäten als überflüssig, oder eleganter: als „zu teuer“ geframed werden.

Was müsste tatsächlich erfolgen, um die Klimakatastrophe entscheidend abzubremsen und ungefähr im Jahr 2100 zu stoppen? In aller Kürze: eine demokratisch organisierte Planwirtschaft.

  1. Reduktion der Diversität der globalen Waren-Produktion auf das Notwendigste durch einen demokratischen Warenbeurteilungsprozess, in dem jeder Warentyp auf seine Notwendigkeit hin vorab geprüft wird und nicht durch die Manipulationen eines Marktes aufgeschwatzt wird.
  2. Reduktion der Masse der globalen Warenproduktion auf das Notwendigste durch einen demokratischen Verteilungsprozess, der eine Lieferökonomie nach Zuteilungsschlüsseln beinhaltet, dadurch Wegfall der autozentrierten und impulsgesteuerten Einkaufskultur und dadurch Entfall zahlloser Verpackungszwänge und Verbauungen.
  3. Verbesserung der Qualität der globalen Warenproduktion durch Wegfall von Obsoleszenz, Redundanz, verbesserte Reperaturfähigkeit und Langlebigkeit, entfallende Verschrottung aufgrund von Stilfragen, die als manipuliertes Bedürfnis erkannt werden.
  4. Änderung der Arbeitskultur durch Streichung jedweder überflüssigen Arbeit, dadurch massive Freisetzung von Arbeit, Wegfall des Prinzips allseitiger Konkurrenz, Linderung zahlloser Stressreaktionen und Ventilreaktionen (Urlaubseffizienz, Shopping, Leistungssport, etc.), Reduktion des Flächenverbrauchs für Büros und Fabriken, dadurch Möglichkeit der Rekultivierung von Land und Umnutzung von Gebäuden.
  5. Umstellung der Wohnkultur hin zu kollektiven Wohnformen, um Wärmeenergie in Gebäuden möglichst effizient zu nutzen: Anschluss von Einfamilienhäusern zu Reihenhäusern und Umbau zu mehrstöckigen Häuserblöcken im Plusenergieprinzip mit Dachgewächshäusern, Solarfronten und Verstromung und Verkompostierung der anfallenden Fäkalienmengen.
  6. Renaturierung freiwerdender Flächen, Wiedervernässung von Feuchtgebieten, Renaturierung von Flüssen, Wiederaufforstung von Berg- und Tropenwäldern, Karsten und versalzten Agrarflächen.
  7. Energiegewinnung durch PV, Wind, Erdwärme und Verstromung anfallender organischer Reststoffe.
  8. Nahrungsmittelproduktion nach Plan und Bestellung anstatt die Lebensmittel auf Marktrisiken hin in ein Wegwerfsystem bei Maximalversorgung in den reichen Staaten zu werfen.
  9. Dafür nun einmal notwendig: gesellschaftliche Kontrolle der Produktionsmittel.
  10. Dafür nun einmal notwendig, um den Rückfall einer Planwirtschaft in autoritäre, massenmörderische Sklaverei nach den realsozialistischen bis rotfaschistischen Experimenten zu verhindern: Demokratie bei garantierter Sicherheit vor Folter, Sklaverei, Zwangsarbeit und Todesstrafe, garantierter Wahrung von Rechten von Frauen, Minderheiten, Alten, Schwachen, Kindern. Historische sozialistische Planwirtschaften hatten drei Hauptprobleme: Esoterische Antiwissenschaft in der Lebensmittelproduktion (Lyssenko), Identifikation mit dem Wachstumszwang der kapitalistischen Staaten und dadurch massive Umweltschäden (Aralsee) sowie den Terror gegen die Arbeitenden insbesondere in der Landwirtschaft. Beides waren serielle, aber keine notwendigen Folgen einer Planwirtschaft.
  11. Daher beim gegenwärtigen Stand des gesellschaftlichen Bewusstseins vollständige Unwahrscheinlichkeit, der Klimakatastrophe auch nur irgend signifikant entgegenzuwirken.
  12. Daher die Notwendigkeit von progressiver Politik, Menschen auf die Katastrophen ehrlich vorzubereiten, den Untergang von Zivilisation als wahrscheinlichsten Fall des weiteren Geschichtsverlaufs zu planen und die Faschisierung, den durch die Abschottung der EU, Australiens und den USA im vollen Gang befindlichen aktiven Millionenmord an den Überlebenden des Klimazids aufzuhalten oder zumindest den vergeblichen Widerstand dagegen zu organisieren, wo es geht.
  13. Daher die Pflicht, den konservativen, liberalen, sozialdemokratischen und grünen Schönfärbereien und freudig dahingelächelten Lügen an jeder Stelle und aufs Grimmigste das verleugnete Wachstumsproblem vorzuhalten, um den unverschämtesten Ideologien den Dünger der Achtlosigkeit zu entziehen und die Beteiligung am ökonomisch organisierten Verbrechen gegen die Menschheit und die Möglichkeit von Zivilisation als solche zu benennen.

Zur habituellen Gleichgewichtsstörung von Männern

Bei Höflichkeitsgesprächen lässt sich insbesondere bei jungen Männern gern ein Schwanken beobachten, das einem kuriosen Rhythmus aus Ausweichbewegungen und Zuwendungsgesten zu bestehen scheint. Wedeln mit bezigaretteten Händen oder Durchfahren der Haare ähneln Versuchen des Festhaltens in freiem Fall. Vernünftelndes Abwägen wird mit Kopfneigungen aller Art simuliert, doch letztlich bleibt der Eindruck einer tiefen Verunsicherung ob der Ambivalenz der Begegnung haften: als schiene sich das Individuum uneins, der Fluchttendenz in die Ferne nachzugeben oder der vor der Einsamkeit weg in eine unliebsame Konversation hinein, die meist nur aus starren Hülsen pathischer Kommunikation besteht: Wie gehts, Ja geht so, und bei dir, Alder, alles fit, Arbeit, was, ja scheiße halt, mussja, bis denne, Tschausn, machsgutbruder, Alleskla.

Die Befreiung von jedem Verdacht auf Homoerotik durch hölzern-knarzende Stocksteifigkeit steht in krassem Kontrast zur Behauptung von Dynamik in zunächst raumgreifenden, dann wieder auf Böden oder in die Ferne starrenden, schultern zusammenziehenden Gesten. Und erleichtert bewegen sich die Männer dann auseinander, man hat die peinliche Lage durch Konversation entschärft, schwankt von dannen, eventuell ein Hinken oder ein Schlotterknie oder eine leichte Trunkenheit, die eventuelle Fehler entschuldigen könnte, simulierend, oder mit schlacksigen Beinen etwas mehr Raum erobernd als der Weg zum gar nicht vorhandenen Ziel abverlangen würde.

Sicher ist bei Männern der Schwerpunkt biologisch höher, in Richtung des Brustkorbs gelagert, die Ziellosigkeit der Arme eventuell archaischer Bereitschaft zur Flucht geschuldet. Und doch ist die Neigung zum Schwanken auch so tief in Kultur verankert, dass sie sich noch in Gebetsritualen niederschlägt. Der islamische Fall in die Embryonalstellung und das Wiederaufstehen, der ekstatisch kreiselnde Tanz der Derwische, das „Schokln“ im Judaismus, einer Legende zufolge der tanzenden Flamme einer rituellen Kerze nachempfunden, und im Christentum der Kniefall, das Schaukeln des Turibulums, in afrikanischen Religionen die Trancetänze, die Maskentänze und die Perfektion der Synkope. Wo der Buddhismus die fixierte Position anzustreben scheint, wird doch auch stets gern etwas gebommelt, getrommelt, getrillert oder anderweitig Betriebsames verrichtet. Bewegung muss allenorts in verkrustete Verhältnisse, aber es gelingt nicht, weil es im Experimentierfeld der Kulturen stets im Falschen der Religion und Tradition bleibt, unklare Ziele hat, daneben trifft, nicht die Verhältnisse stürzt, in denen der Einzelne ein verächtliches Wesen, eine geknechtete Kreatur bleibt.

Mütter indes schaukeln ihre Babies und mit ihnen, unbezwingbare, selbsterklärende Vernunft und fester Boden, und es wäre so wahr wie auch viel zu einfach, die Wackeldackelhaftigkeit des Mannes als Regression in diese Position oder neidische Sehnsucht nach dieser Sinngebungsmaschine Mutterschaft zu erklären. Gewackelt wird bei Männern eher aus der Lust an der Vermeidung einer klaren Position zwischen Herrschaft und Unterwerfung heraus. Und vielleicht in einem Zwischenstadium, in dem kulturelle Regeln meist zu Recht ihre Gültigkeit verlieren und von einem Experimentierfeld an Selbsterfindung abgelöst werden, das sich dann massenkulturell wieder an Vorbildern orientiert. In den üblichen Begegnungen mit Handschlag irgendeiner Art, nervös-arbeitssamen Ziehen an Zigaretten oder Paffen an elektrischen Pfeifen, paaren sich internalisierte Arbeitsrhythmen mit der Angst, durch eine aufrechte Position Dominanz auszustrahlen, die wiederum als Aufforderung zur Gegendominanz gelten könnte. Das hat weniger mit äffischen, tierhaften, als Hackordnung zu häufig abgetanen Hierarchien zu tun, als mit der Demokratie. Wo in der bürgerlichen Produktionsweise jeder sein eigener Herr sein könnte, es unter der Herrschaft des automatischen Subjekts aber niemand wirklich ist, bleibt alles ein Ausloten des aktuellen Standes des Waffenstillstandes in allseitiger Konkurrenz. Prinzipiell zur Selbstbestimmung befähigt zu sein und doch täglich ein Sklave ohne Kenntnis seines Herrn und Zieles, im Bewusstsein der eigenen Beteiligung an der Selbstausbeutung, der Unfähigkeit, sich zu organisieren mit den Anderen, bei gleichzeitigem Zwang dazu, überfordert und treibt in jene fragile Männlichkeit, die sich an der Unterwerfung Anderer oder von Material und Dingen beweisen muss. Nur konsequent flüchten sich die Hikikomoris in die Isolation, Angst vor der eigenen Wut auf Alles, zivilisatorisches Gegenstück zum Amoklauf.

Nicht das fragile ist dabei kritikabel, nicht das Schwanken in Ambivalenz, sondern die Verdrängung dessen, die Behauptung der Absenz von Fragilität, die Illusion von Statik und Stabilität. Echte Männer lesen das, Survival in der kanadischen Hütte, wie man sich einen Langbogen baut, sei nicht nur frauensammelnder Alpha, sei frauenverschmähender Sigma, kaufe jetzt wieder einen Elektrogrill, kaufe nie diese Werkzeuge, hier siehst du wie man wirklich mit Klimaklebern umzuspringen hat, dort sind die Schwachen, die Unterlegen, das arbeitsscheue Pack, das du nicht bist, hier hast du den Kitsch, mit dem du menschliche Emotionen simulieren kannst, und so weiter flüstern die Shorts und Clips auf das Subjekt ein.

„Cope!“ wird zur Beleidigung par excellence. Wer immer sich beschwert, sich anderer Emotion verdächtig macht als den auf Schwache kanalisierten Aggress, solle klarkommen, copen. Was liegt näher, als der großen Verunsicherung Klarheit der Rollen entgegen zu setzen, die submissive Frau mit ihren Haushaltstricks wiederzubeleben und den bärtigen Vierschrötler mit seiner Werkbank, von verlorener „Gesundheit“ und „Normalität“ träumend. A man has to be ugly and fearsome. Und er hat zu schwanken, am Abgrund, an dem Menschheit steht, denn der dünne Firnis der Zivilisation trägt ihn nicht, gibt ihm keine Antwort, wie diese zum Nichtfrausein verdammte Existenz geht, in der die einen die Angleichung an den vormanipulierten weiblichen Charakter als Subversion bewerben, eine insgeheim misogyne Beleidigung und Verspottung derer, die ihn tragen, während die Anderen die Kastration der Schwachen anempfehlen; in der Menschsein unmöglich, krank unnormal zu sein scheint und es politisch allgemein Mode wird, als Kühltruhe seiner Emotionen umherzuwandeln, nur um die eigene Angst und Leere durch die Vernunft des Mitmachens zu bannen.

WOYZECK. Es geht hinter mir, unter mir Stampft auf den Boden. hohl, hörst du? Alles hohl da unten. Die Freimaurer!

ANDRES. Ich fürcht mich.

WOYZECK. S‘ ist so kurios still. Man möcht den Athem halten. Andres!

ANDRES. Was?

WOYZECK. Red was!


Abschied von der Biodiversität und die Perspektiven einer Planwirtschaft in einer RCP 8,5-Welt

Das Ende der schönen Natur zu proklamieren, während doch alles in Saft zu strotzen scheint, macht sich der Arroganz verdächtig. Ein wissenschaftsfeindliches Kleinbürgertum, das religiöse Prophezeihungen und Vorhersagen aufgrund von extrapolierten Daten und von logischen Schlüssen nicht auseinanderhalten kann und will, schämt Wissenschaftler in einen Daten-Konservativismus hinein, der jeden Alarmismus vermeiden muss und will. So war es nicht überraschend, dass die Klimawissenschaften von der Prognose 1,5-Grad zwischen 2027 und 2035 überrascht waren – dass es also schneller geht als von den Modellen vorhergesagt. Das ist sehr einfach erklärbar aus der Multifaktorialität der Klimakatastrophe, die selbst die besten Computermodelle nicht simulieren können. Zwar werden diese getestet an Daten der Vergangenheit und dahingehend sind sie sehr präzise. Sie können aber nur mit bekannten Daten gefüttert werden. Alle bislang noch (teilweise) unbekannten, unerforschten Faktoren müssen zwangsläufig aus den Simulationen entfallen. Dazu zählen unter anderem der Permafrost, der Ozean insbesondere in der Tiefe, nicht in den CO2-Ausstoß eingerechnete Erdgaslecks oder andere Quellen für Treibhausgase und das Zurücksterben von Regenwäldern. Die vergangenen Klimaereignisse – Milankowitsch-Zyklen, Vulkanausbrüche, etc. – betrafen eine weitgehend intakte Natur ohne Raubbau an Schlüsseltierarten (z.B. Wale, Haie) und Rohstoffen. Niemals in der Erdgeschichte wurden gleichzeitig und systematisch sowohl der Ozean leergefischt als auch Torfregenwälder abgefackelt als auch Tundren abgeholzt als auch Moore vernichtet als auch ganze Süßwassermeere (Aralsee, Tschadsee) künstlich durch Entnahme trockengelegt. Das lässt sich nicht konservativ prognostizieren, hier müssen Zuschläge nach oben eingeplant werden, wie sie ja in den „Kipppunkten“ (tipping points) formuliert sind, die in Wahrheit viel zahlreicher sind, als dies vereinfacht dargestellt wird.

Das 1,5 Grad-„Ziel“, das immer schon die Katastrophe war, die heute herrscht, ist längst beerdigt. Die zwei Grad bis 2045 stehen ebenfalls fest. Die exponential ansteigende CO2-Kurve am Mauna Loa weist keinerlei Knick oder Abflauen auf. Diese Kurve ist das, was letztlich über gelungene Politik entscheidet. 8,5RCP (ca. +4 Grad 2100) sind trotz des Rückbaus von Kohlenutzung und des Booms von Photovoltaik und Windkraft eine reale Drohung, wenn nicht für 2100, so doch für die Generation danach, die an den progredierenden Wirkungen leiden wird.

Für die Artenvielfalt ist der Sprung von +2 auf +3 oder +4 von geringerer Bedeutung als der Sprung von 0 auf +2 Grad. Die kommenden drei Jahrzehnte werden von einem massiven Absterben von Korallenriffen geprägt sein und damit 40% des marinen Lebens, die verschwinden oder sich auf Relikte zurückziehen. Ganze Ozeane werden sich zeitweise, zunächst alle Jahrzehnte, dann ständig, in zu warme, sauerstoffarme Zonen verwandeln. Regenwälder trocknen bereits jetzt rapide aus, brennen und hinterlassen einen extrem nährstoffarmen Boden, der erodiert und sich ohne Zwischenstadien in Wüste verwandelt. Schmelzende Gletscher hinterlassen ausgetrocknete Landschaften in den Alpen und anderen Hochgebirgsregionen. Einige wenige euryöke R-Strategen werden sich ausbreiten und dominieren. Über Jahrmillionen diversifizierte Ökosysteme mit ihren hochangepassten, endemischen, stenöken k-Strategen werden verschwinden. Kälteliebende Arten werden sich auf die Bergregionen und Hochmoore zurückziehen und dann auch rasch erlöschen. Wir verlieren das, was wir natürliche Schönheit nennen und was in der Menschheitsgeschichte Kunst, Selbstreflexion an Natur überhaupt ermöglichte. Dieser Verlust ist Ergebnis der dahingehend bestens informierten Politik der letzten zwanzig Jahre und damit Resultat eines geplanten Verbrechens gegen die Menschheit.

Wie kann emanzipatorische, humanistische Politik aussehen, die Gesellschaft auf eine +3-Grad-Welt vorbereitet? Die Entscheidung ist nicht die zwischen einer deregulierten neoliberalen Marktwirtschaft und einer regulierten Marktwirtschaft (Sozialdemokratie). Beide haben ein Wachstum von mindestens 2%, besser 4% als erklärtes Ziel, und damit eine Verdoppelung der Warenströme mindestens alle 36 Jahre (bei 2%), bzw. alle 24 Jahre (bei 3%) – nur wollen die Sozialdemokratien die Arbeiter*innen etwas stärker an diesem Wachstum beteiligen als die neoliberalen Modelle. Daher prognostiziert die OECD auch entsprechende Verdoppelungsraten beim CO2-Ausstoß, bei der Plastikproduktion, beim Müllaufkommen, etc.


Die einzige, notwendige Alternative zur wachstumsbasierten, kapitalistischen Gesellschaft ist die Planwirtschaft. Diese wird zwangsläufig ab irgendeinem Punkt der Klimakatastrophe eintreten. Die größere Wahrscheinlichkeit weist auf eine bürgerlich-faschistische Kriegswirtschaft, die entstandene Mängel autoritär durch Unterdrückung von Revolten, weitreichenden Eingriffen des Staates in die Produktion, Umverteilung von Lebensmitteln und effektiven Massenmord an Geflüchteten löst, ohne die Reichtumsverteilung zugunsten der obersten 5 % anzutasten.
Eine progressive Planwirtschaft bedürfte einer demokratischen Basis und Kontrolle bei der Enteignung und Umverteilung von Reichtum, sowie bei der rationalen Diskussion um Einschränkungen von Überschussproduktion und Rückdrängen manipulierter Scheinbedürfnisse. Diese progressive Planwirtschaft ist derzeit absurd unwahrscheinlich einfach dadurch, dass sie keine einzige demokratische Partei überhaupt diskutiert, während die politischen Splittergruppen, in denen Planwirtschaft noch diskutiert werden kann, in aller Regel ideologisch versteinerte Relikte aus den sozialistischen Planwirtschaften rotfaschistischer Prägung, mit Führerkult, Militarisierung der Gesellschaft, starker Stellung der Geheimdienste, Unterdrückung der Redefreiheit und Anwendung von Folter und Todesstrafe sowie Sklaverei in Gefangenenlagern darstellen.

Eine emanzipatorische, auf humanistischen Prinzipien ruhende Planwirtschaft hat derzeit keine gesellschaftliche Basis in irgendeiner Sichtweite. Um diese Sichtweite überhaupt denkbar herzustellen, sind bereits Zeiträume erforderlich, die von der Dynamik der Klimakatastrophe überrollt werden – und darin noch nicht einmal die Drohung eines Atomkrieges berücksichtigen. Daher kann eine emanzipatorische Politik derzeit nur darin bestehen, die Realität einer mindestens 3-Grad-Welt im Jahr 2100 zur Grundlage zu machen und sich das Problem des dann herrschenden Mangels an Nahrung, Wasser und habitabler Zonen zu vergegenwärtigen. Wer immer noch behauptet, Kommunismus würde in den Luxus führen, ist schlichtweg Klimaleugner*in und hat grundlegende Probleme der Ausbeutung von Natur und Mensch nicht verstanden. Planwirtschaft könnte heute etwas Anderes sein als Elendsverwaltung – sie könnte global binnen zwei Jahrzehnten rationale kollektive Wohnformen in Plusenergie-Reihenhäusern und Archen aufbauen, Kreisläufe der Nutzung von Holz, Metallen, Fäkalien herstellen, die Produktion auf das Nötigste zusammenschrumpfen, freigesetzte Arbeitskraft in die Wiederaufforstung der Regenwälder und Bergwälder sowie die Wiedervernässung investieren, so dass ein klimatischer Effekt eintritt und die Klimakatastrophe bei ca. 2 Grad arretiert und danach zurückgedreht wird.
Aber Planwirtschaft ist nicht heute. Sie ist auch nicht morgen, sondern selbst im optimistischsten Szenario allenfalls 2100 überhaupt denkbar, nach nur zwei Generationen Aufbauarbeit gegen alle Widerstände und Widrigkeiten, zu denen algorithmisch rechtsgedrallte Onlinemedien ebenso wie faschistische, nuklear bewaffnete Diktaturen in Russland, Nordkorea und China sowie erstarkende faschistische Parteien im Westen gehören. Der Zivilisation als solcher sind nur marginale Chancen ins Stammbuch zu schreiben.



Der russische Krieg gegen die russischen Soldaten

Die Hauptfrage des Krieges in der Ukraine war nie, warum die Ukrainische Armee weiterkämpft. Immer stärker rückt aber die Frage in den Vordergrund, warum die russischen Soldaten trotz ihrer katastrophalen Verluste weiterkämpfen und noch immer in sinnlose Offensiven in der Stadt Marinka und in Richtung Kupiansk stürmen. Mit erbeuteten Waschmaschinen lässt sich das längst nicht mehr erklären. Die Zahl der getöteten russischen Soldaten wird von der ukrainischen Armee auf 270.000 datiert, die der Verwundeten auf 800.000. Täglich neue Aufnahmen von Schlägen aus Raketen und Drohnen und die auf der Plattform www.oryxspioenkop.com gesammelten Nachweise aus Fotos mit Geodaten legen nahe, dass sich die von der Ukrainischen Armee gelieferten Angaben trotz einer für Propaganda naturgemäßen Übersteigerung wesentlich näher an der Realität bewegen, als die Zahlen der russischen Militärpropaganda.
70 Prozent der Verluste auf beiden Seiten gehen auf Artillerie zurück und das von der NATO fast vergessene Artillerieduell erfährt daher eine neue Rolle in der Kriegsführung und -planung. Dahingehend konnte die russische Militärdoktrin ihre artilleriezentrierte Rüstungsindustrie voll ausnutzen und aus ihren fast unerschöpflichen Lagern mehr als 20.000 unpräzise Geschosse pro Tag abfeuern, während die Ukrainische Armee wesentlich präzisere Maschinerie nutzen kann, aber die ständige Munitionsknappheit beklagt. Diese Knappheit macht damit allen NATO-Staaten zu schaffen. (https://www.youtube.com/watch?v=3gbc-v6TGfE, https://www.youtube.com/watch?v=wRtYyjvYTWk&t=71s) Zudem sind vor allem die Rohre der Waffensysteme nur auf einige hundert bis wenige tausend Feuervorgänge ausgelegt und werden von der ukrainischen Armee vollkommen vernutzt, weil sich ein Austausch in dieser Zahl nicht realisieren lässt.

Russland wiederum hat inzwischen nicht nur einen Großteil der nutzbaren Artilleriemunition verbraucht und Maschinerie verschlissen, es hat die Hälfte seiner Artillerie und Panzer verloren und seinen Kriegseinsatz auf 100 Milliarden pro Jahr erhöht, etwa ein Drittel des Staatshaushaltes von 340 Milliarden. (https://www.reuters.com/investigates/special-report/ukraine-crisis-intercepts/) Das wird Russland absehbar in den Staatsbankrott führen, in den Ruin der öffentlichen Infrastruktur, des Sozialwesens, des Medizin- und Bildungssystems. Das bedeutet, dass der imperialistische Faschismus Putin’scher Prägung Verbrechen gegen die russische Gesellschaft ebenso einplant wie seine notorischen Kriegsverbrechen in der Ukraine und nur mit einer langfristigen Verarmung der russischen Gesellschaft und Massenflucht zu rechnen ist.

Das Vabanque-Spiel um die rasche Eroberung und Annexion der Ukraine als russifizierter Vasallenstaat und umzuverteilende Beute für Oligarchen, Militärs und auch für die Petit-Bourgeoisie mit dem Wunsch nach einer geraubten Ferienwohnung auf der Krim, wurde bekanntermaßen von der ukrainischen Armee und Partisanen, darunter jene kampferprobten Elemente aus dem rechtsradikalen, neonationalistischen Lager (1, 2, 3) vereitelt. Dennoch konnte die russische Armee durch den Überfall genug Rohstoffquellen und Ackerland erobern, um auch die aktuellen Verluste noch als Investment für diese Beute rationalisieren zu können. Die vollständige Kontrolle über das Asowsche Meer und die Bedeutung der Marinebasis Sevastopol tragen zur Rationalisierung bei und lassen befürchten, dass das System Putin dafür noch wesentlich mehr Soldaten opfern wird.
Derweil legen Mitschnitte von Militärpersonal nahe, dass es noch einen zweiten, zynischeren Grund für den verschwenderischen Umgang mit Soldaten gibt: Eugenik. „Sie entsorgen uns einfach“, empört sich ein Soldat. Ein anderer sagt, im zukünftigen Russland werde offene Sklaverei herrschen. In der russischen Geschichte ist die Dezimierung der eigenen Gesellschaft durch Gefangenenlager und Kriege Teil der nationalen Kultur. Durch die Dezimierung kann ein Zuwachs an Wohlstand durch Umverteilung von Beute simuliert werden. Die entstehende Angst und Frustration sucht sich ihre Kanäle über häusliche Gewalt, Alkoholismus und in der Armee durch die Dedovshchina: Systematische Gewalt und extreme Ausbeutung entlang der Hackordnung.

Im russischen Suprematismus lebt zudem die Verachtung für ehemals kolonialisierte Gesellschaften fort. Die russische Armee opfert daher in der Ukraine primär die Angehörigen ethnischer Minderheiten und ködert mit Belohnungen vor allem die ärmsten Schichten der Gesellschaft. Etwa 40.000 Euro verspricht Putin der Familie eines getöteten Soldaten bislang. Allerdings wird diese Summe häufig nicht ausgezahlt, weil die realen Verluste verheimlicht werden. Das russische System ist den Oligarchen und den Befehlshabern der Armee verpflichtet, nicht jedoch den Armen. Daraus entsteht der eugenische Charakter der russischen Kriegsführung, ein Zug, der den meisten Armeen strukturell eigen ist, der im russischen Chauvinismus jedoch sehr ausgeprägt zutage tritt. Zuletzt wurde von einem russischen Kriegsgefangenen in Robotyne erneut von koordiniertem russischem Artilleriefeuer gegen sich zurückziehende russische Einheiten berichtet.
Den Soldaten bleibt das nicht verborgen und in der Geschichte sind unterschiedliche Reaktionen darauf verbürgt, von der Desertion bis hin zur Meuterei. Im Vietnamkrieg wurde das „Fragging“ unbeliebter Kommandeure in über 1000 Fällen dokumentiert. Unter russischen Soldaten äußert sich die Aggression gegen Vorgesetzte bislang eher autoaggressiv, als exzessiver Alkoholkonsum und Apathie.

Die russischen Soldaten, die verstanden haben, dass sie verachtet werden, melden sich über Chats und Telefonnummern bei der ukrainischen Armee, um ihr Überlaufen zu verhandeln. Im Falle eines Überlaufens können sie entweder Asyl beantragen oder ihren Austausch mit ukrainischen Kriegsgefangenen. Kriegsverbrechen gegen russische Kriegsgefangene, vor allem Exekution und Folter sind bislang in 50 Fällen dokumentiert, eine für solche Konflikte sehr niedrige Zahl, die für eine hohe Disziplin unter den ukrainischen Truppen spricht. Dem gegenüber stehen die massiven, systematischen und seriellen Kriegsverbrechen der russischen Armee.

Der Frontverlauf scheint nach wie vor nur geringfügig verändert, was die hohe Motivation ukrainischer Truppen erklärungsbedürftig machen würde. Jedoch waren die Schlachten um Robotyne, Staromajorske und Klischivka von einem Abnutzungskrieg tief in den besetzten Gebieten begleitet, bei dem rotierende Truppen, Munitionsdepots und jegliche Lastwagenlieferungen von der ukrainischen Artillerie, von Drohnen und Raketen systematisch zerstört wurden. Gleichzeitig hat man nun an mehreren zentralen Stellen mit Wärmebildkameras und Minenräumsystemen die extrem dichten Minenfelder überwunden. Die extrem verzögerte Lieferung von Kampfflugzeugen und das in NATO-Staaten bereits beobachtbare Training der Pilot*innen wird im ersten Quartal 2024 einsetzen und dadurch wesentlich tiefere Schläge der Luftwaffe ermöglichen. Daraus resultiert der Optimismus der ukrainischen Armee, noch im Herbst größere Geländegewinne in Richtung Tokmak, Melitopol, Berdiansk und Mariupol zu erzielen und dadurch die logistischen Versorgungsrouten zu kappen, sowie Bakhmut einzukesseln, und dann im Frühjahr und Sommer des kommenden Jahres mit voller Luftunterstützung den Keil zu öffnen und eventuell schon im Sommer auf der Krim zu landen und dort einen Brückenkopf auszubauen.

Selenskyjs Zustimmungsraten und die Stärke seiner integrativen Regierung mit einem jüdischen Präsidenten und nun einem muslimischen Krimtartaren als Verteidigungsminister sowie die Integration internationaler Freiwilligenkämpfer aus dem eher bürgerlichen Lager und die vollständige Orientierung an westlichen Demokratien machen eine mittelfristige Bedrohung der Ukraine durch interne neonazistische Gruppierungen eher unwahrscheinlich. Das strukturell gegen Minderheiten gerichtete Verteidigungsnarrativ der Neonazis ist nun mit einem realen mächtigen Gegner konfrontiert und muss mit dem bürgerlichen Nationalismus eher konkurrieren als dass es diesen auf sein Narrativ verpflichten kann. Der entstandene bürgerliche Nationalismus ist erwartbar eher integrativ und betont in Abgrenzung zu Russland liberale Werte wie Redefreiheit und Pressefreiheit. Die Geflüchteten werden mit ihren Erfahrungen tendenziell zur Liberalisierung der Gesellschaft beitragen. Dennoch bleibt die Ukraine als Hotspot für neonazistische Aktivitäten wie Rekrutierung, Wehrsport und Waffenhandel für ganz Europa ein Problem, wenngleich ein nachrangiges angesichts der viel größeren Faktoren für die beängstigend wachsenden Zustimmungsraten zu rechtsradikalen Parteien in fast allen europäischen Ländern.
Der Zerfall des russischen Wagner-PMC und anderer Söldnertruppen mit engen Bindungen an mafiöse Strukturen, rechtsradikale Parteien und Neonazis lässt einen Machtkampf zwischen russlandorientierten (1, 2) und ukraineorientierten Nazis eher wahrscheinlich werden. In Europa sollten zuallererst die Wahlergebnisse für die von Russland geförderten rechtsradikalen Parteien wie AFD, VOX, FdI, RN, FPÖ, Fidesz und Jobbik äußersten Grund zur Besorgnis geben. Auch hier werden Spaltungen zwischen den russlandskeptischen skandinavischen Rechtsradikalen und den russlandtreuen Parteien sichtbar – auch wenn diese kaum entscheidend sein werden, wo die gemeinsame Feindschaft gegen Nichtweiße und Nicht-Heterosexuelle dominiert. Der russische Faschismus mit seiner Militarisierung bis in die Kindergärten und seiner vollständigen Aufgabe internationaler Reputation bleibt für beide eher ein Vorbild als die ukrainische Demokratie.

Eine bislang unterschätzte Bedrohungssituation aus dem Krieg ist die Entwicklung des Krieges mit kleinen zivilen Drohnen zur Observation und zum Absetzen von kleinen Sprengsätzen und Minen. Diese Entwicklung wird assymetrische Konflikte und insbesondere den Djihadismus absehbar verändern.







Die Ideologieproduktion zum neuen Cannabisgesetz

Der Gesetzentwurf zur Legalisierung von Cannabis liegt vor und produziert Ideologien.
Das Gesetz ist an wichtigen Stellen ein Fortschritt: Privater Konsum wird legal, niemand kann mehr wegen THC im Blut entlassen werden (z.B. Polizisten, Richter, Zollmitarbeiter, etc.). Die Beschaffung allerdings wird ein bürokratisches Monstrum, für das man sich „Cannabis-Clubs“ ausgedacht hat, die höchstens 500 Personen umfasssen dürfen, aber ein Maximum an Kontrollmaßnahmen leisten sollen.
Immerhin: Samenbesitz, -erwerb und der Handel über Grenzen hinweg werden mit §4 rückhaltlos legalisiert.

https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Cannabis/Gesetzentwurf_Cannabis_Kabinett.pdf


Die größte Unklarheit besteht zwischen der Erlaubnis, drei weibliche Pflanzen zum Eigenanbau großziehen zu dürfen, jedoch nur 25 Gramm davon „besitzen“, also lagern zu dürfen. Gewächshauspflanzen können weit über 300 Gramm, in einigen Fällen auch über 1000 Gramm Ertrag bringen. Ein Ertrag von 80-100 Gramm pro Pflanze gilt als untere Grenze der Anbauwürdigkeit einer Sorte. Der Eigenanbau für den regelmäßigen Eigenkonsum wird so unter Kunstlicht gezwungen, um eine ganzjährige Versorgung durch Cannabonsai-Pflanzen zu ermöglichen. 1 Gramm pro Tag ist für Dauerkonsumenten normal. Das bedeutet, alle 25 Tage eine weitere Pflanze erntereif zu haben. Die Ernte kann aber nur nach der Blütenreife stattfinden.
Die drastische Beschränkung von Vorratshaltung und Anbau kann daher zu Mehrkonsum führen. Steht eine Ernte an, müssten rein rechtlich Restbestände rechtzeitig aufgeraucht werden – denn die Entsorgung ist nicht geregelt. Eine Abgabe an andere Personen ist nur im Rahmen der Clubs legal. Diese Clubs werden sich naturgemäß auch entlang politischer Verwerfungslinien bilden – schließlich will nicht jeder in einen Club christkonservativer Cannabiskonsument*innen eintreten.

Trotz der drastischen, rundweg enttäuschenden Einschränkungen wird die Scheinlegalisierung als Bedrohung diskutiert. Auffällig ist, dass sich auch die Befürworter*innen des Gesetzesvorschlags häufig auf die Gleichsetzung mit Alkohol zurückziehen. Ob Gehirnschädigungen bei Jugendlichen, psychische Erkrankungen, Unfälle oder Sucht: Der ritualisierte Satz in den Radios derzeit lautet: „Das gilt aber auch für Alkohol“.

Das ist eine schlechte Defensive. Alkohol hat eine vielfach größere psychische und physische Suchtwirkung und vielfach größere Hospitalisierungs- und Verkehrsunfallszahlen. Nach wie vor ist kein einziger direkter Todesfall durch Cannabiskonsum bekannt – wohl aber durch Spice und synthetische Cannabinoide, die als „Legal High“, Tees und Badesalz vertrieben werden und nichts mehr mit Cannabis oder THC gemein haben.

Cannabis hat nun einmal keine physische Suchtwirkung und nur eine milde psychische, die sich als Gewöhnung beschreiben lässt. Wer aufhören will, hört auf. Dauerkiffer können grantig und suchtig werden, wenn sie keinen Stoff bekommen – was aber auch für Kaffeetrinker gilt, denen der Morgenkaffe verweigert bleibt. Dennoch ist der Schritt in die Verwahrlosung durch Cannabis bislang von einem einzigen Faktor dominiert: Der Schritt in die Beschaffungskriminalität.
Wer Cannabis konsumiert, vernachlässt für gewöhnlich trotzdem nicht Körperpflege und Nahrungsaufnahme. Bei Alkoholiker*innen ist die körperliche Verwahrlosung die Regel. Alkohol schiebt sich in der Bedürfnishierarchie nach oben und zwingt Abhängige dazu, Nahrung, Waschen, etc. hintanzustellen. Dosissteigerung ist die Regel. Das starke Zittern hält bei starken Alkoholikern selbst noch nach dem Konsum von Alkoholmengen an, die eine normale Person volltrunken machen würden.

Bei Cannabis stellt sich auch bei Dauerkonsumenten eine Dosissteigerung nur in Grenzen ein. Auch Dauerkonsumenten werden es kaum je schaffen, mehr als 2 Gramm am Tag dauerhaft zu konsumieren.
Und selbst wenn Sorten wie Bruce Banner, Banana, Gorilla, Critical Kush theoretisch THC-Gehalte von 30% erreichen, entspricht das noch nicht einmal gutem Haschisch. Solche Sorten waren bislang teuer und der Illegalität geschuldet: Hochpotentes Cannabis lässt sich für gleiche Wirkung mit bis zu dreimal geringerem Gewicht schmuggeln und verkaufen, wurde aber gerichtlich häufig einem normal- und niedrigpotenten Cannabis gleichgestellt. Ein Großteil der Konsument*innen wird sich in einem transparenten Markt aus freien Stücken für schwächere, berechenbare Sorten entscheiden und sorgfältiger nach Geschmack aussuchen als nach THC-Gehalt.

Was die Schädigung von Gedächtnis und Gehirn von Jugendlichen angeht, haben Arbeit und ideologische Erziehung ungleich größere Auswirkungen. Auch starker Cannabiskonsum in der Jugend wird den später Erwachsenen weniger schwer zu schaffen machen als etwa der Bildungshintergrund der Eltern oder eine streng religiöse Erziehung, Zugang zu gutem Bildungsmaterial oder die Qualität von Lehrer*innen in der Schule, die der Hauptfaktor für Lernerfolge sind. Die meisten psychischen Schäden treten durch Mischkonsum ein: u.A. durch Alkohol, der von Dauerkiffern als Ersatzdroge verwendet wird, aber auch durch Pilze, unaufgeklärt eingenommene Pflanzendrogen (Engelsblüten, Muskatnuss, Fliegenpilz), Amphetamine oder Cocain. Dauerkiffer sind in der Regel zufrieden mit Cannabis, weil die Wirkung über Jahre hinweg relativ gleich bleibt.

Entgrenzungsängste sind unrealistisch, was Cannabis angeht. Angemessen sind sie bei Alkoholismus. Alkoholikern geht es schlecht, wenn sie nicht mindestens eine Flasche Schnaps am Tag konsumieren. Der Entzug kann Alkoholiker töten. Sie werden durch das Zittern bewegungsunfähig, können nicht mehr Treppen steigen oder Flaschen öffnen, können durch den Entzug Psychosen entwickeln.
Dauerkiffer hören von einem Tag auf den anderen auf zu kiffen, ohne körperliche oder psychische Probleme zu haben.
Nikotin- und Alkoholsucht bleiben jedoch ein Leben lang mit einer Rückfallgefahr behaftet. Wer Nikotin- oder Alkoholsüchtig war, wird immer unter Cravingattacken leiden. Dieses Craving wird von einer ganzen Industrie systematisch ausgebeutet. Gaststätten, Restaurants, Getränkehändler, Brauereien, Discos leben vom Alkoholkonsum. Supermärkte verkaufen nach wie vor Alkohol in Kleinstflaschen an der Kasse als Schnuckware – um Alkoholiker*innen rückfällig zu machen.
An der projektiven „Diskussion“ um die ohnehin schon halbgare „Legalisierung“ von Cannabis redet sich die Bevölkerung primär ihr Alkoholproblem schön.

Ebenso geht unter, dass der generelle Umgang mit Sucht grundsätzlich überholt werden muss und eine Entkriminalisierung von Drogen eine unmittelbare Verbesserung der Situation von Suchtkranken zur Folge hat. Drogenprostitution und Beschaffungskriminalität sind zwei der größten Faktoren, die Suchtkranke in Verelendung treiben. In der Diskussion des Cannabisgesetzes wird nach wie vor nicht annähernd hinreichend thematisiert, wie reaktionär Gesellschaft mit Sucht umgeht und wie kontraproduktiv Kriminalisierung für Suchtkranke ist. Die Legalisierung von Cannabis ist überfällig, weil die Droge um ein vielfaches harmloser und weniger gesundheitsschädlich ist als Alkohol und Nikotin.
Eine wirklich humanistische Drogenpolitik ginge aber nicht nur neoliberal vom egoistischen rekreationalen Konsuminteresse der Einzelnen aus, sondern von der Irrationalität der Kriminalisierung Suchtkranker, die zuallererst bei der Entkriminalisierung und kontrollierten medizinischen Abgabe harter Drogen ansetzen müsste. Drogen wie Amphetamine, Cocain oder Opiate und Opioide greifen tief ins hormonelle System ein und erzeugen eine Suchtwirkung, deren Entzug psychisch in vollständige Depression führt oder körperlich in Folter mit lebensbedrohenden Reaktionsbildungen beim kalten Entzug mündet. Hier muss eine humanistische Gesellschaft Möglichkeiten schaffen, das unmittelbare Craving von nun einmal Suchterkrankten legal zu stillen, um dann in einem zweiten Schritt medizinische Substitutionstherapie und langfristige Entzugskonzepte anzubieten.
In einem dritten Schritt würde ein aufgeklärter Umgang mit Drogen nicht nur eine Liberalisierung anstreben, sondern auch eine stärkere Kontrolle von legalen, akzeptierten Drogen. Die Opioidkrise, die in den USA seit den 1990ern andauert, wurde durch legale Medikamente ausgelöst: vor allem Fentanyl und Oxycontin. Die mafiöse Eroberung des US-amerikanischen Marktes für Oxycontin wurde durch die Serie „Dopesick“ thematisiert. Im Schatten der restriktiven Drogenpolitik profitierten wieder einmal legale Tabletten. Im Jahr 2021 starben in den USA 220 Menschen täglich an einer Überdosis. In Deutschland ist die Verschreibung des vergleichsweise schwachen Tramadols üblich. Zwar gilt dieses als gering suchterzeugend, kann aber bei bereits Suchterkrankten Rückfälle auslösen. Bei der Verschreibung von Opioiden gegen starke Schmerzen muss eine Abklärung von vorliegenden Suchterkrankungen stattfinden, um Rückfälle auszuschließen. Dazu bedarf es eines grundlegend anderen Verständnisses von Suchtkrankheit als das bürgerlich-reaktionäre, das Sucht primär auf Disziplinlosigkeit, Arbeitsscheu und eigenes Verschulden zurückführt und die Suchtkranken bekämpft.

Die vermurkste Legalisierung von Cannabis stellt leider ein Ablenkungsmanöver dar, das durch die in Regulierungswut transportierten Ideologien eine wirklich progressive Drogenpolitik sabotiert.

Die inszenierte Enttäuschung – zur medialen Berätselung der Strategie der Ukrainischen Armee

Jedes Interview zur Lage der Ukraine beginnt derzeit mit sichtbarer Enttäuschung: Warum die Ukraine so langsam vorankomme, wo jetzt die großen Geländegewinne blieben, die man so lange erwartet habe, wie es denn tatsächlich mit den Erfolgsaussichten stehe, ob nicht doch ein Stillstand der Front zu erwarten sei, ob sich die ganzen westlichen Waffen gelohnt hätten, und ob man nicht tatsächlich Verhandlungen anstreben könne. Diese Bestellmentalität geht zynisch an den Realitäten in der Ukraine vorbei und erzeugt einen erheblichen Erwartungsdruck, der Verluste produziert.

Eine professionelle Militärberichterstattung lässt sich derzeit nur über Youtube-Kanäle erhalten, auf Kosten einer Einladung zum Clickbait auch russischer Propagandakanäle und auf Kosten einer Schwarmanalyse, die letzten Endes der russischen Seite nutzt. Im Fokus der Militäranalysen steht stets die ukrainische Strategie, ihre Möglichkeiten, ihre Stoßrichtungen. Die Aufforderung der UA zur Nachrichtensperre wird selbst von ukrainischen Militärvloggern ignoriert. Deren Abwägung ist nicht allein von Klickökonomien getrieben: selbst die erfolgreichsten Kanäle erhalten kaum 100.000 Klicks, viele andere bewegen sich im Bereich unter 10.000 und damit unter der Ökonomisierungsgrenze. Nicht wenige sind von einem ehrlichen Versuch motiviert, die Moral der Truppen, der Geflüchteten, aber vor allem auch der Unterstützer*innen im Westen aufrecht zu erhalten. Daher werden Tagesrückblicke auf Grundlage der Deepstatemap primär auf Englisch und Deutsch produziert, während Telegramkanäle noch aktuellere Informationen in Landessprachen liefern. Berichte von ukrainischen Erfolgen sind unabdingbar zum Kontern russischer Propaganda und deren Strategie der Entwertung und Verhöhnung der Gegner.

Zur berechtigten Skepsis gegenüber ukrainischer Kriegspropaganda gehört, die Hürden der UA ernst zu nehmen als Resultat der Erfolge russischer Propaganda bis tief in die europäische Sozialdemokratie hinein. Nachdem man der UA nach Kriegsbeginn noch monatelang schwere Waffen vorenthalten hat, gelangen diese immer noch verzögert an die Front. Und zäh wurde und wird über die Lieferung von Kampfflugzeugen insbesondere vom Typ F-35 diskutiert, die nun im September ankommen sollen. Die UA kämpft trotz aller Waffenlieferungen als Einzelnation ein Kaltes-Kriegs-Szenario mit handicap, mit auf den Rücken gebundenen Händen. Ihr Vorteil von Partisan*innen in den besetzten Gebieten wird von der Präsenz prorussischer Spione auf gehaltenem Land und in den eigenen Institutionen nahezu aufgehoben.

Gemessen an diesen widrigen Bedingungen ist die UA überaus erfolgreich. Am 19.6. hat die UA mit Drohnenangriffen und im Grabenkrieg 1010 russische Soldaten getötet oder schwer verwundet, 8 Panzer, 15 gepanzerte Personentransporter, 23 Artilleriesysteme, 4 MLRS, 2 Luftabwehrsysteme, einen Hubschrauber, 10 Militärdrohnen, 3 Cruise MIssiles außer Gefecht gesetzt.

Jeden Tag kommen weitere Erfolge hinzu: Die Eroberung kleiner, strategischer Höhenzüge, das Öffnen russischer Verteidigungslinien. Und jeden Tag werden neue Zeugnisse über den Zustand der russischen Verteidiger aufgedeckt: Folter und Kastration an ukrainischen Kriegsgefangenen, Alkoholabusus an der Frontlinie, Cholera. Die russische Verteidigung wird vor allem durch drei Faktoren bestimmt: die Zahl der Soldaten, die Zahl der Artilleriesysteme und die Minenfelder. Gegenüber einer derart befestigten Verteidigung ist ein Combined Arms-Ansatz hin zu einem Durchbruch mit schwerem Gerät vorerst nur bedingt erfolgreich, zumal wenn die dafür essentielle Luftwaffe veraltet und dezimiert ist. Die NATO-Armeen haben den Guerillakrieg in Afghanistan trotz modernster Waffensysteme mit Satellitenunterstützung, Drohnen und Infrarotkameras nicht gewonnen und schließlich politisch verloren. Umgekehrt hat die russische Armee in Syrien die parallelen Aufstände von Demokraten und Djihadisten mit roher Gewalt und einem Fokus auf Luftwaffe und Artillerie binnen weniger Jahre unterdrücken können.

Zweifel an militärischen Erfolgen sind daher angemessen und eine Strategie, die allein auf waffentechnologische Überlegenheit setzt, muss sich immer noch rechtfertigen.
Die ukrainische Strategie ist aber nach wie vor kein Guerillakrieg und kann eine relativ klare Trennung in Zivilist*innen und Soldaten vornehmen. Das militärische Moment besteht nicht in der Befriedung eines Gebietes, sondern in einem Abnutzungskrieg aller gegnerischen Ressourcen. Dahingehend ist die UA extrem erfolgreich. Weit hinter der Front gelingen Schläge gegen russische Trainings- und Munitionslager, gegen die militärische Führung, gegen Treibstoffdepots und Infrastruktur. Die mit einer Rakete getöteten dreihundert russischen Soldaten reduzieren die mobilen Reserven, die der Schlüssel russischer Verteidigungsringe sind, sie dämpfen die Moral russischer Truppen und Söldner erheblich – während die russischen Schläge gegen ukrainische Krankenhäuser und Zivilist*innen die Ukraine nur stärker zusammenschweißen und die Kampfmoral erhöhen.

Das Starren europäischer „Experten“ auf die Frontlinie, das Bekritteln der ukrainischen Verluste an Material sind Ausläufer von Indifferenz, von fehlender Empathie mit dem disziplinierten und vorsichtigen Vorgehen der UA. Hinzu kommen offene propagandisische Störfeuer aus den afrikanischen Staaten und aus Indien. General Gagan D. Bakshi beispielsweise bietet Indien und damit sich als „einzigen neutralen“ Vermittler in einem angeblich für beide Seiten aussichtslosen Kriegsverlauf an. Seine Strategie ist das Vorspiegeln von Objektivität durch den Eindruck einer sachlichen Analyse, die allerdings systematisch ukrainische Erfolge wie auch russische Verluste kleinredet, um ein „Unentschieden“ heraufzubeschwören. Aber auch aus Deutschland kommen wieder die „skeptische Stimmen“ zu Wort, die vor einem „Unentschieden“ warnen und denselben Verhandlungstisch heraufbeschwören, den sowohl Putin als auch die ukrainische Seite rigoros ausschließen.

Der Zermürbungskrieg wird nicht durch Geländegewinne entschieden, sondern von der Kriegsmüdigkeit Russlands. Dazu genügt es, die Offensiven der russischen Armee weiter zu frustrieren und an der Frontlinie zu knabbern, bis diese zusammenbricht. Entlang der gesamten Front einen Angriffsdruck aufrechtzuerhalten ist absolut sinnvoll, um die Überlegenheit der westlichen Artilleriesysteme und Luftabwehrsysteme voll gegen russische Bewegungen zur Stützung der Frontlinie zu nutzen.
Die Perspektive eines jahrelang mit hohem Blutzoll durchgeführten mühsamen Eroberungskrieges, bei dem Graben für Graben von immer neu aufgestockten russischen Brigaden abgerungen werden muss, ist unrealistisch, weil sie die ökonomische und politische Situation in Russland und den Wirtschaftskrieg außer Acht lässt. Eine weitere Teilmobilisierung wäre bereits ein Eingeständnis einer Niederlage, die Kriegsmaschinerie an Panzern und Artillerie ist bereits erheblich dezimiert, die Reparaturfähigkeit und Ersatz durch die Sanktionen erschwert. Steigende Kriegskosten stehen einer Reduktion der Öleinnahmen um 40% im Februar 2023 und einer Blockade von 300 Milliarden Auslandsreserven in der EU entgegen. Das negative Wirtschaftswachstum von ca. -2% ist nur scheinbar wenig, wenn die gestiegenen Kosten für Material und Sold gegengerechnet werden. Jeder Kriegstag kostet Russland etwa eine Milliarde USD.

Anstatt die sehr gut und vielfältig beratene UA unterm Mikroskop zu sezieren und zu bekritteln, vernachlässigen europäische Medien mehrere Aufgaben: Primär die russische Strategie zu analysieren und der Ukraine durch kompetente Analyse russischer Schwachstellen zuzusarbeiten, anstatt auf die UA zu schauen wie auf ein mühsam trainiertes Sportlerkind; die Lieferung von Luftwaffensystemen zu forcieren, die der Schlüssel für erfolgreiche Combined-Arms-Strategien sind; und die russische Besetzung des AKW Saporischija zu beenden, um die Drohung Russlands mit dieser „schmutzigen Bombe“ entgültig aus dem Spiel zu nehmen. Gingen anlässlich der Katastrophe in Fukushima noch zehntausende in Deutschland auf die Straße, wird eine Sprengung mehrerer AKW-Blöcke in der Ukraine offenbar achselzuckend akzeptiert. Politische Druckmittel wären auf ökonomischer Ebene weiterhin vorhanden: Ein vollständiger Boykott russischer Waren, die Einstufung eines solchen Angriffs als nukleare Kriegsführung mit entsprechender Antwort. Die Nonchalance, mit der Europa die russische Drohung mit einem solchen genozidalen, radioaktiven Angriffs toleriert, ist frappierend und beängstigend – sie fügt sich ein in ein Europa, das besinnungslos den drei bis fünf Grad Klimaerhitzung in die Arme steuert.

Die UA wird aller Wahrscheinlichkeit nach ihre militärtechnologische Überlegenheit erst mit der Ankunft der Luftwaffe voll ausspielen können. Es existiert kein Planspiel für eine Konfrontation mit Russland, in der die Luftwaffe nicht die Hauptlast trägt. Alle NATO-Interventionen basierten auf dem primären Ausspielen der luftwaffentechnologischen Überlegenheit: Ob in Jugoslawien, Afghanistan oder Libyen. Die Lieferung von Panzern ohne wenigstens eine Parität der Luftwaffe herzustellen, ist weitgehend sinnlos und geht am Grundverständnis der Notwendigkeit von Combined-Arms-Strategien vorbei. Die Ersatzstrategie ist der Verzicht auf Panzer und der Einsatz von MRAPs (minenresistente Personentransportfahrzeuge), agilen Schützenpanzern und Minenräumer in Kombination mit reichweitenstarker Artillerie. Die ukrainische Infanterie trägt daher die Hauptlast der westlichen Trägheit, die durch die Verniedlichung des russischen Angriffs zum teilbaren Landkonflikt und durch Unverständnis von Militärstrategien, für russische Waffen wie thermobarische Waffen und Folter entstanden ist.

Solidarität mit der Ukraine bedeutet, eine vollumfängliche Bewaffnung entsprechend der Szenarien des Kalten Krieges zu leisten und die Diskussion um die Notwendigkeit weiterer Waffensysteme einzustellen. Hinzu kommt, das Zusammenspiel von Propaganda und Gesellschaftsstruktur in Russland zu beleuchten. Das ukrainische Gesetz gegen Oligarchen erfährt aus Europa nicht Kritik, weil Korruptionsbekämpfung in korrupten Staaten immer zur Repression gegen politische Gegner verwendet werden kann – sondern weil die Einstufung als Oligarch auch das neoliberal-neokonservative Verständnis von wohlverdientem extremem Reichtum und rechtschaffenen Multimillionären kränkt. Anstatt die Ukraine für das Gesetz zu kritisieren, hat Europa Konzepte aufzulegen, wie künftig zunächst in den europäischen Staaten endlich ein destruktives Wirken von Extremreichen effektiv verhindern. Nur dann kann das russische Zusammenspiel von neostalinistischer Kriegsbegeisterung, neoliberaler Bereicherungstaktik von Krisen- und Kriegsgewinnlern und faschistischer Propaganda mit antisemitischen Zügen als die globale Bedrohung begriffen und bekämpft werden, die es ist.




Rough Music – Lina E. und der Vigilantismus gegen Nazis

Screenshot aus: Welt Nachrichtensender, 2.6.2023: https://www.youtube.com/watch?v=qitQUaecRd4.

Nach 30 Monate U-Haft erhielt Lina E. nun fünf Jahre Haft für die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Der Haftbefehl wurde jedoch wegen guter Führung und langer U-Haft ausgesetzt, was auf Freigang auf Bewährung und unter Auflagen hinausläuft.
In Leipzig wurden nun auch in zweiter Instanz linke Demonstrationen gegen das Urteil verboten.
Und die Innenministerin Nancy Faeser tritt vor die Kamera und behauptet: „Wir gehen tatsächlich genauso entschieden gegen Linksextremismus wie gegen Rechtsextremismus vor.“
Die Gleichsetzung von Gewalt und Gegengewalt, die Vermischung und Verkehrung von Tätern und Opfern – das ist der Punkt, an dem das liberale Bürgertum dem Faschismus zuarbeitet.

Auch wenn die Einzelheiten des Urteils noch nicht bekannt sind, fällt an den dummdreisten Reaktionen darauf auf, dass sie einem Schritt in den Vigilantismus die Legitimität regelrecht aufzwingen. Gerade weil die Innenministerin nicht moralisch Recht und Unrecht unterscheiden kann, gerade weil die Behauptung der Gewaltfreiheit nicht im Sinne des Grundgesetzes und der durch Gewalt geborenen Demokratie ist, gerade weil das Gewaltmonopol durchaus Grundlage eines zivilisierten Miteinanders ist und gerade weil dieses Gewaltmonopol gegen Nazis nicht nur versagt, sondern von Nazis in Judikative und Exekutive durchseucht ist, ist eigentlich ein sozialwissenschaftliches Rätsel, dass so viele Antifaschist*innen nicht zum Vigilantismus schreiten. Das liegt meist daran, dass zum Einen die Angst vor einer Gegengewalt („Aufrüstungsspirale“) und einem Verlieren in den faschistisch dominierten Zonen groß ist und zum Zweiten, dass in der Linken strukturell das Gewalttabu viel stärker internalisiert wurde und jeder Bruch erheblicher Rechtfertigung bedarf.

Terry Pratchett hat eine schöne Metapher für den Vigilantismus geschaffen: Rough Music. Im vierten Band („I shall wear midnight“) der Reihe um Tiffany Aching („The wee free men“), einem der besten Werke englischsprachiger Literatur überhaupt, bringt er den Lynchmob in seiner ganzen Ambivalenz zum Klingen. Auch wenn er seine Hauptdarstellerin Tiffany Aching subversiv gegen den Lynchmob arbeiten lässt, und auch wenn er die rauen Musiker in ihrer hexenjägerischen Infamie zeichnet, blickt er dennoch wohlwollend auf das Prinzip, dass Leute kollektiv „genug haben“ und mit Waffen, die eigentlich keine Waffen sind, extremen Störungen des zivilisierten Miteinanders entgegentreten: gegen häusliche Gewalt, gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Rough Music ist die Revolte, die konformistisch, regressiv und reaktionär sein kann, aber in ihrem Prinzip eine Kulturleistung zur Emanzipation darstellt.
Ein ähnlich ambivalentes Bild des Vigilantismus entwirft Ray Abrahams in „Vigilant Citizens“. Zwar bedrohen vigilantistische Bewegungen das Gewaltmonopol und erzeugen humanitäre Krisen durch Folter und Hexenjagden, sehr häufig entstehen sie aber in Situationen eines schwachen Gewaltmonopols. Sie erodieren weniger, als dass sie Zeichen der Erosion sind: Wie die Steine, die unter dem dünnen zivilisatorischen Humus herausgewaschen werden. Zum Vorschein kommen der KuKluxKlan, rechte Todesschwadronen, Jugendbünde in Tansania, Gewerkschaften, Bürgerwehren gegen Kriminelle und Vergewaltiger – oder weitergedacht eben Sportantifas, die ihren Kietz verteidigen. Der Vigilantismus ist zwar anfällig für rechtsextreme Motive – Folter, öffentliche Erniedrigung, Todesstrafe. Er geht aber nicht darin auf.

Die Erosion oder wenigstens einen erkennbaren Rückstand des Gewaltmonopols im Kampf gegen den Faschismus einzugestehen wäre der erste Schritt ehrlicher Politik. Auch wenn man das Ausagieren von Sadismus in konkreter Gewalt des abschreckenden Zusammenschlagens von Nazis verabscheut, auch wenn der Linksextremismus von schrecklichen Ideologien befallen ist, so gehört doch zum Beweis der politischen Diskursfähigkeit dazu, in Actio und Reactio unterscheiden zu können. Wer heute Nazi wird, ist eine wandelnde Morddrohung, eine Traumamaschine für Opfer des Nationalsozialismus und Nachkommen von Opfern. Bereits der Anblick von offenen Sympathisant*innen des Rechtsterrorismus bedeutet Gewalt für die Opfer. Der Staat hat den Rechtsterrorismus aber nicht nur nicht bekämpft, sondern aufgebaut. Teilweise durch den Verfassungsschutz, teilweise durch Gerichtsurteile, teilweise durch Unterlassung und teilweise in völlig selbstverständlich empfundener Integration rechter Ideologien in den Staatsapparat. All das ist hinreichend und über Jahrzehnte hinweg wissenschaftlich und empirisch belegt: mit den Skandalen um den Verfassungsschutz, mit der NSU-Affäre, mit Nazi-Chatgruppen in Polizei und Bundeswehr, mit der Existenz von rechtsextremen Richtern, mit der schrittweise Umsetzung von rechtsradikalen Forderungen in Realpolitik durch CDU/CSU.
Wo mehrheitliche Wählerschaften Parteien wählen, die ihnen de facto den Genozid an den Außengrenzen der EU versprechen, was die Konsequenz der Politik von CDU/CSU, Freien Wählern, AFD und Teilen der FDP ist, da ist dem Faschismus inhaltlich keine Schranke gesetzt. Wer sagt, es solle Obergrenzen geben, sagt implizit, dass man alle Überzähligen zu Tode bringen wird – durch Drittstaaten, Söldner und natürliche Beschaffenheiten wie Wüsten, Meere, Flüsse, Berge, Winter. Dass diese Erosion von Zivilisation Erfolg hatte, ist Resultat des Terrors von Nazis in den 1980ern und 1990ern und einer großen Welle von Brandanschlägen und Attentaten im Jahr 2015.
Die stetigen Wahlergebnisse für die AFD und die Militanz des Rechtsextremismus vor allem in Bayern und Ostdeutschland zeigen, dass das Gewaltmonopol nicht wirkt oder nicht Willens ist. Das ist eine einfache Beobachtung. Wer das Defizit nicht erkennt und benennt, macht sich der Mittäterschaft schuldig.
Nancy Faeser setzt Linksextremismus und Rechtsextremismus gleich und behauptet in vollendeter Verkehrung der realen Verhältnisse, beide würden gleichermaßen bekämpft. So jemand sollte nicht Innenminister in einem Land sein, das den Nationalsozialismus hervorbrachte. Wer nach dem Nationalsozialismus Rechtsextremismus und Linksextremismus gleichsetzt, ist eine Gefahr für die Demokratie, weil er oder sie leugnet, dass die Demokratie in einem Akt der Gewalt gegen den Faschismus und in den Antifaschistischen Aktionsausschüssen geboren wurde, die in der Übergangszeit die Entnazifizierung organisierten. Wenn SPD-Politiker*innen vergessen, dass 1949 SPD-Politiker den Nazi Wolfgang Hedler aus dem Bundestag prügelten, denselben Wolfgang Hedler, den in die Bundesrepublik übergetretene Nazirichter vom Vorwurf der „Beleidigung des Andenkens Verstorbener“ freisprachen, wenn sie den Antifaschisten Willy Brand und den Nazi Kurt Georg Kiesinger nicht auseinanderhalten können, wenn sie ihre eigenen antifaschistischen Kampfbünde vergessen, die Gewalt gegen Faschisten aus blankem Überlebenswillen konspirativ planen und organisieren mussten, wenn sie das Prinzip der richtigen Gewalt gegen Nazis verleugnen, wenn sie nicht wahrhaben wollen, dass die einen nicht genug bekommen können von Gewalt, während die anderen einfach genug davon haben und deshalb zur Gegengewalt schreiten, produzieren sie einen Treibsand aus Kitsch und Lügen, in dem zuallererst die politische Mündigkeit ertrinkt.




Ukrainische Kriegspropaganda und ihre Rationalität

„Strike the occupier! Let’s win together! Our strength is in the truth!“

Ministry of Defence, Ukraine

Die Diskrepanz zwischen dem Optimismus der proukrainischen Militärkommentare und offiziellen Nachrichten von der Front und den Kartenwerken von UA-Maps scheint erschütternd. Auf Youtube, Twitter und Tiktok täuschen die Algorithmen vor dass die ukrainische Armee permanent russische Schützengräben räumt, mit Drohnen Granaten zielgenau in russische Panzer versenkt und selbst kaum Verluste hat. Es scheint auch offizielle Linie der ukrainischen Armee zu sein, keinerlei negative Meldungen und keine für die russische Armee nutzbaren Informationen zuzulassen. Reportagen aus den Schützengräben zeigen motivierte Soldat*innen, die ihren Gegnern zwar verletzlich, aber heroisch gegenüberstehen. Hier die kühl planenden Landesverteidiger mit klug angewendeten modernen Waffensystemen, dort die ausgehungerten, schlecht schießenden, aus den Gefängnissen geholten Söldner und Infanteristen mit uralten Waffen und Panzern aus dem zweiten Weltkrieg. Es ist, als wäre der Fog of War selbst getarnt worden als permanente Berichterstattung direkt von den Fronten: Über Bodycams, Dronen und Handykameras von Soldaten, deren Aufnahmen allerdings penibel selektiert werden.

Auf dem Kartenwerk, das aus Meldungen zusammengebastelt wird, wird jedoch die Intensität russischen Artilleriebeschusses, russischer Angriffe mit Infanterie und die Realität relativ statischer Frontlinien deutlich. 20.000 Stück Artilleriemunition pro Tag verschwendete die russische Armee auf den Beschuss im November, die Nachrichtenkartenseite https://liveuamap.com/ listet tägliche Angriffe durch Artilleriebeschuss entlang der gesamten Front auf. Auch wenn dieser Beschuss den NATO-Präzisionswaffen weit unterlegen ist, muss er doch einen hohen Blutzoll fordern und den psychischen Terror erhöhen. Vier Smertsch-Raketenwerfer können aus bis zu 120km Entfernung in wenigen Sekunden einen knappen Quadratkilometer eindecken. Von einer lernfähigen Armee eingesetzt könnte der noch fahrbereite russische Militärpark trotz erheblicher Verluste noch gigantische Schäden anrichten. Und auch die unintelligente, auf Terror und eugenisches Menschenopfer von Strafgefangenen und ethnischen Minderheiten setzende Strategie konnte bislang einen größeren Durchbruch verhindern und die Ukraine trotz anrollender Militärmaschinerie zum Aushalten zwingen.


Während die zivilen Opfer von russischem Raketenterror gemeldet werden, hält sich die Ukrainische Armee aus nachvollziehbaren Gründen bedeckt über militärische Opfer. Aus gigantischen Explosionen im ukrainischen Gebiet zu schließen, trafen russische Luftschläge vor einer Woche offenbar große Munitionsdepots. Russische Spionage in den ukrainischen Gebieten, Satelliten, sowie die Folter gefangener Soldaten sind erwartbare Faktoren, die die Treffsicherheit russischer Raketen erklären.
Kaum denkbar ist, dass die Ukrainische Armee den Beschuss durch Russland nur aushält, um in Ruhe den Gegenangriff aufzubauen. Realistischer ist die Annahme, dass die Kapazitäten zur Gegenwehr schlicht noch nicht vorhanden sind und dass die russischen Angriffe mit einigen kritischen Schlägen den Gegenangriff verzögern konnten.

Die Strategie der ukrainischen Propaganda, eigene Verluste zu beschweigen und die unter den ukrainischen Geflüchteten beobachtbare Disziplin beim Bewahren von Diskretion über das Frontgeschehen, sind rational. Die Brüchigkeit der Solidarität zentraler NATO-Staaten wie Deutschland ist in der Ukraine schmerzhaft bekannt. Anstatt das Land nach der Invasion der Krim und des Donbass 2014 auf einen weiteren Schlag vorzubereiten und angemessen aufzurüsten, führten acht Jahre lang verbummelte Diskussionen zu monatelanger Verzögerung von Waffenlieferungen. Wieder einmal, denn als der IS 2014 Sindschar eroberte und Massaker an den ezidischen Kurden organisierte, diskutierte ausgerechnet Deutschland monatelang darüber, ob man Menschen militärisch helfen darf, die genozidaler Gewalt ausgesetzt sind. Geliefert wurden am Ende ein paar ausgemusterte Militärfahrzeuge und Waffen – jedoch nicht an die Selbstverteidigungseinheiten oder an die YPG und PKK, die den esidischen Kurden als Einzige beistanden, sondern an die konkurrierenden Peschmerga. Dass Waffen „in falsche Hände“ geraten könnten, wurde im Falle des permanenten Terrors des türkischen NATO-Partners gegen esidisch-kurdische Selbstverteidigungsgruppen beflissentlich ignoriert.

Und 2022 wurde in Deutschland erneut monatelang diskutiert, ob man einem Land Waffen liefern kann, das von einem jüdischen, liberalen Präsidenten geführt wird und Opfer dreier Überfälle wurde: zunächst durch die stalinistischen Sowjets, dann durch die Nazis, dann durch das neozaristische Russland unter Putin.
Die harte Arbeit, die ukrainische Botschafter und die Regierung Selenskyj leisten mussten, um nach einem halben Jahr erste einigermaßen hinreichende Zusagen für die Lieferung schwerer moderner Waffensysteme zu erhalten, sowie die Weigerung der Schweiz, essentielle Panzermunition zu liefern, machten unmissverständlich klar, dass nicht wenige NATO-Länder einer russischen Verhandlungsofferte mit signifikanten Gebietsverlusten für die Ukraine nur zu gern gefolgt wären, allein um weiter in Trägheit schlummern zu dürfen. Es durfte für den Westen keine Zweifel an einem Sieg der Ukraine geben. Die Kriegspropaganda der Ukraine hat daher zunächst drei rationale Ziele: Die Moral der eigenen Truppen und Bevölkerung unter dem Terror gegen die Zivilbevölkerung und angesichts der zeitweise hohen Verluste aufrecht zu erhalten, der russischen Feindaufklärung so viele Informationen wie möglich vorzuenthalten und die NATO-Länder bei der Stange zu halten.

Nach den großen Geländegewinnen in der Gegenoffensive 2022 warteten nun alle Seiten auf eine Wiederholung des Erfolges. Dass dieser sich noch hinauszögert, ist zunächst durch Verluste erklärbar. Zwar gab es kaum Verluste an NATO-Waffensystemen, aber die Verluste an erfahrenen Soldaten vor allem in der Schlacht um Bachmut müssen erheblich gewesen sein. Bakhmut erhielt die Funktion, die russischen Truppen auszubluten. Der Preis dafür war jedoch zu hoch, um das als souveräne Strategie aus einer überlegenen Position heraus zu erklären. Die Notwendigkeit einer derartig hingezogenen Schwächung russischer Truppen verwies auf die eigene Schwäche und den Zwang zu einem solchen Vorgehen. Dass die ukrainische Armee mit der Eroberung der Höhenzüge nun einen Kessel herstellt, ist zwar ein erster Schritt, jedoch bleibt das Rückgrat der russischen Strategie der Artilleriebeschuss und der Raketenterror aus dem sicheren Hinterland des Krieges, während die teilweise von Lohnunternehmen ausgehobenen Schützengräben mit Rekruten aufgefüllt werden, die von der ukrainischen Armee unter hohem Aufwand von Munition nach dem immer gleichen Ablauf getötet werden: Drohnenaufklärung, Artilleriefeuer und Mörser (softening up), nach Möglichkeit Anrücken im Schutz von Schützenpanzern und Panzern, Vorrücken unter suppressive Fire und letztlich die vermutlich am wenigsten veränderte Technologie seit dem zweiten Weltkrieg, die in Gräben und Erdlöcher geworfene Handgranate.

Das zweite, rationale strategische Element einer Konzentration auf Bachmut ist offensichtlich: eine Verlegung russischer Truppen aus den Verteidigungslinien am Dnipro um Saporischschja zu erzwingen. Das dritte wurde von Militärkommentatoren häufig vernachlässigt: Russland den Propagandaerfolg zu verweigern. Die ukrainische Regierung weiß, wie essentiell Propaganda für das System Putin ist und da diese Propaganda sich auf Bachmut kaprizierte, musste die Ukraine dort reagieren, obwohl der militärische Wert der nunmehr ohnehin zerstörten Stadt zweifelhaft war.

Ein durchaus genialer Schachzug ist nun, der „Legion freies Russland“ und dem „Russischen Freiwilligenkorps“ in der ukrainischen Armee ausreichend Material für einen Aufstand auf russischem Gebiet in Belgorod zur Verfügung stellen. So wird die russische Strategie solcher „Aufstände“ russischer Staatsbürger ad absurdum geführt und die Russifizierungspolitik Russlands wird endlich gegen Russland selbst gewendet.

In den besetzten ukrainischen Gebieten wurde schließlich mit Dekret vom 23.4. die russische Staatsbürgerschaft zur Pflicht: Wer sie nicht annimmt, wird mit der Deportation als feindliches Element bedroht. Die Politik der Russifizierung, der zynischen Verschickung von Menschenmassen zur Herstellung von loyalen Mehrheiten wurde vom Zarismus in den Stalinismus übernommen und ist weiter prägendes Element der russischen Expansionspolitik. Sie ist auch der Grund, warum die baltischen Staaten und die Ukraine Strategien zur Klärung der Loyalität der dorthin verbrachten russischsprachigen Gesellschaftsteile entwerfen mussten. In Lettland wandte sich die Mehrheit der Bevölkerung gegen Russisch als zweite Amtssprache, in Estland blickt man misstrauisch auf die russisch dominierten Orte im Osten und überall werden sowjetische Kriegsdenkmäler mal aus nachvollziehbaren Motiven, mal aus Revisionismus geschliffen. Mit Antifaschismus hatte die Sowjetunion nichts mehr gemein, die Aufarbeitung des Holocaust wurde von ihr aktiv sabotiert und verhindert, und vor allem in Polen sogar offener Antisemitismus gegen „zionistische Elemente“ geschürt.

Die historische Erfahrung mit der Russifizierungspolitik in Estland, Lettland, Georgien, Donbass und Krim ist eindeutig: Russland hat und wird seine Staatsangehörigen mittels Sprachpolitik und Propaganda nutzen, um Einfluss auszuüben oder territoriale Ansprüche durchzusetzen. In Deutschland waren und sind russischsprachige Individuen und Vereine das Ziel einer aggressiven Propaganda, die sowjetische Propagandastrategien übernommen und weiterentwickelt hat. Das Bandwagon-Element von Propaganda erwies sich dabei als Rückgrat: Alle Russen müssen für Putin sein, oder zumindest gegen den homosexuellen, liberalen, verweichlichten, faschistischen, zionistischen Westen. Russifizierung als essentiellen Teil der russischen Kriegsökonomie zu unterhöhlen und zumindest potentiell in einem symbolischen Aufstand gegen Russland zu wenden ist eine gelungene und progressive Antwort auf die Russifizierungspolitik. Sie ist nicht nur ein Signal an Russlands Regierung und Opposition, sondern auch an die eigenen Gesellschaften: Es darf keine Vereinheitlichung des Gegners geben, es gibt eine russische Pluralität, es gibt eine russische Opposition gegen Putin und die russische Minderheit ist nicht nur bedrohlich, sondern eine Chance auf ein freies Russland.
Das Narrativ eines Zerfalls des durch Militarismus bis in die Kindergärten, Geschichtsmythen, Zentralisierung, Paranoia, Suprematismus und auf den Mord als Mittel der Politik trainierten und somit faschisierten Russlands erhält mit der Initiative in Belgorod einen Testballon, der die interne Schwäche Russlands sichtbar macht. Die Evakuierung russischer Bürger*innen von der entstandenen Front trägt dazu bei, die russische Kriegsmoral entscheidend zu unterminieren und Putins Paranoia zu steigern.

Wer ist da nun mit dem Material der ukrainischen Armee einmarschiert? Während die „Freedom for Russia Legion“ aus russischen Deserteuren und Kriegsgegnern zu bestehen vorgibt, deren weiß-blau-weiße Flagge sie trägt, ist die RVC rechtsextrem. Der Anführer der RVC, Denis Nikitin, kann als Nazi-Hooligan gelten, der seine Abneigung gegen den „zu liberalen“ jüdischen Senenskyj seiner Abneigung gegen Putin unterordnet.
Die ukrainische Gesellschaft indes hat einen im europäischen Vergleich eher niedrigen Anteil rechtsextremer Gruppen, die sich aber durch die Invasion mit bürgerlichen Nationalisten verbünden konnten und die – in die Armee integriert – weitgehend einer ans Völkerrecht gebundenen Kriegsdisziplin unterworfen bleiben. Der Krieg hat den internationalen Faschismus in zwei Lager geteilt. Die Neofaschisten traditioneller Prägung, sprich Nazis z.B. des Dritten Wegs, tendieren zur Unterstützung der Ukraine, insbesondere des Asov-Batallions und der Kraken-Einheit. Der größte Teil des politisch harten Kerns der dort organisierten Rechtsextremen dürfte allerdings inzwischen gefallen sein, die Einheiten unterlagen seit Beginn des Krieges im Donbass 2014 einer Umstrukturierung und einem weitgehenden Austausch der Kämpfer.
Die bürgerlich-konservativen Faschisten vom Stil der AFD, aber auch Banden wie die Night Wolves, rechtsextreme Söldner und russische, syrische und südamerikanische Nazis unterstützen Russland.
Während jedoch linke und anarchistische Gruppen für die Ukraine kämpfen, gibt es keine antifaschistischen Truppen auf Seiten Russlands.

Die traditionell von sowjetischer Propaganda infiltrierten Teile der traditionellen westlichen Linken nehmen nicht an den Kämpfen teil, reproduzieren aber die russische Propaganda mit ihrem Hauptelement der Rückprojektion: Aus der Ukraine werden angreifende Nazis im Dienst der NATO, aus den russischen Invasoren antifaschistische Verteidiger des großen, vaterländischen Krieges. Die in der Linken immer noch weit verbreiteten Verschwörungstheorien und Mythen über die Jugoslawienkriege belegten die Anfälligkeit der Linken für ein propagandistisches Reenactment der Täter-Opfer-Positionen des zweiten Weltkrieges und die Erleichterung von intellektueller Arbeit, die eine solche fälschende Wahrnehmung von Konflikten verschafft. Dazu zählen im globalen Kontext auch Länder wie Brasilien unter dem linken Antiimperialisten Lula oder Südafrikas ANC, der ebenfalls historische Gemengelagen mit aktuellen Konfliktlinien verwechselt und sich als Revanche für die Unterstützung der südafrikanischen antirassisischen Kämpfer durch die Sowjetunion eindeutig auf die Seite Russlands geschlagen hat. Gegen die vorgeschützte, zwischen zwei Übeln angeblich differenzierend abwägende, in Wahrheit russlandtreue linke Position, und gegen die unentschlossenen, abwartenden Staaten und Parteien muss die ukrainische Position den Kriegserfolg zumindest in der Propaganda vorantreiben, um keinen Zweifel am weiteren Kriegsverlauf zu lassen.