Schuldenbremsenbashing statt Reichensteuerdiskurs

Die Mobilisierung gegen die Schuldenbremse wird von Linken und Grünen angeführt. Man brauche „Investitionen“ in die Zukunft, und daher müsse man mehr Schulden aufnehmen dürfen. Sicher ist die Folge von 16 Jahren Misswirtschaft unter der CDU, dem Krieg Russlands gegen die Ukraine und die immer noch nicht bewältigte Corona-Pandemie eine besondere Situation. Dennoch übertönt das Wettern auf die Schuldenbremse zwei Aspekte:
1. Die Streichpotentiale bei den fragwürdigen Teilen des Budgets, insbesondere die Subventionen für klimaschädliche Prozesse, Diesel, Energiepflanzen/E10, Dienstwagenprivileg, Autobahnen und vieles mehr.
2. Die ungenutzten Einnahmequellen des Budgets, und da primär die Weigerung, Reiche uns Superreiche angemessen zu besteuern.
Wer „Schuldenbremse“ sagt, schweigt von der „Vermögenssteuer“.

1% besitzen mehr als ein Drittel aller Vermögen und innerhalb dieses einen Prozents findet eine weitere exponentielle Stratifizierung statt, das oberste Tausendstel besitzt ca. 14-17%. In solchen Zuständen muss man keine Schulden aufnehmen, sondern Steuern für obszönen Reichtum und einen Maximallohn einführen. Dass sich die obersten 10% tatsächlich einreden, mehr zu leisten als der Rest, mehr Verantwortung zu tragen oder der Gesellschaft exakt so viel zu geben wie sie aus dieser herauspressen allein durch G-G´ist eigentlich eine besonders ausgesuchte Beleidigung, der sich nur durch eine Begrenzung von Einkommen und Besitz entgegentreten lässt. Was im Kartellrecht für Unternehmen gilt, muss auch für Individuen gelten. Niemand darf so viel Macht durch Reichtum erhalten.

Rough Music – Lina E. und der Vigilantismus gegen Nazis

Screenshot aus: Welt Nachrichtensender, 2.6.2023: https://www.youtube.com/watch?v=qitQUaecRd4.

Nach 30 Monate U-Haft erhielt Lina E. nun fünf Jahre Haft für die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Der Haftbefehl wurde jedoch wegen guter Führung und langer U-Haft ausgesetzt, was auf Freigang auf Bewährung und unter Auflagen hinausläuft.
In Leipzig wurden nun auch in zweiter Instanz linke Demonstrationen gegen das Urteil verboten.
Und die Innenministerin Nancy Faeser tritt vor die Kamera und behauptet: „Wir gehen tatsächlich genauso entschieden gegen Linksextremismus wie gegen Rechtsextremismus vor.“
Die Gleichsetzung von Gewalt und Gegengewalt, die Vermischung und Verkehrung von Tätern und Opfern – das ist der Punkt, an dem das liberale Bürgertum dem Faschismus zuarbeitet.

Auch wenn die Einzelheiten des Urteils noch nicht bekannt sind, fällt an den dummdreisten Reaktionen darauf auf, dass sie einem Schritt in den Vigilantismus die Legitimität regelrecht aufzwingen. Gerade weil die Innenministerin nicht moralisch Recht und Unrecht unterscheiden kann, gerade weil die Behauptung der Gewaltfreiheit nicht im Sinne des Grundgesetzes und der durch Gewalt geborenen Demokratie ist, gerade weil das Gewaltmonopol durchaus Grundlage eines zivilisierten Miteinanders ist und gerade weil dieses Gewaltmonopol gegen Nazis nicht nur versagt, sondern von Nazis in Judikative und Exekutive durchseucht ist, ist eigentlich ein sozialwissenschaftliches Rätsel, dass so viele Antifaschist*innen nicht zum Vigilantismus schreiten. Das liegt meist daran, dass zum Einen die Angst vor einer Gegengewalt („Aufrüstungsspirale“) und einem Verlieren in den faschistisch dominierten Zonen groß ist und zum Zweiten, dass in der Linken strukturell das Gewalttabu viel stärker internalisiert wurde und jeder Bruch erheblicher Rechtfertigung bedarf.

Terry Pratchett hat eine schöne Metapher für den Vigilantismus geschaffen: Rough Music. Im vierten Band („I shall wear midnight“) der Reihe um Tiffany Aching („The wee free men“), einem der besten Werke englischsprachiger Literatur überhaupt, bringt er den Lynchmob in seiner ganzen Ambivalenz zum Klingen. Auch wenn er seine Hauptdarstellerin Tiffany Aching subversiv gegen den Lynchmob arbeiten lässt, und auch wenn er die rauen Musiker in ihrer hexenjägerischen Infamie zeichnet, blickt er dennoch wohlwollend auf das Prinzip, dass Leute kollektiv „genug haben“ und mit Waffen, die eigentlich keine Waffen sind, extremen Störungen des zivilisierten Miteinanders entgegentreten: gegen häusliche Gewalt, gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Rough Music ist die Revolte, die konformistisch, regressiv und reaktionär sein kann, aber in ihrem Prinzip eine Kulturleistung zur Emanzipation darstellt.
Ein ähnlich ambivalentes Bild des Vigilantismus entwirft Ray Abrahams in „Vigilant Citizens“. Zwar bedrohen vigilantistische Bewegungen das Gewaltmonopol und erzeugen humanitäre Krisen durch Folter und Hexenjagden, sehr häufig entstehen sie aber in Situationen eines schwachen Gewaltmonopols. Sie erodieren weniger, als dass sie Zeichen der Erosion sind: Wie die Steine, die unter dem dünnen zivilisatorischen Humus herausgewaschen werden. Zum Vorschein kommen der KuKluxKlan, rechte Todesschwadronen, Jugendbünde in Tansania, Gewerkschaften, Bürgerwehren gegen Kriminelle und Vergewaltiger – oder weitergedacht eben Sportantifas, die ihren Kietz verteidigen. Der Vigilantismus ist zwar anfällig für rechtsextreme Motive – Folter, öffentliche Erniedrigung, Todesstrafe. Er geht aber nicht darin auf.

Die Erosion oder wenigstens einen erkennbaren Rückstand des Gewaltmonopols im Kampf gegen den Faschismus einzugestehen wäre der erste Schritt ehrlicher Politik. Auch wenn man das Ausagieren von Sadismus in konkreter Gewalt des abschreckenden Zusammenschlagens von Nazis verabscheut, auch wenn der Linksextremismus von schrecklichen Ideologien befallen ist, so gehört doch zum Beweis der politischen Diskursfähigkeit dazu, in Actio und Reactio unterscheiden zu können. Wer heute Nazi wird, ist eine wandelnde Morddrohung, eine Traumamaschine für Opfer des Nationalsozialismus und Nachkommen von Opfern. Bereits der Anblick von offenen Sympathisant*innen des Rechtsterrorismus bedeutet Gewalt für die Opfer. Der Staat hat den Rechtsterrorismus aber nicht nur nicht bekämpft, sondern aufgebaut. Teilweise durch den Verfassungsschutz, teilweise durch Gerichtsurteile, teilweise durch Unterlassung und teilweise in völlig selbstverständlich empfundener Integration rechter Ideologien in den Staatsapparat. All das ist hinreichend und über Jahrzehnte hinweg wissenschaftlich und empirisch belegt: mit den Skandalen um den Verfassungsschutz, mit der NSU-Affäre, mit Nazi-Chatgruppen in Polizei und Bundeswehr, mit der Existenz von rechtsextremen Richtern, mit der schrittweise Umsetzung von rechtsradikalen Forderungen in Realpolitik durch CDU/CSU.
Wo mehrheitliche Wählerschaften Parteien wählen, die ihnen de facto den Genozid an den Außengrenzen der EU versprechen, was die Konsequenz der Politik von CDU/CSU, Freien Wählern, AFD und Teilen der FDP ist, da ist dem Faschismus inhaltlich keine Schranke gesetzt. Wer sagt, es solle Obergrenzen geben, sagt implizit, dass man alle Überzähligen zu Tode bringen wird – durch Drittstaaten, Söldner und natürliche Beschaffenheiten wie Wüsten, Meere, Flüsse, Berge, Winter. Dass diese Erosion von Zivilisation Erfolg hatte, ist Resultat des Terrors von Nazis in den 1980ern und 1990ern und einer großen Welle von Brandanschlägen und Attentaten im Jahr 2015.
Die stetigen Wahlergebnisse für die AFD und die Militanz des Rechtsextremismus vor allem in Bayern und Ostdeutschland zeigen, dass das Gewaltmonopol nicht wirkt oder nicht Willens ist. Das ist eine einfache Beobachtung. Wer das Defizit nicht erkennt und benennt, macht sich der Mittäterschaft schuldig.
Nancy Faeser setzt Linksextremismus und Rechtsextremismus gleich und behauptet in vollendeter Verkehrung der realen Verhältnisse, beide würden gleichermaßen bekämpft. So jemand sollte nicht Innenminister in einem Land sein, das den Nationalsozialismus hervorbrachte. Wer nach dem Nationalsozialismus Rechtsextremismus und Linksextremismus gleichsetzt, ist eine Gefahr für die Demokratie, weil er oder sie leugnet, dass die Demokratie in einem Akt der Gewalt gegen den Faschismus und in den Antifaschistischen Aktionsausschüssen geboren wurde, die in der Übergangszeit die Entnazifizierung organisierten. Wenn SPD-Politiker*innen vergessen, dass 1949 SPD-Politiker den Nazi Wolfgang Hedler aus dem Bundestag prügelten, denselben Wolfgang Hedler, den in die Bundesrepublik übergetretene Nazirichter vom Vorwurf der „Beleidigung des Andenkens Verstorbener“ freisprachen, wenn sie den Antifaschisten Willy Brand und den Nazi Kurt Georg Kiesinger nicht auseinanderhalten können, wenn sie ihre eigenen antifaschistischen Kampfbünde vergessen, die Gewalt gegen Faschisten aus blankem Überlebenswillen konspirativ planen und organisieren mussten, wenn sie das Prinzip der richtigen Gewalt gegen Nazis verleugnen, wenn sie nicht wahrhaben wollen, dass die einen nicht genug bekommen können von Gewalt, während die anderen einfach genug davon haben und deshalb zur Gegengewalt schreiten, produzieren sie einen Treibsand aus Kitsch und Lügen, in dem zuallererst die politische Mündigkeit ertrinkt.




Der identifikatorische Sog des Stalinismus

Als die Hongkong-Proteste 2020 gipfelten, ließ sich in Köln ein seltsames Schauspiel antreffen: Eine Gruppe von chinesischen „Aktivist*innen“ hatte ein Zelt aufgebaut und gab Brötchen und Tee aus, während an Reisende Flugblätter und CD’s zu den Protesten in Hongkong verteilt wurden. Was von außen aussah wie eine Solidaritätsaktion entpuppte sich bei Lektüre des Materials als eine Denunziation der Proteste als Terrorismus und wurde mit großer Wahrscheinlichkeit von der chinesischen Botschaft finanziert. Als wäre das nicht genug, ertönten Schallmeien und ein Zug von etwa 100 Menschen allen Alters betrat den Bahnhofsplatz vor dem Dom, Plakate der sozialistischen „Helden“ von Lenin über Stalin bis Mao hochhaltend. In der Bahnhofsbuchhandlung wurde unterdessen die von Jörg Kronauer auf die prorussische Position getrimmte Zeitschrift „konkret“ neben dem ebenso russlandtreuen Magazin Compact verkauft.

Differenzen faschistischer und linker Propaganda

Über ein Jahrhundert hinweg konnten sowjetische und maoistische Propaganda Narrative erproben und testen. Die flexible Anwendbarkeit dieser Narrative macht viel des Wiederholungscharakters innerlinker Debatten und Konflikte aus. Linke Ideologie ist ein Problem nicht weil sie links ist und ihr Versprechen umzusetzen droht, sondern weil sie Propaganda aufsitzt und so ihr eigenes, selbsterklärtes Versprechen sabotiert. Wo der Faschismus den Sog zur kollektiven Identifikation mit dem Aggressor anfacht, verlegte sich die rote Propaganda darauf, die Identifikation konformistischer Rebellen mit Opfern zu manipulieren und kanalisieren. Das Ideal des Faschismus ist der „unschuldige Verfolger“, der den „imaginary foe“ bekämpft und den „Notstand“ anerkennt, unter dem die Sklaverei und Massenmord eingeführt werden „dürfen“ und „müssen“. Dafür inszeniert der Faschismus künstliche Krisen wie „Umvolkung“, „Reinheit des Blutes“, „Verlust der Männlichkeit“. Die „kommunistische“ Propaganda wählt hingegen meist einen realen Gegner und richtet sich an reale Opfer. Sie wurde und wird seriell Betrug an den Opfern, weil sie ein echtes und berechtigtes Interesse an einem Aufstand für ihre zynische Machtpolitik instrumentalisiert und langfristig die Idee eines Aufstandes verdirbt, korrumpiert und sabotiert.
Zerstört die faschistische Propaganda effektiv die empathische Solidarität, die sie in aggressive, mitleidslose Volksgemeinschaft verwandelt, so zerstört die „kommunistische“ Propaganda effektiv die Idee des Kommunismus als Sache von Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Sie ist im Wesentlichen keine Propaganda für die „dummen Kerls“, kein Agitprop mit Schalmeien zur Hebung der allgemeinen Stimmung, wie ihn die Sowjetunion und später Russland auch produzierte, sondern Pseudowissenschaft für gebildetere Menschen. Dabei arbeitet sie auf das punktuelle Unterlaufen von Vernunft hin. Es wird nicht, wie im Antisemitismus, ein vollständig wirres Wahnbild präsentiert, sondern ein bestimmtes Element in einem Set von raffiniert drapierten Fakten versteckt.

Das psychologische Angebot von Propaganda an die deutsche Linke ist Entlastung von Schuld. Für die Sowjetunion und heute Putin nützlich war der Pazifismus, der sich von Kriegsgelüsten freisprach, und diese auf das Verteidigungsbündis NATO projizierte und so von Sowjetrussland ablenkte.
Die Sehnsucht nach starken Kollektiven, Waffen, Sieg und Ruhm ist aber unter Linken und da vor allem bei den Männern tendenziell ebenso ansprechbar. Das weiß Putins Propagandapparat und daher war für Putin nichts einfacher, als die Kolonisierung der Ukraine als antifaschistischen Krieg in der Tradition des „Großen Vaterländischen Krieges“ zu präsentieren, bei dem man die richtige Seite zu wählen habe. Die realen faschistischen Tendenzen in der Ukraine wurden ins Riesenhafte gesteigert, kollektiviert, die eigenen faschistischen Tendenzen dahinter versteckt und die Aggression als Präventivkrieg verkleidet.

Weil aber nur die „dummen Kerls“ der AFD sich mit Putin als starkem Mann identifizieren, ist es für linke Narrative obligatorisch, Putin zwar zu kritisieren, die Kriegsschuld jedoch rigoros auf die NATO zu projizieren. Dieser linke Revisionismus erfuhr einen berechenbaren Höhepunkt mit den Feiern zum 8. Mai, dem sogenannten „Tag der Befreiung“. Warum ich das rituelle (Ab-)Feiern dieses Tages ablehne, habe ich auf diesem Blog in den Beiträgen „Antideutsche Regressionen“ und „Der Krieg schlummert nur“ begründet. Putins Ankündigung, ihn wie 1945 zu feiern und gleichzeitig mit einem Weltkrieg zu drohen, unterstreicht erneut die Bedeutung dieses Feiertags für den russischen Nationalismus.

Die Autorin der Novaya Gazeta, Julia Latynina, schrieb dazu den Artikel „Vom Kult des Sieges zum Kult des Krieges„, der in der deutschen tageszeitung beigelegt war. Die Autorin ist, wie ein anderer Artikel der tageszeitung kritisiert, rechtsliberale Klimaleugnerin, Antifeministin und sympathisiert kurioserweise mit Kadyrow. Im Artikel benennt sie zunächst korrekt die offensichtliche Mimese Putins an Stalin. Dann jedoch schreibt sie:

„Amerikanische Politiker, Zeitungen und Filme gaben sich alle Mühe, ihre Verbündeten in einem möglichst günstigen Licht erscheinen zu lassen und Hitler als einzigen Schuldigen am Krieg zu entlarven. Dabei wurde sogar vergessen, dass Stalin in den beiden ersten Jahren des Krieges ein Verbündeter Hitlers gewesen und dieser Krieg eine Woche nach der Unterzeichnung des Molotow-Ribbentrop-Paktes ausgebrochen war.

Die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist, dass Stalin diesen Krieg geplant hatte, der die ganze Welt erfassen und erst enden sollte, wenn auch noch die letzte argentinische Sowjetrepublik ein Teil der UdSSR geworden sein würde. Er hatte diesen Krieg geplant – lange bevor Hitler an die Macht kam.“

Damit folgt sie offenbarg einer These Viktor Suvorovs, der mit seinem Buch „Icebreaker“ die „Offensivplankontroverse“ auslöste. Seiner These zufolge bereitete Stalin von langer Hand einen Angriff auf Deutschland vor. Auch wenn diese These vor allem in Russland und Osteuropa durchaus diskutiert und mehrheitlich dann verworfen wurde, bot sie einen Nährboden für rechten Revisionismus und seine Schuldentlastungsstrategie, die sich in der Verbrämung des Unternehmen Barbarossa als „Präventivschlag“ artikuliert. Latynina bedient diesen Revisionismus mit der Rhetorik vom zweiten „Schuldigen“. Kurioserweise folgt sie jedoch implizit auch den bei weiten nicht nur unter Linken verbreiteten Mythen über den Stalinismus als funktionierender Modernisierungsdiktatur, die das Sowjetreich „fit“ gegen Hitler gemacht hätte.

Der leninistische Mythos

Dass Rechtsradikale und Konservative im Revisionismus und der Überzeichnung der sowjetischen Terrorherrschaft und Bedrohung Schuldentlastung suchen, schafft nicht das Problem des Stalinismus aus der Welt. Die Sowjetunion war unter den Bolschewiki zu exakt dem Gefängnis geworden, das Rosa Luxemburg 1904 in der Zentralismusdebatte vorhersagte. Die konterrevolutionären Bewegungen wurden mit rotem Terrorismus und den im Spartakusbund heftig kritisierten „Geißelerschießungen“ bekämpft. Von der Gründungsphase der Sowjetunion an wurde die blutige Tradition des Zarismus mit seinen Gefängnislagern nicht ausgelöscht, sondern weiter kultiviert und fortgeführt. Es gab keinen Bruch mit politischer Gewalt, der Zarismus ging in die „jakobinisch-blanqistische“ Tradition über, die Luxemburg Lenin vorwarf. Die Bereitschaft, das Leben von Millionen zu dirigieren, organisieren und letztlich dann auch Millionen zugrunde zu richten, war fester Bestandteil des Leninismus.

Hier bietet ein linkes Narrativ Entlastung: Erst unter dem permanenten Druck der Konterrevolution, der „Weißen“, seien „die Roten“ zwangsweise autoritär geworden, der rote Terror bedauerlich, aber unvermeidlich und nach Todesopfern weniger mörderisch als der weiße Terror gewesen. Ebenso werden die wirtschaftlichen Folgen bagatellisiert und „in den historischen Kontext“ gestellt. Lenin wird vom Verrat am kommunistischen Glücks- und Freiheitsversprechen freigesprochen, um dem identitären Sog eines mächtigen, historisch realisierten kommunistischen Kollektivs nachzugeben. Es gab sie eben doch, die glorreiche kommunistische Revolution.
Putin reaktiviert diesen leninistischen Geschichtsrevisionismus der Linken: unter dem Druck der NATO mit ihren verbündeten „Kosaken“ und „Nazis“ müsse Russland harte Hand walten lassen. Er kann sich darauf verlassen, dass von zumindest signifikanten Teilen der Linken der Ukrainekrieg als Wiederholung des Bürgerkriegs in der Sowjetunion gelesen wird. Die NATO, ein desorganisiertes Verteidigungsbündnis ohne die rechtliche Möglichkeit, Land zu annektieren, und ohne die militärische Kompetenz, ein Land wie Afghanistan zu halten, erscheint als Wiederkehr westlicher Staaten, als Unterstützer der „Weißen“, als konterrevolutionärer Marodeur am neuen Russland.

Der stalinistische Mythos

Der stalinistische Geschichtsrevisionismus ist indes komplexer, weil Stalin unverblümter noch als Lenin den Staatsterrorismus kultivierte. Die Kollektivierung bedeutete längst nicht mehr Befreiung von Leibeigenen und Umverteilung von Land, sondern den Schritt in die offene Sklaverei des Gulag-Systems. Die Gewalt der „Großen Säuberung“ mit bis zu 1000 Morden täglich und die Moskauer Schauprozesse von 1936-1938 machten allen aufrechten Marxist*innen klar, dass sie in Sowjetrussland unter Stalin nur der Tod erwartete. Konsequent flohen alle Vertreter der Kritischen Theorie in die USA, sofern sie es schafften.

Der linke Revisionismus setzt hier darauf, die Gewalt nicht, wie es anstünde, in ein Verhältnis zu setzen, sondern unter Verweis auf den Holocaust und das Wüten der Wehrmacht insbesondere in Russland vollständig verschwinden zu lassen. Die Entwicklungen unter Stalin in den Blick zu nehmen, wird selbst als „revisionistisch“, als antikommunistisch denunziert – als wäre es historisch nicht zuallererst Angelegenheit der Linken gewesen, Stalin zu kritisieren. Es wird suggeriert, es gebe nur die Wahl zwischen der roten Armee und der Wehrmacht, eine Wahl, die nach dem Krieg besonders leicht fällt, weil sie nur aus Identifikation besteht.
In einem zweiten Schritt wird die Gewalt dort, wo sie sich nicht leugnen lässt, zur Entwicklungsdiktatur erklärt: Stalin habe ein Entwicklungsland zu einem Industrieland gemacht. Die wirtschaftliche Entwicklung gibt jedoch kein klares Bild her. Das Wirtschaftswachstum bleibt jedenfalls weit hinter vergleichbaren Staaten wie Japan zurück und ein Vorsprung des Stalinismus gegenüber einer Fortführung der NEP oder zaristischer Wirtschaftsweise lässt sich in Modellrechnungen nicht erkennen.

Sah Marx in der ursprünglichen Akkumulation die Gewalt des Feudalismus als Schlüsselmoment für die Schaffung eines mittellosen Industrieproletariats aus früheren Bauern, so wiederholte Stalin die feudale Gewalt, um Industriearbeiter vom Land in die Städte zu zwingen. Dabei war Zahllose Bauernaufstände waren die Folge. Die Verachtung für das Leben der Bäuer*innen war gerade in den Arbeiter- und Bauernstaaten, später im Maoismus besonders ausgeprägt. 1921 sagte Lenin auf dem X. Parteitag der KPdSU:


„Der Bauer muss ein wenig Hunger leiden, um dadurch die Fabriken und die Städte vor dem Verhungern zu bewahren. Im gesamtstaatlichen Maßstab ist das eine durchaus verständliche Sache; dass sie aber der zersplittert lebende verarmte Landwirt begreift – darauf rechnen wir nicht. Und wir wissen, dass man hier ohne Zwang nicht auskommen wird – ohne Zwang, auf den die verelendete Bauernschaft sehr heftig reagiert.“

2-5 Millionen Menschen starben 1921-24 in der Sowjetunion an Hunger. Dass die Ursachen mindestens zu einem großen Teil politische waren, gestand Lenin immerhin in der Änderung der Wirtschaftspolitik ein. Auch wenn die Industrialisierung und Elektrifizierung in der Sowjetunion wie auch global voranschritt, lässt sich in der konkreten Politik kein Merkmal einer Entwicklungsdiktatur finden – im Gegensatz dazu aber zahllose extrem kontraproduktive Maßnahmen. Kasachstan verlor in den großen Hungersnöten unter Stalin 1930-1934 ein Drittel seiner Bevölkerung, die Ukraine im Holodomor zwischen drei bis sieben Millionen Menschen. Hungersnöte zeichnen auch die Überlebenden teilweise lebenslang. Die den Hungernden für den Export geraubten Getreidemengen konnten nicht einmal den Anspruch erheben, zur Industrialisierung nennenswert beizutragen. Sie waren Ausdruck der Verrohung des stalinistischen Regimes und die Rationalisierung der Hungersnöte zu „notwendigen Kriegsvorbereitungen“ oder die Verharmlosung zu „multifaktoriellen Katastrophen“ heute trägt die gleichen Züge der Verrohung.

Es ist ex post nicht belegbar, dass die Sowjetunion ohne Stalin besser für den Krieg gegen Deutschland gerüstet gewesen wäre. Die Ermordung der gesamten militärischen Elite im Zuge des „Großen Terrors“ gilt jedoch gemeinhin als entscheidender Faktor für die militärische Schwäche der Sowjetunion, die gewaltigen Verluste und die rasche Eroberung Westrusslands durch die Wehrmacht. Der militärtechnologische Rückstand in den Bereichen der selbstladenden Gewehre und Maschinenpistolen wurde erst im Winterkrieg gegen Finnland und während der Konfrontationen mit der Wehrmacht erkannt und führte zur Entwicklung des erst Jahre nach dem Krieg fertig gestellten, glorifizierten AK-47.
Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und militärisch als irrational zu bewerten war auch die vom NKVD gemeinsam mit der Gestapo betriebene Zerschlagung des polnischen Widerstandes sowie die Unterdrückung von ethnischen Minderheiten durch eine demozidale (durch Morde auf Dezimierung bedachte oder diese durch Hunger und Elend in Kauf nehmende) Umsiedelungspolitik.

Stalins Angriffe trafen auch die Wissenschaften als Repräsentanten objektiver Kritik: Astronomie, Statistik, Geschichtswissenschaften wurden dezimiert, zensiert, eingeschüchtert. Kunst, Theater und Journalismus, durchaus für den Krieg relevante Institutionen, wurden durch den wahllosen Terror praktisch stillgelegt. Mit dem von Stalin begünstigten Trofim Denissowitsch Lyssenko erhielt zudem ein notorischer Antiwissenschaftler Zugriff auf die Landwirtschaft Russlands. Als er 1938 zum Präsidenten der Sowjetischen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften ernannt wurde, bedeutete das das Ende der wissenschaftlichen Biologie in Russland. Wie sehr der Ausfall der Biologie und insbesondere der Genetik auf den Krieg Einfluss hatte, ist nicht bekannt. Seine in der Nachkriegszeit zur vollen Gewalt kommende Politik erzeugte jedoch Missernten nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in China, wo seine Ideen Einfluß hatten. Und nicht ganz zufällig erlebt Lyssenko im neuen Russland ein Revival, das sich aus der Stalinbegeisterung in Russland und dem Bedürfnis nach russischer „Exzellenz“ speist.

Roter Faschismus

Die militärische Schwäche und der terroristische, personenzentrierte Charakter der stalinistischen Diktatur war maßgeblich der Grund dafür, dass sich die Alliierten von einem Bündnis mit Stalin gegen Hitler wenig versprachen oder darin sogar ein Risiko sahen und daher Bedingungen stellten, die wiederum Stalin als vermessen erschienen. Dass die Alliierten jedoch ernsthaft ein Bündnis gegen Hitler anstrebten, wird an dem Entsetzen deutlich, das der im Geheimen ausgehandelte Ribbentrop-Molotov-Pakt zwischen Hitler und Stalin auslöste. Allen Beteiligten war klar, dass dieser Pakt den Krieg wahrscheinlicher machte und nicht verhinderte. Er ermöglichte Hitler den Zugriff auf die Produktivkraft der Beneluxstaaten und Frankreich, sowie Teile Polens und Osteuropas. Stalin erhielt im Gegenzug Zugriff auf die Produktivkräfte in den von der Sowjetunion annektierten Regionen. Dabei war ihm die Zerschlagung der nationalen Widerstandsbewegungen wichtiger als konkrete Kriegsvorbereitungen zu treffen und sich aus einer Position der Stärke heraus Bündnispartner zu schaffen. Stalin zerstörte vor 1941 noch den letzten Rest dessen, was der Leninismus von der Idee einer kommunistischen Sowjetunion übrig gelassen hatte. Sein Terror hatte kein andere Ratio als den eigenen Machterhalt und seinen sadistischen Lustgewinn am Massenmord und Deportationen. Unter Stalin wurde die Sowjetunion endgültig das, was die bürgerlichen Antikommunisten ihr vorwarfen und was der Faschist Benito Mussolini an Stalin freudig begrüßte: roter Faschismus.

Präsent waren alle Kernelemente des Faschismus: Führerkult, Nationalismus, Zensur, Sklaverei, Militarisierung der Gesellschaft, Mord als politisches Mittel, Glorifizierung des Todes. Noch während des Krieges kündigt sich der Antisemitismus Stalins an. Den 1944 verlautbarten Vorschlag des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, auf der befreiten Krim einen jüdischen Staat zu errichten, entgegnet Stalin laut Chruschtschow:

„Sie versuchten, einen jüdischen Staat auf der Krim zu gründen, um die Krim von der Sowjetunion loszureissen und einen Vorposten des amerikanischen Imperialismus auf unserem Boden zu errichten, der eine unmittelbare Bedrohung der Sicherheit der Sowjetunion darstellen werde. In dieser Richtung ließ Stalin seiner Einbildungskraft wild die Zügel schiessen. Er war von manischer Rachsucht besessen.“

Dass die Sowjetunion von einer einmaligen historischen Chance auf eine freie, gerechte Gesellschaft zur terroristischen Gewaltherrschaft einer kleinen Parteielite wurde, begründet die bis heute fortwirkende Tragödie des Kommunismus.
Das zu konstatieren bedeutet nicht Schuldentlastung, sondern Frustration. Die Opfer des Nationalsozialismus hatten keinen verlässlichen Bündnispartner, sie mussten Israel gründen.
Nicht, dass Stalin einen Krieg gegen Deutschland vorbereitete, ist ihm zur Last zu legen, sondern dass er es nicht hinreichend tat. Stalins Rote Armee war ein Instrument des roten Faschismus, lieferte Widerstandskämpfer den Nazis aus und bekämpfte die Nazis erst dann, als Deutschland die Sowjetunion überfiel.

Weil der Zustand der sowjetischen Armee desaströs und die Verluste gigantisch waren, war Stalin daher auf die kriegsentscheidenden Lend-Lease-Militärhilfen aus den USA angewiesen. Trotz des Ribbentrop-Molotov-Paktes waren die Alliierten bereit, Russland mit massivem Einsatz von Militärmaterial zu unterstützen und praktisch die gesamte Kriegsökonomie bis hin zum Brot zu tragen.
Die USA haben angesichts der Bedrohung durch Deutschland in Kauf genommen, Stalins mörderisches System vor dem vollständigen Zusammenbruch zu retten und seine rote Armee auszustaffieren.

Was den Holocaust angeht: Ex post haben weder Alliierte noch Sowjetunion hinreichend zur Rettung der Jüdinnen und Juden und zur Verhinderung des von Hitler geplanten und mehrfach gegen alle Beteiligten begonnenen Krieges interveniert. Kollaborierte Stalin durch das Rippentrop-Molotov-Abkommen militärisch mit Hitler, so kollaborierten England und die USA sowie alle an der Konferenz von Evian beteiligten Mächte durch die Abweisung von jüdischen Geflüchteten, die in den Holocaust zurück geschickt wurden oder keinen Ausweg z.B. nach Israel erhielten.

Der Putinistismus und die Linke

Die heutigen Feiern zum 8. Mai in Russland zehren vor allem von Geschichtsmythen zum Stalinismus und Leninismus. Russland, die ewig von außen bedrohte Großmacht, die ruhmreich über ihre Feinde siegt. Hauptinstrument ist die Suggestion einer Wahlwiederholung: zwischen roter Armee und Hitler, zwischen Z-War und „NATO-Faschismus“. Putin benötigt dabei nicht einmal mehr den frenetischen Jubel, den Stalin einforderte. Für ihn genügt, wenn seine Unterstützer im Westen ihn in demokratischer Tradition zwar durchaus „kritisch sehen“, womöglich auch den Angriffskrieg verurteilen, aber dann die NATO und ukrainische Faschist*innen dafür verantwortlich machen. Er tritt nicht als Faschist auf, sondern als Antifaschist. Die rechten Parteien Europas stehen ohnehin hinter ihm, lediglich die härtesten Kerne der Neonazis, z.B. der „III. Weg“, haben sich auf die Seite der Ukraine gestellt. Putins Propaganda richtet sich daher explizit an Linke, hier versucht er zu überzeugen und sich zu rechtfertigen, zu spalten und zu verwirren.
In Teilen der Linken konnte die Identifikation mit der Roten Armee überleben, indem man zwar das eine oder andere als bedauernswert und Irrweg bezeichnet, aber insgesamt eine Wahl zwischen Hitler und Roter Armee aufgemacht wird, die sich historisch allein für vom Krieg betroffene Menschen in Osteuropa stellte.
Rechte revisionistische Tendenzen mit ihrem Hautpinteresse der Schuldabwehr werden instrumentell als Popanz einer quasi nicht mehr existenten Kriegsschulddebatte eingeführt, um sich eine echte Kritik des Stalinismus zu ersparen. Diese „echte Kritik“ will man in einem letzten Verteidigungsschritt noch an intensive Literatur auslagern. Man müsse den Stalinismus erst studieren und „verstehen“, um ihn kritisieren zu können.

Dabei sind die Verbrechen Stalins und mittelbar Lenins gegen die Menschlichkeit so offenbar, so offensichtlich, dass eine lebendige, somatische Moral im Sinne Adornos Moralphilosophie Anspruch erheben darf, sich zu distanzieren, in Ekel abzuwenden von den Inszenierungen und Rationalisierungen. Man tut so etwas nicht. Selbst wenn es den Kriegsvorbereitungen gegen die Nazis tatsächlich genützt hätte – was es nicht hat.

Ein Kommunismus, der nicht in Schrecken vor dem Leninismus und dem Stalinismus zurücktritt, ist keiner. Kommunismus, darauf ist zu beharren, bedeutet Freiheit UND Gerechtigkeit, bedeutet die Abschaffung von Folter und Todesstrafe, bedeutet, vor politischem Mord sicher zu sein und nicht, ihn zu exekutieren, zu glorifizieren und zu rationalisieren.







Corona – Zur Ideologie der Verlangsamung, der Dunkelziffern und der empirischen Datenlage

Dunkelziffern, Datenmangel, keine empirische Grundlage – diese Begriffe sind verbreitete Floskeln in der öffentlichen Diskussion um Corona. Sie sind Ausdruck des herrschenden Positivismus, der Ideologie des vereinzelten Fakts. Vermitteltes Wissen, lebendige Erfahrung und logische Schlüsse, kurz gesagt die Ideale Kritischer Theorie, hingegen sind wichtiger denn je.

Dunkelziffern

Die Behauptung, es gebe gewaltige „Dunkelziffern“ bei den Corona-Erkrankungen wird vor allem verwendet, um entweder die Todesraten anzuzweifeln oder um die Maßnahmen für wirkungslos, weil zu spät, zu erklären.
Dunkelziffer ist ein Begriff aus der Kriminologie. Er geht davon aus, dass Verbrechen nicht angezeigt werden. Daher wird aus Erfahrungen von Fachleuten hochgerechnet, was mögliche reale Fallzahlen sein könnten.
Dunkelziffer bedeutet nicht, dass man nichts genaues nicht wissen kann und das für immer so ist, sondern dass man diese Dunkelziffer eben nicht im Dunklen belässt und nach Möglichkeit klärt, welche Schätzungen realistisch sind und wie man dennoch Prävention und Strafverfolgung auf diese näherungsweise eruierte Realität ausrichtet. Kurzum: Dunkelziffern erfordern die Extrapolation von Daten zur Erzeugung von Handlungsanweisungen in unklaren Verhältnissen und nicht Schulterzucken und Agonie.

Der Transfer des Begriffs in die Medizin ist fragwürdig, denn hier geht die „Dunkelziffer“ nicht von individuellem Schamgefühl oder juristischen Hürden oder unklarer Wahrnehmung (z.B. was ist sexueller Missbrauch) oder unmündigen Opfergruppen aus.
Es ließe sich sehr leicht empirisch klären, wie groß der Durchseuchungsgrad mit dem Coronavirus aktuell ist. Dazu kann man entweder mit Blutproben Antikörpernachweise durchführen oder mit Abstrichen den Erregernachweis. Eine solche Studie dürfte je nach n wenige Tage dauern und präzise Auskunft geben. Diese Daten nicht zu haben beschreibt einen Rückstand, ein institutionelles Versagen.

Es gibt aber auch logische Hinweise auf eine relativ geringe Dunkelziffer:
1. Das Auftreten von getesteten Erkrankungen in Clustern (z.B. Hamburg, Berlin, Bergamo). Würde eine hohe Durchseuchung der Bevölkerung vorausgesetzt, wäre auch die Verbreitung von schweren Fällen breiter gestreut. Diese Streuung findet zweifellos mit einer hohen Zahl milder Verläufe statt. Aber sie ist nicht abgeschlossen. Daraus können wir Rückschlüsse über die „Dunkelziffer“ ziehen. Die sich testen ließen.
2. Das Verhältnis bei den tatsächlich getesteten Personen (aufgeteilt in symptomatisch, asymptomatisch) zwischen erkrankt und nicht erkrankt gibt Aufschluss über den Durchseuchungsgrad bei Personen mit Symptomen und Kontakten zur Risikogruppe. Sind Personen mit Symptomen relativ selten tatsächlich erkrankt, ist umso unwahrscheinlicher, dass Personen ohne Symptome relativ häufig erkrankt sind.
3. Der Anstieg der Todesrate, also das Wachstums des Wachstums. Eine hohe Durchseuchung erzeugt ein viel höheres Wachstum der Fälle und damit einen viel stärkeren Anstieg der Todesraten und wiederum eine breitere Streuung.

Wir können aus den vorliegenden öffentlichen Daten schließen, dass das Virus vorerst NOCH in Clustern verbreitet ist, dass also noch keine durchgehende Durchseuchung oder „erste Welle“ stattgefunden hat, wie das mitunter erwogen wird. Auch in Italien haben wir kaum Todesfälle im Süden, es bleibt regional beschränkt.
Wir können weiter daraus schließen, dass die getroffenen Maßnahmen ein gewisses Containment innerhalb von Regionen erreichen können.

Empirische Daten

Die Behauptung, es gebe keine „empirischen Daten“ über die Wirksamkeit von bestimmten Maßnahmen ist vor allem vernunftfeindlich. Es gibt einen sehr klaren Vektoren der Infektion: Die Tröpfcheninfektion. Somit kann eine wirksame Unterbrechung der Infektionsketten nur stattfinden durch das Ausschalten der Tröpfcheninfektion. Und daher sind Maßnahmen angeraten, die 1,5 Meter Distanz erzeugen (und somit die Möglichkeit einer Tröpfcheninfektion verringern) und zusätzliche Hygiene im Bereich häufig berührter Gegenstände und Händewaschen fördern. Ebenso sind Maßnahmen wie die Isolierung hustender oder niesender Personen dringend angeraten und das Tragen eines Mundschutzes durch Personen mit leichen Symptomen in der Öffentlichkeit.
Wir können auch empirische Daten extrapolieren, um Prognosen zu erstellen: Aus bestehenden Länderdatensets zu Maßnahmen und der Ausbreitung, aus dem Vergleich mit historischen Infektionsverläufen ähnlicher Erkrankungen, aus dem Vergleich mit anderen, aber ähnlich invasiven Erkrankungen, wir können Erfahrungen mit HIV-Leugnung, Pockenimpfkampagnen und Impfgegnern hinzuziehen.

Ausgangssperren

Eine Ausgangssperre unterbricht natürlich nur indirekt die Infektionskette, weil sie Personen davon abhält, diese Distanzregeln und Hygieneregeln nicht zu befolgen. Diese Maßnahme ist aus medizinischer Sicht Unsinn, weil sich das Virus nicht über die Luft überträgt und eine Infektion auch durch Distanz vermieden werden kann. Sie ist sogar kontraproduktiv, weil sie Personen von Bewegung an der frischen Luft abhält. Sie ist aber aus soziologischer Sicht eine Disziplinarmaßnahme zur Erzeugung von Compliance zur Einhaltung von sozialer Distanz. Ausgangssperren werden wegen Corona-Parties und Weinfesten diskutiert und nicht, weil das Virus durch die Luft fliegt.

Epidemiologisch sind Ausgangssperren dort begrenzt sinnvoll, wo Menschen isolierbar sind. In Slums des Trikont mit hoher Dichte von Menschen auf kleinstem Raum kann eine solche Maßnahme hingegen kontraproduktiv sein, weil die soziale Distanz im Privaten weniger gegeben ist als im Freien. Dennoch waren in Westafrika Ausgangssperren ein wichtiges Mittel gegen Ebola und sie sind bekannt aus der Medizingeschichte des subsaharischen Afrikas: als traditionelles Mittel gegen Pockenepidemien.

Überwachung

Umgekehrt verhält es sich mit den Maßnahmen der Überwachung von Handys und Kontaktgruppen. Diese sind aus virologischer und epidemiologischer Sicht sehr sinnvoll und wirksam, aus soziologischer Sicht aber katastrophale Eingriffe in elementare Werte dieser Gesellschaft.

Zwischenfazit

Es existieren genügend valide Daten, deren interdisziplinäre und vernunftmäßige Betrachtung relativ eindeutige Rückschlüsse auf den Sinn und Unsinn von Maßnahmen erlaubt. Der Mangel an medizinischen Daten gibt Auskunft darüber, was versäumt wurde und was geklärt werden muss. Der Mangel an Daten kann aber nicht als Argument herhalten, Maßnahmen generell zu sabotieren oder für unwirksam zu erklären. Jede Kritik an konkreten Maßnahmen hat sich am vollständigen Set verfügbarer Daten und Fakten zu orientieren und Alternativen zu präsentieren.

Ideologie der Verlangsamung und die Situation im Trikont

Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist bedenklich, wie wenig die psychologischen Auswirkungen der Vermittlung von Maßnahmen bedacht werden. Bereits zu Beginn der Epidemie in Deutschland, als es noch wenige Fälle gab, einigte sich die Elite in den Medien auf die Formel der „Verlangsamung“. Kommuniziert wird, dass eine kontrollierte Durchseuchung angestrebt wird. Es wird nicht geklärt, warum ein Stopp der Ausbreitung unmöglich sein soll und/oder was der Preis für einen Stop der Ausbreitung wäre. Auf dieser Grundlage entsprechen sich die Modelle von Großbritannien, Finnland, Niederlande und Deutschland: Kein Land hat das Ziel ausgerufen, die Epidemie zu stoppen. Das senkt die Compliance, weil eine Infektion unausweichlich erscheint.
Die Ideologie der „Verlangsamung“ kaschiert aber auch Staatsversagen: Klar ist, dass entsprechende Szenarien einer Corona-Infektion durchgespielt wurden, dass es Maßnahmensets gibt und dass die Krise zu Beginn nicht ernst genommen wurde. Ebenso klar ist, dass die Verantwortung dafür bei der aktuellen Regierung liegt, die einen sehr wahrscheinlichen Fall einer globalen Coronavirusinfektion analog zu SARS oder MERS nicht adäquat vorbereitet hat und die Intrusion des Virus in die breitere Bevölkerung erlaubte. Mit der Formel „Verlangsamung“ wird dem Virus Übermacht einer Naturkatastrophe zugesprochen, um die Schwäche des Staates zu kaschieren.

Was bedeutete die Ideologie der „Verlangsamung“? Sie bedeutete die globale Ausbreitung des Virus insbesondere auf das subsaharische Afrika. Die meisten Infektionen dort kamen aus Europa. Hier existiert keinerlei Redundanz von Beatmungsgeräten. Es gibt hier keine freien Betten, keine Grenze, unter der man die Infektionsraten halten könnte. Wo medizinische Maßnahmen nicht vorliegen, bleibt die Wahl zwischen autoritärer Quarantäne mit Todesfolge für die am härtesten Betroffenen und, sehr viel wahrscheinlicher, eine rasche und gravierende Durchseuchung der Gesellschaften mit hohen Todesraten aufgrund fehlender Intensivpflege. Besonders betroffen sind hier Alte, Mangelernährte, HIV-Erkrankte. Hochgradig tödlich ist aber auch das Zusammentreffen von Corona mit Malaria, Typhus und anderen Tropenkrankheiten.
Die europäischen Staaten haben hier sämtlich an sich selbst gedacht, die Folgen für die eigene Wirtschaft abgewogen und die eigenen Krankenhausbettenzahlen hochgerechnet. Internationale Verpflichtung gegenüber den Staaten im Trikont wurde nicht diskutiert und fand nicht statt. Das Ergebnis können mehrere hundert Millionen Tote sein.
Die afrikanischen Gesellschaften kennen ihre Verwundbarkeit und sind dementsprechend in der „Panik“, die man in Deutschland „vermeiden“ wollte dadurch, dass man keine wirksamen Maßnahmen zu Beginn der Krise traf und technokratisch Maßnahmen dann plante, „wenn die Infektionsrate auf einem Höchststand“ ist.


Zusammenfassung:

Kurz: Man hatte in Deutschland, in Europa nie den Plan stark gemacht, die Ausbreitung zu stoppen und das Virus auszurotten. Die Gründe dafür sind unklar, deutlich ist, dass wirtschaftliche Erwägungen die größte Rolle spielten.
Ideologisch befindet man sich aber auf einer Ebene mit den antiwissenschaftlichen, eugenischen Durchseuchungsplänen der Niederlande und Finnlands und sucht lediglich einen weniger schlechten Kompromiss mit der selbsterzeugten Realität.
Was notwendig wäre: Eine Ethikkommission einzuberufen, die Fakten interdisziplinär zu verhandeln, der Virologie ihren Platz, aber auch nicht mehr, zuzugestehen, und einen Plan auszuarbeiten, wie das Virus auszurotten wäre.
Dieser Plan hätte als zentralsten Punkt zu beinhalten, wie erwartbare Katastrophensituationen im Trikont und in Flüchtlingslagern bewältigt werden sollen, die jetzt, sofort, heute vorbereitet werden müssen. Alles andere wäre ein Bekenntnis zum dezimillionenfachen Tod durch die Ansteckung afrikanischer Staaten durch europäisches laissez-faire im Umgang mit einer Infektionskrankheit. Der nationale Egoismus, der bisherige Strategien der Beschaffung von medizinischem Material kennzeichnet, muss vollständig überwunden und in internationale Solidarität verwandelt werden. Beatmungsgeräte müssen international nach Bevölkerungszahl und Infektionsrate verteilt werden, nicht nach Einkommen.

Bekämfung: Tests, Tests und Tests

Das Ende der Corona-Krise kann nur auf zwei Wegen geschehen:
1. Die massive Ausweitung der Testkapazitäten und die möglichst häufige Testung möglichst vieler, um die Quarantänemaßnahmen präziser zu dosieren. Ein Plan zur massiven Ausweitung der Testkapazitäten wird aber öffentlich nicht kommuniziert, die Hindernisse nicht adäquat benannt. Tests sind das Rückgrat der Epidemiebekämpfung. Medial sind Tests eine sideshow. Man macht sich über Leute lustig, die sich „ohne Grund“ testen wollen, verweist auf die begrenzte Zahl von Tests, ohne öffentlich zu rechtfertigen, warum Tests Mangelware sind und warum Personen mit Symptomen nur getestet werden, wenn sie auch Kontakt zu einer getesteten Person hatten.
2. Die andere Möglichkeit zur Eindämmung des Virus ist die Impfung. Impfungen aber sind invasiv, schwerfällig, dauern als globale Kampagne Jahre, die Risiken sind unklar. Nach derzeitigem Ausbreitungsstand wird eine Impfkampagne der Durchseuchung nicht mehr zuvorkommen.
Das unterstreicht zusätzlich die immense Bedeutung von Tests. Die Quarantänemaßnahmen sind nicht bis zu einer Impfung aufrechtzuerhalten. Tests liegen aber jetzt schon vor und können rascher ausgeweitet werden als Impfungen. Der Öffentlichkeit muss endlich ein Plan kommuniziert werden, mit welchen Mitteln welche Testfrequenz wann erreichbar sein wird. Dieser Plan hätte für den B-Waffen-Fall nach 9/11 oder für Epidemien nach SARS, Ebola und MERS längst erarbeitet sein müssen. Dass er Wochen nach dem Eintreten des Pandemiefalls noch nicht vorliegt, ist Staatsversagen.

Nachtrag

Herdenimmunität: Dieses Konzept taucht immer wieder auf. Herdenimmunität ist ein komplexes Phänomen mit vielen Faktoren, man beginnt bei anderen Krankheiten mit Tröpfcheninfektion mit Schätzungen von ca. 75% Immunität der Gesamtbevölkerung, um Herdenimmunität zu erreichen, realistischer sind Schätzungen ab 85% und für eine hochansteckende Krankheit wie Corona mit langer Inkubationszeit sollte man aus reiner Vorsicht eher von über 90% erforderlicher Immunität für das Erreichen von Herdenimmunität ausgehen, wenn man nicht sehr gute Gründe nennt. Daher wurde Boris Johnson auch in England von Wissenschaftlern bedrängt, seine Strategie aufzugeben, die leider in Finnland und Niederlanden noch wirksam scheint.

https://de.wikipedia.org/wiki/Herdenimmunit%C3%A4t#Einflussgr%C3%B6%C3%9Fen

Indigene Gesellschaften: Völlig unverantwortlich ist, dass in den Pandemie-Szenarien bisher indigene Gesellschaften nicht vorkommen. Corona kann in isolierteren Gesellschaften z.B. im Amazonas-Tiefland viel heftigere Konsequenzen haben und genozidale Auswirkungen haben. Einige indigene Gesellschaften sind für Impfkampagnen sehr schwer zu erreichen, dadurch vor einer Ansteckung besser geschützt, aber eben auch ohne jeden Zugang zu medizinischer Hilfe im Falle einer Einschleppung der Krankheit, die heute sehr wahrscheinlich ist.
Es kann auch zu genetisch bedingter Anfälligkeit bei endogamen und Inselgesellschaften kommen. Dazu fehlen schlicht die Informationen und es sind daher worst-case-Szenarien angebracht, die sich an historischen Erfahrungen orientieren.






„Antirassismuskritik“ und Critical Whiteness – ein dialektisches Verhältnis

Dieser Text wurde 2017/18 auf Bestellung einer Fachzeitschrift erstellt, reviewed, endbearbeitet und dann auf Betreiben eines Redaktionsmitglieds hin nicht publiziert.

Schlagworte: Rassismus, Türcke-Debatte, Bahamas, Critical Whiteness

Die „mathematische sowie naturwissenschaftliche Allgemeinbildung“ von Thomas Maul

Gastbeitrag von Sébastien de Beauvoir – mit einem Nachwort von Felix Riedel

Thomas Maul hat sich als Klimatologe versucht, und das Ergebnis ist ein einziges Cringefest. Vielleicht sollte man ihn einfach nur auslachen und nicht weiter beachten. Als ich einen geschätzten Freund fragte, wie es sein kann, dass Leute wie Maul keine Sorge hätten, jemandem könnte auffallen, wie nackt sie dastehen, gab mir dieser jedoch zu bedenken, dass sie wohl tatsächlich eine Heidenangst davor hätten; dass die selbsternannte Ideologiekritikerszene sich die offene Klimawandelskepsis bisher nur noch nicht so recht traue, weil die Gefahr zu groß sei, als kompletter Trottel dazustehen; dass es wichtig sei, dass einer ihrer Wortführer derjenige ist, der das als erstes macht, und dass dieser Schritt jetzt vollzogen sei und nunmehr die Hot Takes so richtig losgehen können. Letzteres möchte ich gern vermeiden, weil ich nicht will, dass ansonsten geschätzte Genossinnen und Genossen sich am Ende von so einem lächerlichen Humbug noch beeindrucken lassen. Außerdem kann ich es grundsätzlich nicht ausstehen, wenn Scharlatane sich an der Naturwissenschaft vergreifen. Daher folgender Präemptivschlag anlässlich des Blogbeitrags „Die Welt als Wille und Heizkörper“, veröffentlicht am 30.06.2019 als dritter Teil der Beitragsserie „Grünifizierte Gesellschaft“ auf der „Achse des Guten“:

Das Titelbild stimmt schonmal ein: Wie einst die Freiheitsstatue dem antiamerikanischen Eissturm in „The Day After Tomorrow“ trotzte, ragt hier nun der Kirchturm aus den biblischen Fluten der apokalyptischen Klimareligion hervor – the occident will prevail! Direkt danach geht es mit einem knackigen Eingangsstatement los, die Fans sollen nicht lange warten müssen:

»Der Vorschlag aus den Reihen der Grünen, Klima-Greta mit dem Friedensnobelpreis zu ehren, ist freilich nicht überraschend angesichts einer Gesellschaft, die sich mit hohen Zustimmungswerten so etwas wie Klimapolitik überhaupt leistet. Schließlich exekutiert diese nichts anderes als einen unschwer zu durchschauenden Wahn.«

So schleudert er einer vermeintlich hungrigen Menge eine steile Behauptung (irgendwas mit „Wahn“) nicht etwa als zu begründende Aussage, sondern als ohnehin voraussetzbare Prämisse („Schließlich […]“) entgegen. Logiker hassen diesen Trick! Die Menge dagegen ist begeistert, und wer ihn kennt, weiß, jetzt muss es noch eine Stufe krasser kommen:

»Und doch wird die Klima-Hysterie bisweilen sogar dort, wo man sich aufs Erkennen von Wahnvorstellungen spezialisiert wähnt – in israelsolidarischen oder ideologiekritischen Kreisen also –, entweder geteilt oder in Äquidistanz zu einem Forscherstreit verharmlost, zu dem eindeutig Stellung zu beziehen man sich aus falscher Bescheidenheit die Fachkompetenz abspricht [usw.] […]«

Wer es mit dem Westen ernst meint, braucht mit lauwarmer „Klimaskepsis“ nicht zu kommen, denn Äquidistanz hilft nur der Barbarei. „Falsche Bescheidenheit“ ist ihm bekanntlich fremd, und so schult sich der Tausendsassa in Verteidigung des Abendlandes, auf sich alleingestellt inmitten gnadenlos verblödeter Horden, binnen kürzester Zeit per kursorischer Lektüre einschlägiger Wikipedia-Artikel zum aus der Not geborenen Klimakritiker.

Naturwissenschaftlich relevanter Dreh- und Angelpunkt seiner folgenden Argumentation ist die Behauptung, das IPCC und der ihm hörige wissenschaftliche Mainstream sei dem Dogma verfallen, die Durchschnittstemperatur der Erde hinge

»monokausal-proportional-linear«

vom CO2-Gehalt der Atmosphäre ab. Dieses Dogma wird er dann im Weiteren geradezu galileisch als Irrglauben widerlegen (und sich selbst dabei gleich mit, aber zu dieser Dialektik des dummen Kerls später). Allein: Dieses Dogma existiert gar nicht. Niemand, wirklich absolut niemand, der oder die irgendetwas zu sagen hat, sei es zu Klimaforschung oder -politik, behauptet etwas, was auch nur in die Nähe dieses vermeintlich zentralen Glaubenssatzes kommt, weder eine Monokausalität noch einen linearen Zusammenhang (durch den Griff zu einem beliebigen einschlägigen Lehrbuch zu überprüfen, bspw. E. Boeker / R. v. Grondelle: Environmental Physics. Wiley, 3. Auflage 2011, S. 45ff.) Und weil niemand das behauptet, hat er sich den entsprechenden Begriff auch extra für diesen Blogbeitrag selbst ausdenken müssen, denn niemand mit mathematischer Ausbildung würde das, was Maul da mit etwas Glück zu sagen versucht, so formulieren, wohingegen dieses sinnarme Bindestrichungetüm auf andere den Eindruck machen mag, hier habe jemand den mathematischen Durchblick.

Später wird daraus die leicht abgewandelte Aussage,

»dass es sich bei der Korrelation um eine vom CO2 ausgehende linear-proportionale Kausalität handelt, der[er] es logisch bedarf, damit die Panikmache aufgeht «

Einmal davon abgesehen, dass außerhalb der Phantasie des Autoren niemand von Relevanz eine solche Linearität postuliert, bedarf es ihrer „logisch“ auch gar nicht, denn auch andere, kompliziertere Zusammenhänge können bedeutsam sein – und sind es in diesem Fall.

Etwas weiter im Text wird Maul die Feststellung des dritten Sachstandsberichts der IPCC von 2001 (nicht, wie von ihm – wohl um eigenständige Quellenarbeit vorzutäuschen – angegeben, von 2007) zitieren,

»dass es sich um ein gekoppeltes [!] nicht-lineares [!] chaotisches [!] System handelt.«

Etwas furchtbar Kompliziertes also, das mächtig Eindruck auf seine Leserschaft machen soll. Unbeschadet dieser ehrfurchtsgebietenden Komplexität will Maul an dieser Stelle aber erstmal der

»infantile[n] Hybris«

mithilfe der guten, alten

»mathematischen sowie naturwissenschaftlichen Allgemeinbildung und der eigenen Alltagserfahrung«

zuleiberücken, etwa indem er später noch – weil er in Wirklichkeit keine Ahnung hat, was gekoppelte (!) nicht-lineare (!!) chaotische (!!!) Systeme sind – mit einem kurzen Blick seines ideologiekritisch geschulten Auges eine von allen anderen verkannte Konvergenz auszumachen meint, die

»den entwarnenden Schluss nahelegt, immer mehr CO2 führe zu immer geringeren Temperaturzunahmen (und zwar gen Null tendierend), weshalb man die anthropogenen CO2-Emissionen recht bedenkenlos sogar vermehren könnte.«

Aber bereits in diesem Abschnitt widerspricht er seiner eigenen Behauptung vom „monokausal-proportional-linearen“ (lol) Dogma, indem er feststellt, dass

»es der IPCC seit seinem 2013 erschienenen fünften Sachstandsbericht für „extrem wahrscheinlich“ hält, dass die Menschen per von ihnen verursachten CO2-Ausstoßes […] für mehr als 50 Prozent der beobachteten Erwärmung verantwortlich sind,«

was offensichtlich unverträglich mit einer vermeintlich behaupteten Monokausalität ist. Überhaupt sind ihm solche verbalisierten Wahrscheinlichkeitsangaben suspekt, an anderer Stelle fügt er die Bemerkung

»wie auch immer diese Schätzung zustande kommt«

an, die ihn offenbar selbst nicht interessiert, sonst hätte er sich mit Modellierung befasst, statt das vorliegende Dokument der Ahnungslosigkeit abzufassen. Hätte er im dritten Sachstandsbericht der IPCC (S. 774) auch nur einen Satz weitergelesen, hätte er lesen können:

»The most we can expect to achieve is the prediction of the probability distribution of the system’s future possible states by the generation of ensembles of model solutions. This reduces climate change to the discernment of significant differences in the statistics of such ensembles.«

(Das setzt natürlich voraus, er hätte den Bericht überhaupt im Original gelesen. Wer den o. g. Halbsatz – ohne die von Maul eingefügten Ausrufezeichen, die suggerieren sollen, er würde kraft seiner Wachheit dem Satz eine tiefere Wahrheit entlocken, die den per definitionem völlig verblödeten Klimagläubigen ansonsten entginge – in eine Suchmaschine eingibt, kann leicht erahnen, dass diese heroische Entlarvung des Klimaschwindels nicht Mauls eigenes Verdienst ist, erfreut es sich doch seit Jahren schon auf einschlägigen „alternativwissenschaftlichen“ Blogs und „freigeistigen“ Medien ausgesprochener Beliebtheit. Immerhin verlässt er sich bei seiner Recherche nicht auf Wikipedia allein.)

Es werden also unterschiedliche Szenarien modelliert und versucht, die Wahrscheinlichkeiten verschiedener Entwicklungen abzuschätzen – eben weil das System sehr komplex ist. „[G]renzenlos irrsinnig“ für Maul ist, dass vor dem Hintergrund dieser mit recht großen Unsicherheiten behafteten Ergebnisse der Klimaforschung politische Ziele formuliert werden, die genauer beziffert werden als die Wissenschaft Vorhersagen liefern kann. Politik ist aber keine Wissenschaft, was ihm eigentlich sympathisch sein müsste, denn von letzterer versteht er offenkundig nichts. Wird die politische Zielmarke um 1,0 °C höher angegeben, bedeutet das nicht, dass eine magische CO2-Maschine angeworfen werden soll, um exakt bei dieser Zielmarke zu landen, sondern einfach, dass die politischen Anstrengungen zur Minderung des Treibhausgasausstoßes geringer ausfallen, nicht unbedingt „monokausal-proportional-linear“, aber doch geringer, als wenn sie um 0,5 °C höher ausgegeben würde.

Zwar gibt es unterschiedliche Modelle und damit unterschiedliche Einschätzungen, welche Szenarien wie wahrscheinlich sind. Dass eine Klimaerwärmung stattfindet und dass die Emission von Treibhausgasen und insbesondere von CO2 darauf eine beträchtliche Auswirkung hat, ist in der seriösen Forschung unumstritten. Da das dem politischen Ansinnen, die CO2-Konzentration in der Atmosphäre zu senken, zumindest grundsätzlich Sinnhaftigkeit verschafft, will Maul zur Rettung des Abendlands auch diese Forschung selbst diskreditieren, oder zumindest massive Fremdscham beim Versuche unterzugehen hervorrufen. Letzteres gelingt ihm insbesondere dadurch, dass er im ersten Absatz des Abschnitts „Keine Klima-Messapparaturen im 19. Jahrhundert“ deutlich macht, dass er den Unterschied ums Ganze zwischen der Heisenbergschen Unschärferelation einerseits und der Notwendigkeit, sein Messgerät richtig einzusetzen, andererseits nicht verstanden hat, und im nächsten, dass er auch noch nie etwas von Kalibrierung o. ä. gehört hat. (Von Quantenmechanik nichts zu verstehen, ist nicht ehrenrührig. „Hochnotpeinlich“ – um szeneüblichen Jargon zu gebrauchen – ist es allerdings, großmäulig mit Konzepten um sich zu schmeißen, deren Kernaussagen man nicht begreift.) Über die folgenden drei Absätze hiweg zweifelt er Temperaturbestimmungen an (nach seinen Vorstellungen ohnehin praktisch unmöglich, denn unter

»fünf- bis zwanzigtausend technisch identisch ausgestattete[n] Wetterstationen – ihren Abstand betreffend gleichmäßig über die Erdfläche verteilt –«

macht er’s nicht). Zweifel ist ein wichtiges Element der Wissenschaft. Seriöse Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ebenfalls – mit weniger wirrer Begründung, aber seien wir nicht kleinlich – Zweifel an der Temperaturdatengrundlage hatten, haben deswegen z. B. 2010 das ambitionierte Berkeley-Earth-Projekt (finanziert u. a. von den Großindustriellen Koch Bros., die „Klimaskepsis“ in großem Stil fördern) ins Leben gerufen, das – zum Ärger der Geldgeber – die Ergebnisse des bisherigen wissenschaftlichen Konsens bestätigt und sogar verschärft hat. (Der wissenschaftliche Direktor des Projekts hat darüber, wie er seine skeptische Position nach deren Falsifizierung revidiert hat, 2012 ein lesenswertes Op-Ed in der NYT geschrieben.)

Dass die wichtigsten Referenzmessungen bzgl. der atmosphärischen CO2-Konzentration die der Messstation auf Hawaii sind, hat übrigens den einfachen Hintergrund, dass diese Messstation fernab industrieller Zentren liegt. Sie ist selbstverständlich nicht die einzige Messstation, eine andere bekannte betreibt z. B. die Scripps Institution of Oceanography in San Diego.

A propos Falsifizierung: Warum Leute, die sich sonstwas darauf einbilden, irgendwie in den Fußstapfen Adornos zu wandeln, Maul den idealistischen Quatsch vom

»traditionellen Selbstverständnis der Wissenschaft, wonach die Richtigkeit von Erkenntnissen eine Frage der Beweisführung und nicht einer Mehrheitsmeinung oder Empfindungslage sei,«

durchgehen lassen, der Popper Tränen der Rührung in die Augen treiben würde, kann ich nur vermuten. Maul führt ein Bonmot Albert Einsteins an, der auf den Versuch von hundert Nazis, ihn zu widerlegen, antwortete: „Warum einhundert? Wenn sie Recht hätten, würde ein Einziger genügen!“ So will er die Ökologiebewegung als Wiederkehr des Nationalsozialismus verstanden wissen, um dann die Klimaskeptiker mit dem Juden Albert Einstein als Opfer und Genies gleichzeitig zu identifizieren – so formuliert, dass es seine Leserschaft sowohl exakt so versteht, wie es gemeint ist, als auch, dass sie es bei Bedarf empört zurückweisen kann.

Im vierten und letzten Teil geht es immer noch weiter bergab. Er betont, er wolle nicht unterstellen,

»der vom Mainstream verfochtene Monokausalzusammenhang wäre derart umzukehren, dass erhöhte Temperaturen zu erhöhten CO2-Anteilen führen.«

Witzigerweise ist der Effekt, dass erhöhte Temperaturen tatsächlich wiederum die atmosphärische CO2-Konzentration erhöhen (weil sich in wärmerem Wasser weniger CO2 lösen kann, die CO2-Aufnahmekapazität der Ozeane also mit steigender Temperatur sinkt) sogar Bestandteil der vom Mainstream verfochtenen Modelle (nachzuschlagen bspw. im o. g. Lehrbuch). Gut, dass er an der Stelle nochmal „Monokausalzusammenhang“ gesagt hat.

Zusammenfassend schlussfolgert er, dass

»im Resultat nicht mal mehr zwingend wünschenswert bleibt, mittels politischer Maßnahmen Einfluss auf die Entwicklung der Durchschnittstemperatur der Erde zu nehmen – ganz abgesehen von möglichen ungewollten Effekten, die menschliche Eingriffe in unbegriffene, chaotische Systeme haben könnten.«

Ganz als ob es den Menschen möglich wäre, einfach nicht in dieses System einzugreifen. Peak Idealismus. We live in an ecology.

Ein Nachwort von Felix Riedel:


Ich danke Sebastién de Beauvoir sehr für seine kurze Analyse des Textes von Thomas Maul auf der „Achse des Guten“ aus naturwissenschaftlicher Sicht. An einer Stelle möchte ich sie doch erweitern: Thomas Maul ist eher kein „Wortführer“ oder Vordenker der rechtsantideutschen Antiökologie, sondern ein Mitläufer. Seine Desinformation stammt sehr offensichtlich aus dem Umfeld des rechtslibertären Thinktanks „The Heartland Institute“ und dessem deutschen Pendant EIKE, von dem die Bahamas-Autoren Jörg Huber, Tjark Kunstreich und Martin Stobbe seit Jahren „inspiriert“ werden.
Die Antiökologie der rechtsantideutschen Szene hat ältere Ursprünge als Thomas Maul und erstreckt sich heute durch das in der Redaktion vorherrschende Loyalitätsgebot auf alle ihre Glieder. Die psychologische Ursache dafür liegt vermutlich begraben in individuellen Biographien der Autoren. Will man aber einen theoretischen Mangel haftbar machen, so wäre der in einer abgestürzten Staatskritik zu verorten, einer kruden und stets überstreckten Mischung aus Ahrendt’scher und neoliberaler Staatsfeindlichkeit auf der einen und der Identifikation mit dem Rechtsstaat und teleologisch verstandener Zivilisation auf der anderen Seite, die erlaubt Konservativismus und Revolte gleichzeitig auszuleben. Das ist der ideale Nährboden für rechtslibertäre und neokonservative Propaganda, in dem letzte Reste von Marxismus und kritischer Theorie ertrinken.

Auf einer institutionellen Ebene hat man sich in der Institution Bahamas längst von der Aufklärung verabschiedet – man sucht Jünger. Und um diese von „Mehrheitsmeinungen“ abzuwerben, muss man ein Gegenweltbild erstellen, das zunächst Konformismus gegenüber der eigenen Elite durch verbale Brutalitäten einfordert und dann dadurch zwangsläufig entstehende Angst und Aggression als Revolte ständig nach außen kanalisiert. Kurz: Man will es stärker noch als die im Medium Bahamas sattsam verschriene postmoderne Wissenschaft zu wirklich allem besser wissen, auch wenn man inzwischen erwiesenermaßen zu keinem einzigen Thema mehr etwas Sinnvolles beizutragen hat. Das innerste Unbehagen über die aufklaffende Diskrepanz zwischen Ich-Ideal und allenfalls bescheidenen intellektuellen Kapazitäten und noch bescheidenerem Fachwissen wird dann mit wahnhaftem Assoziieren, mit wildem Umsichschlagen vertuscht. Deshalb präsentiert Thomas Maul, als er sich irgendwo gewahr wird, dass er nichts weiß, Anton Hofreiter als „Kettenhund“, der an „Roland Freisler“ erinnere: Also an einen von 15 Wannseekonferenz-Teilnehmern und dem Präsident des Volkgerichtshofes. Darunter macht mans nicht mehr und daran lässt sich der Zustand ablesen, der dieses Millieu erfasst hat.

Der Erfolg des Antisemitismus in der American Anthropological Association (AAA)

Ich mache hier das Flugblatt zum Erfolg der BDS-Bewegung in der American Anthropological Association und den Antragstext meines Antrages zur DGV-Tagung 2017 öffentlich zugänglich:

Ethnologie_BDS

Da die Vorgänge über Jahre hinweg zu keinerlei Reaktion von Seiten der deutschen Ethnologie führten, habe ich als nicht institutionell eingebundener, freiberuflicher Ethnologe folgenden Antrag bei der DGV-Tagung 2017 in Berlin gestellt. Der Antrag wurde mit großer Mehrheit abgelehnt:

Antrag: „Verurteilung der antiisraelischen Agitation in der American Anthropological Association“

Auf der Mitgliederversammlung (2017) der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde soll folgende Resolution beschlossen werden:
Die Mitgliederversammlung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) verlautbart große Sorge über die anhaltenden Forderungen nach der Ausgrenzung von israelischen akademischen Institutionen durch einen großen Teil der Mitglieder der AAA. Die Mitgliederversammlung fordert Vorstand und Mitglieder der AAA auf, wissenschaftliche und wissenschaftsethische Standards in der geschichtswissenschaftlichen und konfliktethnologischen Forschung einzuhalten, die in dem „Task-Force“-Bericht über Israel verletzt werden. Die DGV bekennt sich zu ihrer Verpflichtung zu Kooperation und solidarischen Unterstützung israelischer akademischer Institutionen gerade auch dort, wo deren Forschungen an der militärischen Selbstverteidigung gegen die ständige existentielle Bedrohung der Einwohner Israels durch islamistische Guerillas und Regimes teilhaben.

Begründung:

Mehr als 1100 Ethnologen haben online die Forderung nach einem Boykott Israels unterzeichnet.[1] Als Reaktion darauf erschien am 1.10.2015 im Auftrag der AAA der „Report to the Executive Board – The Task Force on AAA Engagement on Israel-Palestine“[2]. Der Bericht entstand auf Grundlage von 120 Interviews[3], davon wurden in Israel und dem Westjordanland 100 binnen 10 Tagen im Mai 2015 aufgenommen.
Der Bericht enthält keine wissenschaftlichen Standards entsprechende konfliktethnologische Ursachenanalyse. Er stellt die israelische Politik als einziges Hindernis akademischer Freiheit im Westjordanland und Gaza dar, Einschränkungen des israelischen und palästinensischen Universitätsbetriebes durch den Terror von Hamas, Fatah und PFLP bleiben unberücksichtigt. Der Antisemitismus von Fatah, Hamas und PFLP, den größten organisierten Gruppen, wird nicht als Konfliktursache erwähnt. Polizeiliche Restriktionen infolge des alltäglichen Terrorismus erscheinen als böse Absicht eines israelischen „settler-colonialism“. Die Funktion Israels als jüdischer Staat beinhaltet jedoch nicht die zwangsläufige Diskriminierung anderer Nationalitäten im Inland, sondern im Gegensatz dazu die Verpflichtung zur Integration von Jüdinnen und Juden jedweder Nationalität, und damit eine über andere Nationalstaaten hinausgehende Offenheit. Die Bewegung zur Schaffung einer jüdischen Heimstatt, der Zionismus, ist Reaktion auf zwei Jahrtausende der Diskriminierung und Pogrome. Sie kann keiner ernsthaften konfliktethnologischen Analyse sinnhaft mit dem Kolonialrassismus (Apartheid, Siedlerkolonialismus) gleichgesetzt werden, wie das der Task-Force Bericht der AAA zugrundelegt.
Die Quellenauswahl ist stark gefärbt und berücksichtigt weder wissenschaftliche Standardwerke zum Konflikt noch die Position der israelischen Konfliktpartei. An drei Stellen wird die israelische Politik mit den Methoden der Nationalsozialisten gleichgesetzt.[4] Es wird zudem fälschlich unterstellt, das palästinensische Territorium sei um „90%“ gesunken.[5] Es fehlt schlussendlich eine Einordnung der Verhältnismäßigkeit eines Boykotts akademischer Institutionen. Sobald dieses Mittel etabliert wird, ist jede Forschung einer erfolgreichen kollektivierenden Boykottkampagne ausgesetzt (z.B. als Mittel gegen Diktaturen, der land-grab, die Gefängniskultur in den USA, die Flüchtlingspolitik der EU, den Raubbau im Trikont). Der Fokus auf den ohne eigenes Risiko auszugrenzenden Kleinstaat Israel dient zur Projektion von größeren Problemen unter anderem in den USA und Europa.

Als Reaktion auf den Bericht hat am 20.11.2015 eine Versammlung der AAA einen Boykott israelischer akademischer Institutionen mit einer Stimmenmehrheit von 1040-136 gefordert. Die Resolution wurde in einer Urwahl bis zum am 31.5.2016 knapp abgelehnt mit 2,423 zu 2,384 Stimmen. Die Führung der AAA hat dennoch eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, die im Sinne der Resolution von der israelischen Politik unverhältnismäßige Maßnahmen (etwa den Abbau von Checkpoints und Sicherheitsmaßnahmen) fordern.[6]

Die DGV hat eine dreifache Verantwortung, sich öffentlich gegen jeden Ruf nach einem Boykott Israels auszusprechen. Sie ist erstens an der Wahrung wissenschaftlicher Standards interessiert, die durch die kritiklose Annahme des Task-Force-Berichts durch die AAA verletzt wurden. Sie ist zweitens aus grundlegenden ethischen Gründen zur Solidarität mit dem jüdischen Staat gegen eine genozidale Bedrohung durch islamistische Bewegungen verpflichtet. Sie steht drittens als deutsche Ethnologie in besonderer Verantwortung, gegen aktuelle und künftige Bedrohungen des jüdischen Staates durch den modernisierten Antisemitismus Stellung zu beziehen.

 

 

[1] https://anthroboycott.wordpress.com/signatories/.

[2] Perez, Ramona/Besnier,  Niko/Clarkin, Patrick et alii 2015: Report to the Executive Board. The Task-Force on AAA-Engagement on Israel-Palestine. Via:  http://s3.amazonaws.com/rdcms-aaa/files/production/public/FileDownloads/151001-AAA-Task-Force-Israel-Palestine.pdf.

[3] Task-Force-Report: 5.

[4] „creating a system of oppression with echoes of the very system they had managed to escape.“ Task-Force-Report: 71.
„Israelis have their own powerful claims to victimhood and the irony of a situation in which they have recreated some of the same forms of victimization to which they were subjected.“ Task-Force-Report: 15.
„Concentration Camp“. Task-Force-Report: 18.

[5] „Palästinian Territory has shrunk by about 90%.“ Task-Force-Report: 15.

 

[6] S. Waterston, Alisse 24.6.2016: http://www.americananthro.org/ParticipateAndAdvocate/AdvocacyDetail.aspx?ItemNumber=20835&navItemNumber=592-

Querfront im Wasserglas

Am 17. August 2017 wurden von einem djihadistischen Attentäter in Barcelona 15 Menschen ermordet und 118 verletzt. Bei der Flucht tötete die Terrorzelle eine weitere Frau und verletze sieben Menschen.

Einen Tag später demonstrierten in Las Ramblas, Barcelona, Anhänger der rechtsextremen Partei „Democracia nacional“ (die unter anderem mit dem Schlagwort „Schwulenlobby“ gegen Homosexuelle hetzt), offen als solche erkennbare Neonazis, Faschisten der „La Falange“ und Identitäre gegen die „Islamisierung Europas“. Filme von vorherigen Aktionen und Demonstrationen (1, 2, 3) belegen, dass es sich hier nicht um eine spontane Unmutsbekundung handelte, sondern um eine gut organisierte Klientel, die den deutschen „autonomen Nationalisten“ und den „Hooligans gegen Salafismus“ entspricht und gern den faschistischen Gruß mit beiden Armen praktiziert.
Eine große Anzahl Gegendemonstranten, die sich unter dem Motto „Kein Terror, keine Islamphobie“ versammelt hatten, erkannte in dieser Gruppe die zugrundeliegende Gesinnung und blockierte deren Demonstration.

Am 18.8.2017 kommentierte eine Internetnutzerin aus Norddeutschland die Gegendemonstrationen:

„Die antifaschistische Zivilgesellschaft Barcelonas lässt keinen Zweifel daran, dass sie die Mörder von La Rambla nicht nur nicht als Hauptfeind, sondern als Bündnispartner gegen Rechts betrachtet. Mir ist nicht sehr wohl bei dem Gedanken, dass dieses Katalonien demnächst ein neuer (postnationaler Un-)Staat in Europa werden könnte.“

Dazu schreibt Tjark Kunstreich:

Wie Joel Naber schon in einem anderen Thread zum gleichen Thema sagte: Wo ist die Barbarei je ohne Querfront besiegt worden – sowohl die Résistance als auch die Alliierten waren der politischen Logik der Linken zur Folge nichts anderes. Ich habe die Schnauze so voll von diesen indentitären Linken, die wissen, wo es lang geht, aber sich die Finger keinesfalls schmutzig machen wollen. Sie haben nicht begriffen, worum es geht.

Der Beitrag wurde unter anderem geliked von Dieter Sturm und Joel Naber, beide keine Unbekannten in der sogenannten Szene.

Kunstreich verdrängt zunächst die Geschichte des Begriffes Querfront. Das, was Querfront genannt wurde, ging historisch eher von der Rechten aus, die versuchte, die ärmeren Bevölkerungsschichten mit der Imagination einer Revolution zu ködern. Politisch real wurde die Querfront zuerst als Bündnis von nationalistischen Sozialisten mit rechten Antisemiten. Diese Querfront wurde unter dem Namen „Nationalsozialisten“ erfolgreich. Zur Erinnerung: Die „linken“ Elemente in der NSDAP um Röhm wurden mit dem „Röhm-Putsch“ eliminiert.
Querfront als faschistische Revolutionsmystik ist für den Nazismus überhaupt nichts außergewöhnliches, sondern die Regel – ansonsten wäre er Konservativismus ohne jeden revolutionären Gestus. Daher entstehen seit einigen Jahrzehnten Autonome Nationalisten, die Habitus und Parolen der Linksautonomen kopieren. Man sollte also gegen Kunstreich einwenden: Was an der Idee Querfront ist nicht dieser „Barbarei“, wie man den NS heute so gern verniedlichend nennt, verpflichtet? Wann gab es je eine Querfront GEGEN den Nationalsozialismus, der DIE Querfront schlechthin war?

Dass Kunstreich die demonstrierenden Nazis ausgerechnet mit Alliierten und der Resistance in eins setzt (das Gleiche aber den „Linken“ unterstellt), zeugt von einem Bedürfnis nach Verharmlosung. Er suggeriert nicht nur einen Notstand, in dem der Rechtsstaat nicht mehr funktioniere und keine andere Wahl mehr bleibe als ausgerechnet das Bündnis mit Nazis, um Schlimmeres abzuwehren. Er täuscht auch vor, und das ist vielleicht noch schlimmer, dass das verbale Bündnis einer bedeutungslosen Gruppe von Internetkonsumenten mit diesem flaggenschwenkenden Grüppchen Nazis tatsächlich irgend wirksam gegen den Islamismus würde.

Aus der realen Geschichte, auf die er sich beruft, wird Kitsch. Mussten sich linke Antifaschisten historisch tatsächlich in Kriegszuständen mit konservativen und monarchistischen Kräften verbünden, wie in Italien, so geschah dies in einem Krieg gegen das größere Übel, den deutschen Faschismus. Wer sich hingegen mit Faschisten verbündete, hat den Faschismus gefördert, nicht den Kampf dagegen. Wer glaubt, sich gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ oder gegen Terrorattentate mit Identitären und Nazis gemein machen zu müssen, ist schon bereit dazu, alle Freiheit aufzugeben, die Djihadisten angreifen.

Dass Terrorismus und Gewalt auch Kunstreich nicht fremd sind, bezeugt sein Lamento über Linke, die sich „die Hände nicht schmutzig machen wollen“. Seine neu erwählten BündnispartnerInnen von der Democrazia nacional und Konsorten wissen, wie man sich die Hände schmutzig macht: Mit faschistischen Grüßen, Maschinengewehren auf den T-Shirts, der ganz praktischen Verfolgung von Homosexuellen und Flüchtlingen. All das wird den Islamismus in Pakistan, Bangladesch, Indonesien, Irak, Syrien, Saudi-Arabien, Iran, Mali oder dem Maghreb in keinster Weise eindämmen. Der ins Riesenhafte projizierte Notstand („worum es geht“) ist nicht Ursache einer gefälschten Wahrnehmung, sondern Konsequenz der Verlockung, die der vom Notstand angeblich erzwungene „Schmutz“, also das Bündnis mit der gewalttätigen Autorität, ausübt. Nicht Angst, sondern Lust liegt solchen Äußerungen zugrunde.

Fußnote zu Thomas Maul

Die wesentlichen Argumente zu Mauls AFD-Like wurden hinreichend in diesem Link vorgelegt:

Gepostet von StuRa Uni Leipzig am Donnerstag, 24. Mai 2018

 

Die Reaktion Mauls darauf ist ausschließlich Polemik. Unter anderem wehrt er die Akteure „Die Falken“ und „Naturfreunde“ als „langweilig“ und „öde“ ab.

 

 

Dem Vorwurf der Langeweile misstrauisch zu begegnen, sollte erste Übung in Kritischer Theorie sein, die den Antiintellektualismus in solchem Klamauk im Dienste der Abwehr von Kritik erkennt. Nicht zur Gleichsetzung, sondern zur freundlichen Ermahnung daran, in welche Gesellschaft sich solcher blökende, instrumentelle Spott über die Langeweile begibt, dieses Zitat:

„Derber Humor wurde zur scharfen Waffe der Nazis im Ringen mit der Republik. „Mit schallendem Gelächter haben wir ein ganzes System niedergespottet“, bilanzierte 1937 der junge Chefredakteur des SS-Zentralorgans „Das Schwarze Korps“, Gunter d’Alquen.
Goebbels vertrat die Devise: „Klamauk muss sein.“ Bei der Aufführung des pazifistischen Spielfilms „Im Westen nichts Neues“ am 5. Dezember 1930 im „Mozartsaal“ am Nollendorfplatz setzten SA-Leute im Publikum weiße Mäuse aus. Zuschauerinnen kreischten, bis die Vorführung unter dröhnendem Gelächter der SA-Männer abgebrochen wurde. Goebbels saß im Publikum.
Seine Strategie der Provokation begründete er damit, man könne den Nazis vieles vorwerfen, doch nicht, dass sie langweilig seien.“ http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelgeschichte/d-88536783.html

 

Auch wenn große Teile der Gegnerschaft zu Maul sich tatsächlich an seiner islamkritischen Position stören, reduzieren seine „solidarischen“ Verteidiger Kritik an ihm darauf. Gegnerschaft hat Maul aber diesmal nicht erfahren, weil er den Koran richtigerweise als Grundlage einer Kritik des Islam nahm, oder weil er einmal die unbedingte Solidarität mit Israel forderte. Gegnerschaft hat er von Gruppen und Personen erfahren, denen sowohl Islamkritik als auch Solidarität mit Israel gewiss keine Fremdworte sind, weshalb er eingeladen wurde. Die Solidarisierung mit der AFD hatte eine Vorgeschichte, die an anderer Stelle diskutiert wird. Wer Thomas Maul (oder auch Justus Wertmüller, Clemens Nachtmann, Magnus Klaue, Sören Pünjer, Felix Perrefort) 2018 noch einlädt und sich überrascht gibt über AFD-positive Äußerungen vor dem Vortrag, dem kann man zumindest Naivität oder Lesefaulheit vorwerfen. Nichts, was Maul zur AFD von sich gab, steht in Widerspruch zu den Ausgaben der Zeitschrift „Bahamas“ der letzten Jahre. Als spezifischen „Absturz“ – es war eher eine sanfte Landung nach langem Sinkflug am angekündigten Ziel – gab Thomas Maul allerdings dies von sich:

 

 

Was immer man von dem Begriff „barbarische Regression“ halten mag: hier spricht zunächst das Kapitalverhältnis aus Maul.  Die „Karriere“ von Individuen wird als höherer Wert gesetzt als das dazu „in Verhältnis“ niedriger erachtete Bedürfnis, über Übergriffe zu sprechen. Vermutlich war es eben die gleiche ökonomische Abwägung Roches, den Vorfall so lange nicht zur Anzeige zu bringen. Sie stufte es als unangenehme Bagatelle ein und sagt das auch so. Suspendiert wurde Gebhard Henke aber nicht aufgrund ihres Berichtes alleine, sondern weil sechs Frauen etwas Ähnliches berichteten. Nun kann man darin eine Verschwörung vermuten – dafür sollte man dann aber als zivilisierter Autor auch ein paar Argumente und Hinweise haben. Es gehört aber unabhängig davon einiges an Wahn dazu, anzunehmen, dass im Umgang mit Henke „barbarische Regression“ stattfände. Vielmehr zeugen die Reaktionen von relativ routinierten, kühlen institutionalisierten Prozessen, wie sie gerade Kennzeichen von demokratischen Institutionen sind. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Freundinnen und Freunde von Henke solidarisierten sich öffentlich mit ihm und gaben unter dem Vorzeichen eines letzten Zweifels ihre eigene Menschenkenntnis zur Person zu Protokoll – was allseits abgedruckt und erwähnt wurde. Der Vorsitzende war weit davon entfernt, sich nur dem Druck barbarischer Horden zu unterwerfen.

„WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn zeigte sich gegenüber dem Spiegel „überrascht“ von den Anschuldigungen. Er arbeite seit Jahren „sehr eng und vertrauensvoll“ mit Gebhard Henke zusammen. Eine Entlastung von den Vorwürfen schließe er nicht aus, allerdings halte er die Schilderungen der Frauen für „gravierend und glaubwürdig“.“ (Zeit)

 

Soviel zur Zivilisation und Verhältnismäßigkeit. Was aber zu Maul? Ist sein Verhalten „verhältnismäßig“? Er will Roche, weil sie ihr demokratisches Recht auf Redefreiheit genutzt hat, „auf der Anklagebank“ sehen. Nehmen wir an, Roche und die anderen fünf Frauen sind tatsächlich sexuell belästigt worden, wogegen Maul keine Indizien oder Argumente vorlegt. Wäre es „verhältnismäßig“, sie dafür vor Gericht zu bringen? Ist es zivilisatorisch, wenn Frauen, die über ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung sprechen, dafür auf die „Anklagebank“ wandern, weil „Ruf und Karriere“ eines Mannes geschädigt wurden – mutmaßlich von diesem selbst?
Das ist nicht zivilisatorisch, sondern genau das, was Maul in einem seiner besseren Bücher als schariatisches Prinzip kritisiert: Solange der öffentliche Schein eines frommen Kollektivs gewahrt ist, sind die tatsächlichen Vergehen egal.

Zur Publikation seiner Phantasie von sechs Frauen auf der Anklagebank auf Facebook gehörte ein Gutteil Berechnung auf die „Regression“ seines Publikums. Hier geht es nicht mehr darum, in einem zweifelhaften Fall das Prinzip „in dubio pro reo“ zu verteidigen oder den Rückfall von linker Szenejustiz und ihrem mackerhaften, weil löchrigen Versprechens des Opferschutzes hinter bürgerliche, leider in Sachen Sexualstrafrecht ebenso „löchrige“, Justiz zu kritisieren. Hier geht es Maul darum, Menschen, die aller Wahrscheinlichkeit nach wirklich sexuelle Belästigung im wirklich klassischen Sinne (Anfummeln in öffentlichen Situationen unter Ausnutzung der eigenen Machtsituation) erfahren haben, virtuell „auf die Anklagebank“ zu bringen. Und das ist nicht die Verteidigung bürgerlichen Rechts, das ist Abstellen auf autoritäre Strafgelüste des Mobs. In der Terminologie Mauls: „barbarische Regression“.