Rough Music – Lina E. und der Vigilantismus gegen Nazis

Screenshot aus: Welt Nachrichtensender, 2.6.2023: https://www.youtube.com/watch?v=qitQUaecRd4.

Nach 30 Monate U-Haft erhielt Lina E. nun fünf Jahre Haft für die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Der Haftbefehl wurde jedoch wegen guter Führung und langer U-Haft ausgesetzt, was auf Freigang auf Bewährung und unter Auflagen hinausläuft.
In Leipzig wurden nun auch in zweiter Instanz linke Demonstrationen gegen das Urteil verboten.
Und die Innenministerin Nancy Faeser tritt vor die Kamera und behauptet: „Wir gehen tatsächlich genauso entschieden gegen Linksextremismus wie gegen Rechtsextremismus vor.“
Die Gleichsetzung von Gewalt und Gegengewalt, die Vermischung und Verkehrung von Tätern und Opfern – das ist der Punkt, an dem das liberale Bürgertum dem Faschismus zuarbeitet.

Auch wenn die Einzelheiten des Urteils noch nicht bekannt sind, fällt an den dummdreisten Reaktionen darauf auf, dass sie einem Schritt in den Vigilantismus die Legitimität regelrecht aufzwingen. Gerade weil die Innenministerin nicht moralisch Recht und Unrecht unterscheiden kann, gerade weil die Behauptung der Gewaltfreiheit nicht im Sinne des Grundgesetzes und der durch Gewalt geborenen Demokratie ist, gerade weil das Gewaltmonopol durchaus Grundlage eines zivilisierten Miteinanders ist und gerade weil dieses Gewaltmonopol gegen Nazis nicht nur versagt, sondern von Nazis in Judikative und Exekutive durchseucht ist, ist eigentlich ein sozialwissenschaftliches Rätsel, dass so viele Antifaschist*innen nicht zum Vigilantismus schreiten. Das liegt meist daran, dass zum Einen die Angst vor einer Gegengewalt („Aufrüstungsspirale“) und einem Verlieren in den faschistisch dominierten Zonen groß ist und zum Zweiten, dass in der Linken strukturell das Gewalttabu viel stärker internalisiert wurde und jeder Bruch erheblicher Rechtfertigung bedarf.

Terry Pratchett hat eine schöne Metapher für den Vigilantismus geschaffen: Rough Music. Im vierten Band („I shall wear midnight“) der Reihe um Tiffany Aching („The wee free men“), einem der besten Werke englischsprachiger Literatur überhaupt, bringt er den Lynchmob in seiner ganzen Ambivalenz zum Klingen. Auch wenn er seine Hauptdarstellerin Tiffany Aching subversiv gegen den Lynchmob arbeiten lässt, und auch wenn er die rauen Musiker in ihrer hexenjägerischen Infamie zeichnet, blickt er dennoch wohlwollend auf das Prinzip, dass Leute kollektiv „genug haben“ und mit Waffen, die eigentlich keine Waffen sind, extremen Störungen des zivilisierten Miteinanders entgegentreten: gegen häusliche Gewalt, gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Rough Music ist die Revolte, die konformistisch, regressiv und reaktionär sein kann, aber in ihrem Prinzip eine Kulturleistung zur Emanzipation darstellt.
Ein ähnlich ambivalentes Bild des Vigilantismus entwirft Ray Abrahams in „Vigilant Citizens“. Zwar bedrohen vigilantistische Bewegungen das Gewaltmonopol und erzeugen humanitäre Krisen durch Folter und Hexenjagden, sehr häufig entstehen sie aber in Situationen eines schwachen Gewaltmonopols. Sie erodieren weniger, als dass sie Zeichen der Erosion sind: Wie die Steine, die unter dem dünnen zivilisatorischen Humus herausgewaschen werden. Zum Vorschein kommen der KuKluxKlan, rechte Todesschwadronen, Jugendbünde in Tansania, Gewerkschaften, Bürgerwehren gegen Kriminelle und Vergewaltiger – oder weitergedacht eben Sportantifas, die ihren Kietz verteidigen. Der Vigilantismus ist zwar anfällig für rechtsextreme Motive – Folter, öffentliche Erniedrigung, Todesstrafe. Er geht aber nicht darin auf.

Die Erosion oder wenigstens einen erkennbaren Rückstand des Gewaltmonopols im Kampf gegen den Faschismus einzugestehen wäre der erste Schritt ehrlicher Politik. Auch wenn man das Ausagieren von Sadismus in konkreter Gewalt des abschreckenden Zusammenschlagens von Nazis verabscheut, auch wenn der Linksextremismus von schrecklichen Ideologien befallen ist, so gehört doch zum Beweis der politischen Diskursfähigkeit dazu, in Actio und Reactio unterscheiden zu können. Wer heute Nazi wird, ist eine wandelnde Morddrohung, eine Traumamaschine für Opfer des Nationalsozialismus und Nachkommen von Opfern. Bereits der Anblick von offenen Sympathisant*innen des Rechtsterrorismus bedeutet Gewalt für die Opfer. Der Staat hat den Rechtsterrorismus aber nicht nur nicht bekämpft, sondern aufgebaut. Teilweise durch den Verfassungsschutz, teilweise durch Gerichtsurteile, teilweise durch Unterlassung und teilweise in völlig selbstverständlich empfundener Integration rechter Ideologien in den Staatsapparat. All das ist hinreichend und über Jahrzehnte hinweg wissenschaftlich und empirisch belegt: mit den Skandalen um den Verfassungsschutz, mit der NSU-Affäre, mit Nazi-Chatgruppen in Polizei und Bundeswehr, mit der Existenz von rechtsextremen Richtern, mit der schrittweise Umsetzung von rechtsradikalen Forderungen in Realpolitik durch CDU/CSU.
Wo mehrheitliche Wählerschaften Parteien wählen, die ihnen de facto den Genozid an den Außengrenzen der EU versprechen, was die Konsequenz der Politik von CDU/CSU, Freien Wählern, AFD und Teilen der FDP ist, da ist dem Faschismus inhaltlich keine Schranke gesetzt. Wer sagt, es solle Obergrenzen geben, sagt implizit, dass man alle Überzähligen zu Tode bringen wird – durch Drittstaaten, Söldner und natürliche Beschaffenheiten wie Wüsten, Meere, Flüsse, Berge, Winter. Dass diese Erosion von Zivilisation Erfolg hatte, ist Resultat des Terrors von Nazis in den 1980ern und 1990ern und einer großen Welle von Brandanschlägen und Attentaten im Jahr 2015.
Die stetigen Wahlergebnisse für die AFD und die Militanz des Rechtsextremismus vor allem in Bayern und Ostdeutschland zeigen, dass das Gewaltmonopol nicht wirkt oder nicht Willens ist. Das ist eine einfache Beobachtung. Wer das Defizit nicht erkennt und benennt, macht sich der Mittäterschaft schuldig.
Nancy Faeser setzt Linksextremismus und Rechtsextremismus gleich und behauptet in vollendeter Verkehrung der realen Verhältnisse, beide würden gleichermaßen bekämpft. So jemand sollte nicht Innenminister in einem Land sein, das den Nationalsozialismus hervorbrachte. Wer nach dem Nationalsozialismus Rechtsextremismus und Linksextremismus gleichsetzt, ist eine Gefahr für die Demokratie, weil er oder sie leugnet, dass die Demokratie in einem Akt der Gewalt gegen den Faschismus und in den Antifaschistischen Aktionsausschüssen geboren wurde, die in der Übergangszeit die Entnazifizierung organisierten. Wenn SPD-Politiker*innen vergessen, dass 1949 SPD-Politiker den Nazi Wolfgang Hedler aus dem Bundestag prügelten, denselben Wolfgang Hedler, den in die Bundesrepublik übergetretene Nazirichter vom Vorwurf der „Beleidigung des Andenkens Verstorbener“ freisprachen, wenn sie den Antifaschisten Willy Brand und den Nazi Kurt Georg Kiesinger nicht auseinanderhalten können, wenn sie ihre eigenen antifaschistischen Kampfbünde vergessen, die Gewalt gegen Faschisten aus blankem Überlebenswillen konspirativ planen und organisieren mussten, wenn sie das Prinzip der richtigen Gewalt gegen Nazis verleugnen, wenn sie nicht wahrhaben wollen, dass die einen nicht genug bekommen können von Gewalt, während die anderen einfach genug davon haben und deshalb zur Gegengewalt schreiten, produzieren sie einen Treibsand aus Kitsch und Lügen, in dem zuallererst die politische Mündigkeit ertrinkt.




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