Eine Studie über angebliche Intoleranz der Linken mit dem reißerischen Titel „Is Free Speech in Danger on University Campus? Some Preliminary Evidence from a Most Likely Case“ hat es über einen FAZ-Artikel und ein share der Professorin Dr. Susanne Schröter in den Diskurs geschafft. Das Fazit gibt eine eindeutige Richtung vor, die exakt in das Interesse der neuen Rechten an Diskursverschiebungen und Täter-Opfer-Umkehr passt.
„Linksgerichtete Studierende sind weniger bereit, umstrittene Standpunkte zu Themen wie Gender, Einwanderung oder sexuelle und ethnische Minderheiten zu tolerieren. Studierende rechts der Mitte neigen eher dazu, sich selbst zu zensieren.“
Die Buzzwords „Toleranz“ und „Selbstzensur“ machen aus rechtsradikalen Studierenden sensible Opfer, die sich introvertiert zurückhalten, wo sie doch nur gern ihre Meinung sagen würden. Was aber wurde abgefragt? Ob eine Person an der Universität lehren dürfe, wenn sie die folgenden Spezifika aufweise:
“A person who is against all forms of immigration to this country”
Soll jemand, der gegen alle Formen der Einwanderung in dieses Land ist, an Universitäten lehren? Eine Haltung, die man ohne zu Zögern den gehärtetsten und isolationistischsten Neonazis zuschlagen darf, wird zur Messlatte von Toleranz gemacht. Wer Nazis nicht toleriert ist selber Nazi – auf diesem Niveau bewegt sich Wissenschaft, die dafür tatsächlich Aufmerksamkeit erhält. Leider nicht weil sie so unterirdisch schlecht und eindeutig tendenziös designed wurde, sondern weil ihr angebliches Ergebnis so gut ins Bild der neuen Rechten passt. Dabei ist das Ergebnis wirklich bedrückend: 69% einer angeblich vorwiegend linken Studierendenschaft fände es richtig, wenn Neonazis in diesem Sinne an Universitäten vortragen dürfen und 23% fänden es in Ordnung, wenn so eine Person sogar dauerhaft lehren darf. Und immer noch ganze 44% wären gelassen im Umgang mit Referent*innen, die Homosexualität für „Sünde“ halten.
Die Studie ist sich ihres gar nicht mehr als „bias“ zu fassenden Fehldesigns völlig bewusst und unterstreicht daher noch einmal ihre ausschließlich normative Absicht:
„Third, it is important to understand that we are not saying that extreme right-wing views are illegitimately shut down on university campus. Although the acceptance of extremist views on university campus is an important debate in itself, we are concerned with the silencing of legitimate political views that simply deviate from leftist orthodoxy on issues such as gender, immigration, and sexual or ethnic minorities. It is students who place themselves right-of-center, who identify as conservative, classical liberal, libertarian, or who vote for parties such as the CDU or FDP who are reluctant to speak openly about these political issues.“
Einer der beiden Studienautoren macht diesen Standpunkt auf Twitter noch einmal deutlich:
Hier wird eindeutig festgelegt, dass es NICHT eine rechtsextreme Einstellung ist, gegen alle Formen der Einwanderung zu sein, sondern nur eine „moderate“, „deviante Position“, die von der „“linken Orthodoxie“ abweiche.
Die konkreten Fragen interessieren die Studie nicht: wieso eine progressive und liberale Bewegung in den USA und Großbritannien, die von essentieller Bedeutung für die Überwindung des Rassismus wäre, so vollständig an den Antisemitismus gegen Israel gefallen ist und warum sich relativ viele Linke mit einer Religionskritik des Islam so schwer tun. Darunter leiden aber in der Regel nicht rechte Sprecherinnen und Sprecher, sondern Linke und Liberale, die sich nicht auf Seilschaften in Burschenschaften oder rechte Thinktanks zurückziehen können.
Tatsächlich sollte man die Frage weitertreiben: Wie kann jemand (1, 2), der derart schlechte und tendenziöse Studien für einen berechenbaren Zweck entwirft und publiziert, im akademischen Betrieb erfolgreich sein? Die Studie gibt daher ungewollt Auskunft über den Zustand von Universitäten und sogenannter quantitativer Forschung heute.
Dunkelziffern, Datenmangel, keine empirische Grundlage – diese Begriffe sind verbreitete Floskeln in der öffentlichen Diskussion um Corona. Sie sind Ausdruck des herrschenden Positivismus, der Ideologie des vereinzelten Fakts. Vermitteltes Wissen, lebendige Erfahrung und logische Schlüsse, kurz gesagt die Ideale Kritischer Theorie, hingegen sind wichtiger denn je.
Dunkelziffern
Die Behauptung, es gebe gewaltige „Dunkelziffern“ bei den Corona-Erkrankungen wird vor allem verwendet, um entweder die Todesraten anzuzweifeln oder um die Maßnahmen für wirkungslos, weil zu spät, zu erklären. Dunkelziffer ist ein Begriff aus der Kriminologie. Er geht davon aus, dass Verbrechen nicht angezeigt werden. Daher wird aus Erfahrungen von Fachleuten hochgerechnet, was mögliche reale Fallzahlen sein könnten. Dunkelziffer bedeutet nicht, dass man nichts genaues nicht wissen kann und das für immer so ist, sondern dass man diese Dunkelziffer eben nicht im Dunklen belässt und nach Möglichkeit klärt, welche Schätzungen realistisch sind und wie man dennoch Prävention und Strafverfolgung auf diese näherungsweise eruierte Realität ausrichtet. Kurzum: Dunkelziffern erfordern die Extrapolation von Daten zur Erzeugung von Handlungsanweisungen in unklaren Verhältnissen und nicht Schulterzucken und Agonie.
Der Transfer des Begriffs in die Medizin ist fragwürdig, denn hier geht die „Dunkelziffer“ nicht von individuellem Schamgefühl oder juristischen Hürden oder unklarer Wahrnehmung (z.B. was ist sexueller Missbrauch) oder unmündigen Opfergruppen aus. Es ließe sich sehr leicht empirisch klären, wie groß der Durchseuchungsgrad mit dem Coronavirus aktuell ist. Dazu kann man entweder mit Blutproben Antikörpernachweise durchführen oder mit Abstrichen den Erregernachweis. Eine solche Studie dürfte je nach n wenige Tage dauern und präzise Auskunft geben. Diese Daten nicht zu haben beschreibt einen Rückstand, ein institutionelles Versagen.
Es gibt aber auch logische Hinweise auf eine relativ geringe Dunkelziffer: 1. Das Auftreten von getesteten Erkrankungen in Clustern (z.B. Hamburg, Berlin, Bergamo). Würde eine hohe Durchseuchung der Bevölkerung vorausgesetzt, wäre auch die Verbreitung von schweren Fällen breiter gestreut. Diese Streuung findet zweifellos mit einer hohen Zahl milder Verläufe statt. Aber sie ist nicht abgeschlossen. Daraus können wir Rückschlüsse über die „Dunkelziffer“ ziehen. Die sich testen ließen. 2. Das Verhältnis bei den tatsächlich getesteten Personen (aufgeteilt in symptomatisch, asymptomatisch) zwischen erkrankt und nicht erkrankt gibt Aufschluss über den Durchseuchungsgrad bei Personen mit Symptomen und Kontakten zur Risikogruppe. Sind Personen mit Symptomen relativ selten tatsächlich erkrankt, ist umso unwahrscheinlicher, dass Personen ohne Symptome relativ häufig erkrankt sind. 3. Der Anstieg der Todesrate, also das Wachstums des Wachstums. Eine hohe Durchseuchung erzeugt ein viel höheres Wachstum der Fälle und damit einen viel stärkeren Anstieg der Todesraten und wiederum eine breitere Streuung.
Wir können aus den vorliegenden öffentlichen Daten schließen, dass das Virus vorerst NOCH in Clustern verbreitet ist, dass also noch keine durchgehende Durchseuchung oder „erste Welle“ stattgefunden hat, wie das mitunter erwogen wird. Auch in Italien haben wir kaum Todesfälle im Süden, es bleibt regional beschränkt. Wir können weiter daraus schließen, dass die getroffenen Maßnahmen ein gewisses Containment innerhalb von Regionen erreichen können.
Empirische Daten
Die Behauptung, es gebe keine „empirischen Daten“ über die Wirksamkeit von bestimmten Maßnahmen ist vor allem vernunftfeindlich. Es gibt einen sehr klaren Vektoren der Infektion: Die Tröpfcheninfektion. Somit kann eine wirksame Unterbrechung der Infektionsketten nur stattfinden durch das Ausschalten der Tröpfcheninfektion. Und daher sind Maßnahmen angeraten, die 1,5 Meter Distanz erzeugen (und somit die Möglichkeit einer Tröpfcheninfektion verringern) und zusätzliche Hygiene im Bereich häufig berührter Gegenstände und Händewaschen fördern. Ebenso sind Maßnahmen wie die Isolierung hustender oder niesender Personen dringend angeraten und das Tragen eines Mundschutzes durch Personen mit leichen Symptomen in der Öffentlichkeit. Wir können auch empirische Daten extrapolieren, um Prognosen zu erstellen: Aus bestehenden Länderdatensets zu Maßnahmen und der Ausbreitung, aus dem Vergleich mit historischen Infektionsverläufen ähnlicher Erkrankungen, aus dem Vergleich mit anderen, aber ähnlich invasiven Erkrankungen, wir können Erfahrungen mit HIV-Leugnung, Pockenimpfkampagnen und Impfgegnern hinzuziehen.
Ausgangssperren
Eine Ausgangssperre unterbricht natürlich nur indirekt die Infektionskette, weil sie Personen davon abhält, diese Distanzregeln und Hygieneregeln nicht zu befolgen. Diese Maßnahme ist aus medizinischer Sicht Unsinn, weil sich das Virus nicht über die Luft überträgt und eine Infektion auch durch Distanz vermieden werden kann. Sie ist sogar kontraproduktiv, weil sie Personen von Bewegung an der frischen Luft abhält. Sie ist aber aus soziologischer Sicht eine Disziplinarmaßnahme zur Erzeugung von Compliance zur Einhaltung von sozialer Distanz. Ausgangssperren werden wegen Corona-Parties und Weinfesten diskutiert und nicht, weil das Virus durch die Luft fliegt.
Epidemiologisch sind Ausgangssperren dort begrenzt sinnvoll, wo Menschen isolierbar sind. In Slums des Trikont mit hoher Dichte von Menschen auf kleinstem Raum kann eine solche Maßnahme hingegen kontraproduktiv sein, weil die soziale Distanz im Privaten weniger gegeben ist als im Freien. Dennoch waren in Westafrika Ausgangssperren ein wichtiges Mittel gegen Ebola und sie sind bekannt aus der Medizingeschichte des subsaharischen Afrikas: als traditionelles Mittel gegen Pockenepidemien.
Überwachung
Umgekehrt verhält es sich mit den Maßnahmen der Überwachung von Handys und Kontaktgruppen. Diese sind aus virologischer und epidemiologischer Sicht sehr sinnvoll und wirksam, aus soziologischer Sicht aber katastrophale Eingriffe in elementare Werte dieser Gesellschaft.
Zwischenfazit
Es existieren genügend valide Daten, deren interdisziplinäre und vernunftmäßige Betrachtung relativ eindeutige Rückschlüsse auf den Sinn und Unsinn von Maßnahmen erlaubt. Der Mangel an medizinischen Daten gibt Auskunft darüber, was versäumt wurde und was geklärt werden muss. Der Mangel an Daten kann aber nicht als Argument herhalten, Maßnahmen generell zu sabotieren oder für unwirksam zu erklären. Jede Kritik an konkreten Maßnahmen hat sich am vollständigen Set verfügbarer Daten und Fakten zu orientieren und Alternativen zu präsentieren.
Ideologie der Verlangsamung und die Situation im Trikont
Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist bedenklich, wie wenig die psychologischen Auswirkungen der Vermittlung von Maßnahmen bedacht werden. Bereits zu Beginn der Epidemie in Deutschland, als es noch wenige Fälle gab, einigte sich die Elite in den Medien auf die Formel der „Verlangsamung“. Kommuniziert wird, dass eine kontrollierte Durchseuchung angestrebt wird. Es wird nicht geklärt, warum ein Stopp der Ausbreitung unmöglich sein soll und/oder was der Preis für einen Stop der Ausbreitung wäre. Auf dieser Grundlage entsprechen sich die Modelle von Großbritannien, Finnland, Niederlande und Deutschland: Kein Land hat das Ziel ausgerufen, die Epidemie zu stoppen. Das senkt die Compliance, weil eine Infektion unausweichlich erscheint. Die Ideologie der „Verlangsamung“ kaschiert aber auch Staatsversagen: Klar ist, dass entsprechende Szenarien einer Corona-Infektion durchgespielt wurden, dass es Maßnahmensets gibt und dass die Krise zu Beginn nicht ernst genommen wurde. Ebenso klar ist, dass die Verantwortung dafür bei der aktuellen Regierung liegt, die einen sehr wahrscheinlichen Fall einer globalen Coronavirusinfektion analog zu SARS oder MERS nicht adäquat vorbereitet hat und die Intrusion des Virus in die breitere Bevölkerung erlaubte. Mit der Formel „Verlangsamung“ wird dem Virus Übermacht einer Naturkatastrophe zugesprochen, um die Schwäche des Staates zu kaschieren.
Was bedeutete die Ideologie der „Verlangsamung“? Sie bedeutete die globale Ausbreitung des Virus insbesondere auf das subsaharische Afrika. Die meisten Infektionen dort kamen aus Europa. Hier existiert keinerlei Redundanz von Beatmungsgeräten. Es gibt hier keine freien Betten, keine Grenze, unter der man die Infektionsraten halten könnte. Wo medizinische Maßnahmen nicht vorliegen, bleibt die Wahl zwischen autoritärer Quarantäne mit Todesfolge für die am härtesten Betroffenen und, sehr viel wahrscheinlicher, eine rasche und gravierende Durchseuchung der Gesellschaften mit hohen Todesraten aufgrund fehlender Intensivpflege. Besonders betroffen sind hier Alte, Mangelernährte, HIV-Erkrankte. Hochgradig tödlich ist aber auch das Zusammentreffen von Corona mit Malaria, Typhus und anderen Tropenkrankheiten. Die europäischen Staaten haben hier sämtlich an sich selbst gedacht, die Folgen für die eigene Wirtschaft abgewogen und die eigenen Krankenhausbettenzahlen hochgerechnet. Internationale Verpflichtung gegenüber den Staaten im Trikont wurde nicht diskutiert und fand nicht statt. Das Ergebnis können mehrere hundert Millionen Tote sein. Die afrikanischen Gesellschaften kennen ihre Verwundbarkeit und sind dementsprechend in der „Panik“, die man in Deutschland „vermeiden“ wollte dadurch, dass man keine wirksamen Maßnahmen zu Beginn der Krise traf und technokratisch Maßnahmen dann plante, „wenn die Infektionsrate auf einem Höchststand“ ist.
Zusammenfassung:
Kurz: Man hatte in Deutschland, in Europa nie den Plan stark gemacht, die Ausbreitung zu stoppen und das Virus auszurotten. Die Gründe dafür sind unklar, deutlich ist, dass wirtschaftliche Erwägungen die größte Rolle spielten. Ideologisch befindet man sich aber auf einer Ebene mit den antiwissenschaftlichen, eugenischen Durchseuchungsplänen der Niederlande und Finnlands und sucht lediglich einen weniger schlechten Kompromiss mit der selbsterzeugten Realität. Was notwendig wäre: Eine Ethikkommission einzuberufen, die Fakten interdisziplinär zu verhandeln, der Virologie ihren Platz, aber auch nicht mehr, zuzugestehen, und einen Plan auszuarbeiten, wie das Virus auszurotten wäre. Dieser Plan hätte als zentralsten Punkt zu beinhalten, wie erwartbare Katastrophensituationen im Trikont und in Flüchtlingslagern bewältigt werden sollen, die jetzt, sofort, heute vorbereitet werden müssen. Alles andere wäre ein Bekenntnis zum dezimillionenfachen Tod durch die Ansteckung afrikanischer Staaten durch europäisches laissez-faire im Umgang mit einer Infektionskrankheit. Der nationale Egoismus, der bisherige Strategien der Beschaffung von medizinischem Material kennzeichnet, muss vollständig überwunden und in internationale Solidarität verwandelt werden. Beatmungsgeräte müssen international nach Bevölkerungszahl und Infektionsrate verteilt werden, nicht nach Einkommen.
Bekämfung: Tests, Tests und Tests
Das Ende der Corona-Krise kann nur auf zwei Wegen geschehen: 1. Die massive Ausweitung der Testkapazitäten und die möglichst häufige Testung möglichst vieler, um die Quarantänemaßnahmen präziser zu dosieren. Ein Plan zur massiven Ausweitung der Testkapazitäten wird aber öffentlich nicht kommuniziert, die Hindernisse nicht adäquat benannt. Tests sind das Rückgrat der Epidemiebekämpfung. Medial sind Tests eine sideshow. Man macht sich über Leute lustig, die sich „ohne Grund“ testen wollen, verweist auf die begrenzte Zahl von Tests, ohne öffentlich zu rechtfertigen, warum Tests Mangelware sind und warum Personen mit Symptomen nur getestet werden, wenn sie auch Kontakt zu einer getesteten Person hatten. 2. Die andere Möglichkeit zur Eindämmung des Virus ist die Impfung. Impfungen aber sind invasiv, schwerfällig, dauern als globale Kampagne Jahre, die Risiken sind unklar. Nach derzeitigem Ausbreitungsstand wird eine Impfkampagne der Durchseuchung nicht mehr zuvorkommen. Das unterstreicht zusätzlich die immense Bedeutung von Tests. Die Quarantänemaßnahmen sind nicht bis zu einer Impfung aufrechtzuerhalten. Tests liegen aber jetzt schon vor und können rascher ausgeweitet werden als Impfungen. Der Öffentlichkeit muss endlich ein Plan kommuniziert werden, mit welchen Mitteln welche Testfrequenz wann erreichbar sein wird. Dieser Plan hätte für den B-Waffen-Fall nach 9/11 oder für Epidemien nach SARS, Ebola und MERS längst erarbeitet sein müssen. Dass er Wochen nach dem Eintreten des Pandemiefalls noch nicht vorliegt, ist Staatsversagen.
Nachtrag
Herdenimmunität: Dieses Konzept taucht immer wieder auf. Herdenimmunität ist ein komplexes Phänomen mit vielen Faktoren, man beginnt bei anderen Krankheiten mit Tröpfcheninfektion mit Schätzungen von ca. 75% Immunität der Gesamtbevölkerung, um Herdenimmunität zu erreichen, realistischer sind Schätzungen ab 85% und für eine hochansteckende Krankheit wie Corona mit langer Inkubationszeit sollte man aus reiner Vorsicht eher von über 90% erforderlicher Immunität für das Erreichen von Herdenimmunität ausgehen, wenn man nicht sehr gute Gründe nennt. Daher wurde Boris Johnson auch in England von Wissenschaftlern bedrängt, seine Strategie aufzugeben, die leider in Finnland und Niederlanden noch wirksam scheint.
Indigene Gesellschaften: Völlig unverantwortlich ist, dass in den Pandemie-Szenarien bisher indigene Gesellschaften nicht vorkommen. Corona kann in isolierteren Gesellschaften z.B. im Amazonas-Tiefland viel heftigere Konsequenzen haben und genozidale Auswirkungen haben. Einige indigene Gesellschaften sind für Impfkampagnen sehr schwer zu erreichen, dadurch vor einer Ansteckung besser geschützt, aber eben auch ohne jeden Zugang zu medizinischer Hilfe im Falle einer Einschleppung der Krankheit, die heute sehr wahrscheinlich ist. Es kann auch zu genetisch bedingter Anfälligkeit bei endogamen und Inselgesellschaften kommen. Dazu fehlen schlicht die Informationen und es sind daher worst-case-Szenarien angebracht, die sich an historischen Erfahrungen orientieren.
Frieden zwischen Israel und Palästina zu schaffen ist so etwas wie das Tabletop-Rollenspiel unreifer Diplomaten. Man setzt sich für Tage in einen Keller, Cola und Chips, schwelgt in wildesten Szenarien und erfindet Fantasietruppen, deren Stärken ausgewürfelt werden, um dann irgendwann herauszukommen mit dem Gefühl, etwas Großartiges geschafft zu haben. Nun stelle man sich vor, es würden Journalist*innen tagelang vor dem Keller warten, aufgeregt berichten, ob der Drachen mit 33 Stärke und 17 Magie den Greifen mit 17 Stärke und 33 Magie schlagen konnte, ob die Figuren von den Spielenden penibelst genug lackiert wurden, und alle kommentieren das als weltpolitisches Ereignis. Manche stänkern, die Spielenden würden nur von ihren aufgeschobenen Hausarbeiten ablenken wollen, andere halten das ganze Spiel für blöd, und wieder andere sind beleidigt, dass sie nicht mitspielen durften, alle sind sich aber einig, dass das Wohl und Wehe der Menschheit davon abhängt.
Jeder derart weltfremd erstellte Friedensplan für den Konflikt um das Westjordanland oder Judäa und Samaria hatte bislang mindestens einen Fehler: Er stellte die Forderungen Israels als Expansion dar. Tatsächlich gesteht Israel jedesmal ein Abrücken von einer historischen Position zu, das beispiellos in der Geschichte von staatlichen Grenzkonflikten ist.
Am 2.8.1914, einen Tag nach Ausbruch des ersten Weltkrieges durch deutsche Kriegsschuld, beschloss das osmanische Reich mit dem Deutsch-Türkischen Bündnisvertrag eine Wette einzugehen: Wenn es den bereits begonnenen Krieg an der Seite Deutschlands gewinnen würde, hätte es weitreichende Gebietsgewinne zu erwarten. Das osmanische Reich ging während des Krieges mit genozidaler Gewalt gegen Minderheiten vor, darunter den Genozid an bis zu 1,5 Millionen Armenier*innen. Es verlor die Wette auf Land und damit das zuletzt noch von deutschen, östereich-ungarischen und osmanischen Truppen verteidigte Palästina an die Briten. 1920 sah die San-Remo-Konferenz im United Kingdom (UK) den legitimen Rechtsnachfolger für das künftige Mandatsgebiet Palästina.
Das dünn besiedelte, von Sümpfen und Wüsten geprägte Stück Land mit mehrheitlich jüdischer Bevölkerung in Jerusalem und mehreren alten jüdischen Städten und Dörfern wurde bereits am 2.11.1917 in der Balfour-Deklaration den verfolgten Juden aus aller Welt als Heimstatt versprochen. Im Gegenzug unterstützten Juden das UK im Weltkrieg.
Zionistische Emmissionäre verhandelten aber auch mit den arabischen Nachfolgern des osmanischen Reiches. Am 3.1.1919 wurde auch das Faisal-Weizmann-Abkommen geschlossen: Der König von Irak und Syrien gab darin Palästina den Juden unter der Bedingung, dass die Autonomie der arabischen Staaten gewährleistet bliebe – durch die Aufteilung seines Hoheitsgebietes zwischen dem UK und Frankreich wurde der Vertrag zunichte gemacht.
Das Völkerbundmandat für Palästina stellte hingegen eine internationale Rechtsgrundlage her. Transjordanien wurde für einen weiteren arabischen Staat vorgesehen und als Jordanien gegründet, das übrige Land auf der anderen Seite des Jordans für einen jüdischen Staat ausgeschrieben, in dem andere Minderheiten gleiche bürgerliche religiöse Rechte verbrieft sein sollten.
Das war die Rechtsgrundlage vor dem Aufflammen ständiger Angriffe arabischer Freischärler und Terrorbanden, die sich in den 1920ern massiv verstärkten bis hin zu Pogromen, z.B. den Pogromen in Hebron. Als Reaktion auf den Terror und um die eigene Macht in der arabischen Welt zu stützen schlug sich Großbritannien schrittweise auf die Seite der arabischen Extremisten und entzog dem zionistischen Projekt mit der Peel-Kommission vom 7.7.1937 den geographischen Boden: Lediglich Nordisrael um den See Genezareth solle unter jüdische Souveränität gelangen, Jerusalem unter internationaler Verwaltung bleiben, der ganze Rest Organisationsbasis arabischer Terroristen bleiben dürfen, die fast täglich Übergriffe, Sabotage, Infiltrationen und Terrorakte auf jüdische Siedlungen unternahmen.
Mit dem MacDonald-Weißbuch von 1939 schließlich gaben die Briten vollständig ihre Unterstützung einer jüdischen Heimstatt auf und verpflichteten sich vertraglich, die Einwanderung von Juden drastisch zu beschränken: Auf insgesamt 75,000 in den kommenden fünf Jahren. In diesen fünf Jahren wurden in Europa sechs Millionen Juden ermordet. Das UK verhinderte in dieser Zeit das Ablegen und Anlanden von Flüchtlingsbooten, die Juden vor dem Holocaust retten sollten. Es wurde zum Komplizen des Holocaust.
Das UK versuchte zudem nach 1945 noch für mehr als zwei Jahre die Überlebenden des Holocaust mit aller Gewalt von einer Staatsgründung abzuhalten. Jüdische Widerstandskämpfer wurden unter anderem im Gefängnis von Akko inhaftiert und gehängt. Letztlich verloren die Briten den Kolonialkrieg gegen den jüdischen Aufstand moralisch. Israel unterzeichnete nun den armseligen Teilungsbeschluss der UN – die arabische Seite jedoch nicht, weshalb dieser Teilungsplan nie in Kraft trat. Stattdessen griffen die arabischen Staaten an und verloren. Dadurch wuchs Israels Staatgebiet mit jedem Angriff arabischer Staaten um kleinere Gebiete an, andere, wie den Sinai, gab es im Zuge von Verhandlungen wieder auf.
Das Westjordanland war nie Gegenteil dieser Verhandlungen. Von Jordanien wurde es 1948 besetzt und ethnisch gesäubert: Synagogen wurden angezündet, uralte jüdische Siedlungen wie Hebron verwüstet. Jordanien hat das Westjordanland formal am 24.4.1950 annektiert und keinen Palästinenserstaat darauf errichtet. Die Annexion wurde von den arabichen Staaten als illegal betrachtet und nicht anerkannt. Als Jordanien Folgekriege gegen Israel verlor, verlor es auch die Kontrolle über das Westjordanland.
Daher ist eine völlig legitime Lesart der Folge von Verträgen und der Kriegsschuld arabischer Staaten, dass das Westjordanland dem jüdischen Staat gehört.
Und daher kann nach dieser Lesart Netanyahus Regierung Judäa und Samaria, also das Westjordanland, auch nicht annektieren sondern nur historische Ansprüche geltend machen. Die Aufgabe von weiten Teilen Judäas und Samarias ist bereits eine Aufgabe historisch verbriefter Rechte. Diese Aufgabe erfolgt aus einem einzigen Grund: Weil der Staat Israel kein Interesse an einer vollständigen Annexion haben kann, solange eine bedeutende arabische Minderheit mit erheblichem Zuspruch zu terroristischen Organisationen auf diesem Gebiet lebt.
Die angekündigte „Annexion“ findet also nur auf den Teilen statt, die mehrheitlich jüdisch bewohnt sind, also den Siedlungen auf den Hügeln. Diese Siedlungen entlasten den Wohnungsmarkt im Großraum Tel-Aviv und Jerusalem erheblich. Durch die Welle antisemitischer Gewalt in den meisten westlichen Staaten ist ein weiterer Zustrom von fliehenden Juden wahrscheinlich und findet bereits statt. Israel muss daher bewohnbares Land schaffen und in gewissem Maße bevorraten. Siedlungen sind daher kein Projekt nur für ultraradikale Fundamentalisten: Alle Juden in Israel profitieren davon, ob sie links wählen oder rechts.
Geht man noch einmal einen Schritt zurück, kommt zu Verträgen und dem Druck durch Fluchtbewegungen ein weiterer Aspekt hinzu: 1948 griffen arabische Staaten Israel an. Sie führten aber auch eine Kampagne ethnischer Säuberungen durch, Terrorkampagnen und Diskriminierungen, die in den folgenden Jahren etwa 900,000 Juden aus den arabischen Staaten vertrieb. Diese Menschen wurden in aller Regel ihres Besitzes beraubt. Die Weltorganisation der Juden aus arabischen Staaten (WOJAC) schätzt die geraubte Landfläche auf das vierfache der Staatsfläche Israels.
Aus dieser Hinsicht ist es völlig legitim, bei der Eingliederung jüdischer Siedlungen in Judäa und Samaria von einer Teilwiedergutmachung zu sprechen, die weitere Ansprüche einer Entschädigung nicht ausschließt. Natürlich haben Antizionist*innen recht, wenn sie eine weitergehende schleichende Annexion oder Diskriminierung des Westjordanlandes befürchten. Die Bewohner*innen des Westjordanlandes haben kein Interesse daran, in einem failed state neben Israel zu wohnen und viele ziehen ein Leben mit israelischen Bürgerrechten vor.
Die Autonomiebehörde hat ohnehin kein Interesse an einer komplexen Außengrenze mit Enklaven, die israelische Regierung hat ebenso kein Interesse daran, diese Grenzen aufwändig zu überwachen. Es wäre, das zeigt jeder Blick auf die Karte, von allen Seiten aus betrachtet rational, einen jüdischen Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer zu schaffen, wie es einmal vorgesehen und völkerrechtlich verbindlich garantiert war. Einen Palästinenserstaat gibt es schließlich längst: Jordanien. Es könnte als Sitz einer Vertretung der nichtjüdischen arabischen Minderheit in Israel fungieren.
Wäre also eine Annexion des gesamten Judäa und Samaria möglich? Zunächst will Israel seine Funktion als jüdischer Staat bewahren. Wer nicht anerkennen kann, das Israel eine jüdische Bevölkerungsmehrheit braucht und ein jüdischer Staat sein muss, hat vom Existenzrecht Israels nichts verstanden. Es gäbe aber Methoden, unter Wahrung der Bürgerrechte und zivilisatorischer Standards auch in einem annektierten Westjordanland eine jüdische Mehrheit langfristig zu bewahren. Denkbar wäre ein langsamer Bevölkerungstransfer der nichtjüdischen Araber ausschließlich durch Anreize: Landverkäufe, subventioniert bevorzugt durch die in Kompensationspflicht gegenüber Israel stehenden arabischen Staaten, lukrative Auswanderungssstipendien durch die um die palästinensische Minderheit besorgte internationale Weltöffentlichkeit oder eben Aufklärung der arabischen Minderheit, Sicherung von Frauenrechten durch das israelische Gewaltmonopol und dadurch Senkung der Geburtenrate – eine Strategie die übrigens als international anerkannt für Entwicklungsländer gilt.
Das würde die jüdische Bevölkerungsmehrheit auch bei einer vollständigen Annexion Judäas und Samarias sicher stellen und dadurch langfristig dem Sicherheitsinteresse des jüdischen Staates Rechnung tragen und eine Rechtsgrundlage für im Staat verbleibende nichtjüdische Araber*innen schaffen. Eine vollständige Reintegration Judäas und Samarias in den israelischen Staat wäre für alle Seiten besser als alle Pläne, die Gebiete nach der Zugehörigkeit der Einwohner aufteilen.
Der Konflikt lässt sich lösen – wenn das Sicherheitsinteresse Israels priorisiert wird, die Kriegsschuld der arabischen Milizen und Staaten anerkannt wird und nach einem international verbrieften Aus für ein „Rückkehrrecht“ für die exilierten Araber*innen in Libanon, Syrien, Jordanien und andernorts endlich Menschenrechte durchgesetzt werden, wie sie für die nichtjüdische arabische Minderheit in Israel selbstverständlich sind.
Eine solche Lesart der Geschichte jedoch, die Konfliktgegenstände analysiert und legitime von illegitimen Ansprüchen trennt, gilt im öffentlichen Diskurs als unsagbar, ultraradikal, menschenfeindlich, nicht weil sie tatsächlich in Gewalt mündete, sondern weil der jüdische Staat beteiligt ist. Dabei werden ähnliche Teilungsprozesse, Restitutionen und Grenzkonflikte in anderen Staaten, etwa Sudan, Taiwan, Antarktis, Kaschmir in der internationalen Presse völlig emotionsfrei verhandelt. Wenn ein internationales Schiedsgericht Kaschmir morgen Indien oder Pakistan zuschlägt, wäre das in der westlichen Welt keine Demonstration wert.
Und so ist es einfach nur Antisemitismus, wenn selbst nach dem von allem Revisionismus weit entfernten Zugeständnis des nun auf den Tisch gelegten Teilungsplans alle Zeitungskommentare von einem Betrug sprechen – einem Betrug Israels an Palästinensern. Diese werden jedoch zuallererst von der Forderung nach einem „Rückkehrrecht“ und von der irrsinnigen Vorstellung eines judenreinen islamischen Palästina vom Jordan bis zum Meer um eine menschenwürdige Existenz und Rechtssicherheit betrogen. Die eigentliche Überraschung ist, dass Saudi-Arabien, Ägypten, Qatar und die V.E.R. dem Teilungsplan zustimmten, während das Gros der westlichen Presse ihn rigoros ablehnt. Das belegt, dass der cultural lag in Sachen Antisemitismus eher im Westen zu verorten ist als in den reaktionären Diktaturen der arabischen Welt.
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Nachtrag: Ich wurde gefragt, wie eine solche Umsiedelung aussehen könnte. Es gibt leider Negativbeispiele, die wurden weltweit jedoch ohne größere Proteste der internationalen Staatengemeinschaft akzeptiert:
In Nigeria, Südamerika, Indien und Asien werden zahllose Städte für mehrere Millionen Menschen geplant und gebaut. Im Zuge des Klimawandels wird sich dieser Trend verschärfen. Solche „planned cities“ sollen durch positive Anreize Menschen anlocken, was auch in aller Regel funktioniert. In China jedoch werden Bauern auch von ihrem Land vergrämt, um zu groß geplante, leer stehende Städte zu füllen und an Land zu gelangen. Eine gut geplante Millionenstadt mit Vorzugsregelungen für Palästinenser westlich des Jordans ließe sich ohne weiteres realisieren, Freizügigkeit vorausgesetzt. Saudi-Arabien plant aktuell die grenzübergreifende Stadt Neom an der jordanischen Grenze. https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_megaprojects#Planned_cities_and_urban_renewal_projects
Ein weiterer Weg zur friedlichen Auswanderung von Palästinensern aus dem Westjordanland/Judäa und Samaria wäre die Verteilung von dauerhaften Arbeitsvisa und Staatsbürgerschaften für Kanada, USA und Europa. Auch dies ist kein unbekannter Vorgang. Entlang der Mittelmeerküste verwaisten viele Dörfer im Zuge der Arbeitsmigration nach Norden, die zunächst durch sogenannte „Gastarbeiterregelungen“ und dann durch die EU ermöglicht wurde.
Das grundsätzliche Problem bei einem friedlichen Bevölkerungstransfer ist nicht, dass dies unbekannt wäre oder international nicht toleriert würde, sondern dass besondere völkische Maßstäbe an Palästinenser angelegt werden, die zum einen der Propaganda der Fatah und der Hamas entnommen sind, zum Anderen der Realität vor Ort und dem Willen zum Weltbürgertum gerade unter Jugendlichen im Westjordanland nicht entsprechen. Diese völkischen Maßstäbe werden dann auf Juden projiziert in der Frage, warum Juden eine Majorität in Israel brauchen. Die Antwort darauf ist einfach: aus objektiv gerechtfertigtem Sicherheitsbedürfnis. Die Frage müsste lauten, warum nichtjüdische Araber eine Majorität im Westjordanland brauchen, warum die Fatah ihnen den Verkauf ihres Landes bei Todesstrafe verbieten muss. Eine Umfrage im Westjordanland könnte die statistischen Details leicht klären: Wer möchte zu welchen Bedingungen weg?
Es gibt gute, schlechte und böse Linke. Es gibt keine guten Nazis.
Gute Linke tragen diese Gesellschaft, leisten den Löwenanteil des Ehrenamtes im prekären Bereich, bringen die Liberalisierung der Gesellschaft voran, helfen Menschen mit Behinderungen, Drogensüchtigen, Obdachlosen, alleinerziehenden Müttern, organisieren Streiks, bekämpfen Nazis. Schlechte Linke tun so, als würden sie das machen, slacken aber rum und lesen nur noch Hegel. Böse Linke sind Antisemiten oder wollen alle Menschen zu Kleinbauern machen und finden Pol Pot/Mao/Stalin/Hoxha/Arafat waren tolle Typen.
Ich mache hier das Flugblatt zum Erfolg der BDS-Bewegung in der American Anthropological Association und den Antragstext meines Antrages zur DGV-Tagung 2017 öffentlich zugänglich:
Da die Vorgänge über Jahre hinweg zu keinerlei Reaktion von Seiten der deutschen Ethnologie führten, habe ich als nicht institutionell eingebundener, freiberuflicher Ethnologe folgenden Antrag bei der DGV-Tagung 2017 in Berlin gestellt. Der Antrag wurde mit großer Mehrheit abgelehnt:
Antrag: „Verurteilung der antiisraelischen Agitation in der American Anthropological Association“
Auf der Mitgliederversammlung (2017) der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde soll folgende Resolution beschlossen werden: Die Mitgliederversammlung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) verlautbart große Sorge über die anhaltenden Forderungen nach der Ausgrenzung von israelischen akademischen Institutionen durch einen großen Teil der Mitglieder der AAA. Die Mitgliederversammlung fordert Vorstand und Mitglieder der AAA auf, wissenschaftliche und wissenschaftsethische Standards in der geschichtswissenschaftlichen und konfliktethnologischen Forschung einzuhalten, die in dem „Task-Force“-Bericht über Israel verletzt werden. Die DGV bekennt sich zu ihrer Verpflichtung zu Kooperation und solidarischen Unterstützung israelischer akademischer Institutionen gerade auch dort, wo deren Forschungen an der militärischen Selbstverteidigung gegen die ständige existentielle Bedrohung der Einwohner Israels durch islamistische Guerillas und Regimes teilhaben.
Begründung:
Mehr als 1100 Ethnologen haben online die Forderung nach einem Boykott Israels unterzeichnet.[1] Als Reaktion darauf erschien am 1.10.2015 im Auftrag der AAA der „Report to the Executive Board – The Task Force on AAA Engagement on Israel-Palestine“[2]. Der Bericht entstand auf Grundlage von 120 Interviews[3], davon wurden in Israel und dem Westjordanland 100 binnen 10 Tagen im Mai 2015 aufgenommen. Der Bericht enthält keine wissenschaftlichen Standards entsprechende konfliktethnologische Ursachenanalyse. Er stellt die israelische Politik als einziges Hindernis akademischer Freiheit im Westjordanland und Gaza dar, Einschränkungen des israelischen und palästinensischen Universitätsbetriebes durch den Terror von Hamas, Fatah und PFLP bleiben unberücksichtigt. Der Antisemitismus von Fatah, Hamas und PFLP, den größten organisierten Gruppen, wird nicht als Konfliktursache erwähnt. Polizeiliche Restriktionen infolge des alltäglichen Terrorismus erscheinen als böse Absicht eines israelischen „settler-colonialism“. Die Funktion Israels als jüdischer Staat beinhaltet jedoch nicht die zwangsläufige Diskriminierung anderer Nationalitäten im Inland, sondern im Gegensatz dazu die Verpflichtung zur Integration von Jüdinnen und Juden jedweder Nationalität, und damit eine über andere Nationalstaaten hinausgehende Offenheit. Die Bewegung zur Schaffung einer jüdischen Heimstatt, der Zionismus, ist Reaktion auf zwei Jahrtausende der Diskriminierung und Pogrome. Sie kann keiner ernsthaften konfliktethnologischen Analyse sinnhaft mit dem Kolonialrassismus (Apartheid, Siedlerkolonialismus) gleichgesetzt werden, wie das der Task-Force Bericht der AAA zugrundelegt. Die Quellenauswahl ist stark gefärbt und berücksichtigt weder wissenschaftliche Standardwerke zum Konflikt noch die Position der israelischen Konfliktpartei. An drei Stellen wird die israelische Politik mit den Methoden der Nationalsozialisten gleichgesetzt.[4] Es wird zudem fälschlich unterstellt, das palästinensische Territorium sei um „90%“ gesunken.[5] Es fehlt schlussendlich eine Einordnung der Verhältnismäßigkeit eines Boykotts akademischer Institutionen. Sobald dieses Mittel etabliert wird, ist jede Forschung einer erfolgreichen kollektivierenden Boykottkampagne ausgesetzt (z.B. als Mittel gegen Diktaturen, der land-grab, die Gefängniskultur in den USA, die Flüchtlingspolitik der EU, den Raubbau im Trikont). Der Fokus auf den ohne eigenes Risiko auszugrenzenden Kleinstaat Israel dient zur Projektion von größeren Problemen unter anderem in den USA und Europa.
Als Reaktion auf den Bericht hat am 20.11.2015 eine Versammlung der AAA einen Boykott israelischer akademischer Institutionen mit einer Stimmenmehrheit von 1040-136 gefordert. Die Resolution wurde in einer Urwahl bis zum am 31.5.2016 knapp abgelehnt mit 2,423 zu 2,384 Stimmen. Die Führung der AAA hat dennoch eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, die im Sinne der Resolution von der israelischen Politik unverhältnismäßige Maßnahmen (etwa den Abbau von Checkpoints und Sicherheitsmaßnahmen) fordern.[6]
Die DGV hat eine dreifache Verantwortung, sich öffentlich gegen jeden Ruf nach einem Boykott Israels auszusprechen. Sie ist erstens an der Wahrung wissenschaftlicher Standards interessiert, die durch die kritiklose Annahme des Task-Force-Berichts durch die AAA verletzt wurden. Sie ist zweitens aus grundlegenden ethischen Gründen zur Solidarität mit dem jüdischen Staat gegen eine genozidale Bedrohung durch islamistische Bewegungen verpflichtet. Sie steht drittens als deutsche Ethnologie in besonderer Verantwortung, gegen aktuelle und künftige Bedrohungen des jüdischen Staates durch den modernisierten Antisemitismus Stellung zu beziehen.
[2] Perez, Ramona/Besnier, Niko/Clarkin, Patrick et alii 2015: Report to the Executive Board. The Task-Force on AAA-Engagement on Israel-Palestine. Via: http://s3.amazonaws.com/rdcms-aaa/files/production/public/FileDownloads/151001-AAA-Task-Force-Israel-Palestine.pdf.
[4] „creating a system of oppression with echoes of the very system they had managed to escape.“ Task-Force-Report: 71. „Israelis have their own powerful claims to victimhood and the irony of a situation in which they have recreated some of the same forms of victimization to which they were subjected.“ Task-Force-Report: 15. „Concentration Camp“. Task-Force-Report: 18.
[5] „Palästinian Territory has shrunk by about 90%.“ Task-Force-Report: 15.
Zur Kontextualisierung: Die folgenden, von mir eingebrachten Anträge zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Ethnologie wurden von der Mitgliederversammlung der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde 2017 abgelehnt. Hier die ungekürzten Antragstexte:
Antrag: „Öffentliche Forderung nach einer Sonderstellung für ethnologische Forschungen“
Auf der Mitgliederversammlung (2017) der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde soll folgende Resolution beschlossen werden:
Die Mitgliederversammlung der DGV fordert private und öffentliche Institutionen zur Wissenschaftsfinanzierung (Deutsche Forschungsgesellschaft, Parteienstiftungen, Volkswagenstiftung, etc.) öffentlich auf,
die Qualität ethnologischer Forschungen durch Anerkennung der besonderen Voraussetzungen sicher zu stellen und bei Promotionsforschungen pauschal den spezifischen Mehraufwand von ethnologischen Forschungen mit mindestens einem zusätzlichen Jahr Literaturrecherche und
mindestens einem zusätzlichen Jahr Feldforschungsstipendien zu gewährleisten;
sowie die Förderungsdauer für Promotionen auf mindestens 5,5 Jahre, die durchschnittliche Dauer geisteswissenschaftlicher Promotionen, anzuheben.
Begründung: Ethnographische Forschungen erfordern im Durchschnitt ein höheres Maß an Vorbereitung als Forschungen im Durchschnitt der anderen Fächer. Der Erwerb einer fremden Sprache wird allgemein mit zwei Jahren veranschlagt. In Regionen mit überlappenden Sprachen ohne linguistisches Grundlagenwerk oder mit komplexer Schrift wird der Spracherwerb zusätzlich erschwert. Die gründliche Kenntnis einer Region und Gesellschaft sind unabdingbar, um vorschnelle Urteile und falsche Handlungsanweisungen zu vermeiden. Das Einlesen in eine fremde Landes- und Regionalgeschichte erfordert zusätzliche Akribie, um Fehlinterpretationen zu vermeiden. Die Multifaktorialität insbesondere von konfliktanthropologischen Themen erfordert eine sehr gute Kenntnis allgemeiner theoretischer Grundlagen und lokal- und themenspezifisch Fachwissen in Philosophie, Psychologie, Ökologie, Medizin. Der für die Ethnologie charakteristische Dialog zwischen Mikro- und Makroebene kann nicht annähernd mit geisteswissenschaftlichen Arbeiten in eigener Sprache und im eigenen Land verglichen werden. Feldforschung entfernt zudem von Netzwerken, Tagungen, Institutskultur. Gerade deshalb muss eine längerfristige Sicherheit für ethnologische Promotionsforschungen gewährleistet sein.
Antrag: „Schaffung eines humanitären Budgets für ethnologische Forschungen in prekären Verhältnissen“
Die Mitgliederversammlung (2017) der DGV fordert die DFG und vergleichbare Forschungsinstitutionen öffentlich auf, ein humanitäres Budget für Forschungen in prekären Verhältnissen bereit zu stellen, das auch nach der Forschung und nach einem Ende des Beschäftigungsverhältnisses abrufbar bleibt.
Begründung: Für Forschende aus Industrieländern bedeutet das Leben in einer Gesellschaft mit einer um bis zu 30 Jahren verringerter Lebenserwartung eine Vielzahl von existentiellen Entscheidungen. Wo das Überleben von SchlüsselinformantInnen nicht gesichert ist und staatliche Institutionen auf absehbare Zeit versagen wird den Forschenden aufgebürdet, zwischen dem wahrscheinlichen Tod und Krankheit von Informanten und der eigenständigen Übernahme der Kosten von Krankenhausaufenthalten und Nahrung zu wählen. Diese Situation zwingt Forschende entweder in eine altruistische, selbstschädigende oder in eine zynische Position. Die DGV setzt einen Ausschuss ein, der einen Richtwert für ein abrufbares humanitäres Budget ermittelt. Dafür müssen Forschungsgegenstand und Region einer spezifischen Prüfung unterzogen werden. Ein Teil des Budgets soll langfristig verfügbar sein: Ethnographie erlaubt keine Forschung im Anonymen, sondern beruht auf der Bildung langfristiger sozialer Bande mit den ForschungspartnerInnen, deren spätere Krisen auch nach Ende der Feldforschung noch Dringlichkeit haben und deren Verantwortung direkte Folge der Forschung ist.
Antrag: „Ermittlung und Anerkennung von Berufskrankheiten und Berufsrisiken von EthnologInnen.“
Die Mitgliederversammlung (2017) der DGV beschließt:
Die DGV ruft EthnologInnen öffentlich dazu auf, Daten und Schriften zu übermitteln, die einen Rückschluss auf Todesursachen und berufsgefährdende Erkrankungen unter EthnologInnen ermöglichen. Die Daten werden einer vom DGV-Vorstand zu ermittelnden medizinischen Forschungsgruppe übermittelt. Sie soll insbesondere das Risiko von EthnologInnen ermitteln, durch die Feldforschung an Hautkrebs, Tropenerkrankungen, Schädigung durch Umweltgifte und Unfälle, Traumatisierung und psychische Beeinträchtigung geschädigt oder getötet zu werden. Das Ergebnis soll Grundlage für eine Anerkennung von spezifischen Berufskrankheiten von Ethnologen bilden und zur künftigen Ermessung einer Risikozulage für ethnologische Forschungen dienen.
„Beim EU-Gipfel in Brüssel hatten sich die Teilnehmer darauf verständigt, die mögliche Einrichtung von Aufnahmelagern in Drittstaaten beispielsweise in Nordafrika zu prüfen. Dorthin sollten Migranten zurückgebracht werden, die versucht hatten, über das Meer nach Europa zu gelangen. Neben Ägypten lehnten jedoch auch Tunesien, Algerien und Marokko ab, Sammellager einzurichten.“ (https://www.deutschlandfunk.de/eu-asylpolitik-aegypten-lehnt-aufnahmezentren-ab.1939.de.html?drn:news_id=898763)Der Versuch, die Dezimierung der Flüchtlinge aus afrikanischen Staaten an afrikanische Staaten zu deligieren ist nicht neu. Dänische und britische Politiker, dann Otto Schily und Thomas de Maizière und jetzt Donald Tusk, Jean-Claude Juncker und Markus Söder wollen, was die EU in Libyen und Australien in Papua-Neuguinea längst praktiziert: Sammellager, in denen Flüchtlinge in großer Zahl inhaftiert werden, bis sie freiwillig woandershin fliehen oder ihr elender Zustand zur Abschreckung weiterer Geflüchteter dient. Die eskalative Natur aktueller politischer Logik macht diese Zentren ebenso wahrscheinlich wie die Mauer um Europa, die seit 2000 kontinuierlich ausgebaut wurde.
Ebenso wie die Anker-Zentren werden außereuropäische Lager nach ihrer Etablierung auf absehbare Zeit nicht wieder aufgelöst werden, sondern wie heute die Mauer als fait accompli zu dem gerechnet werden, was als gesellschaftliche Realität und damit als „vernünftig“ gilt. Weil aber der agitatorische Trieb in Seehofer und anderen HeimatschützerInnen nie zufrieden sein wird und der inneren Logik zufolge sadistische Energie weiter nach außen richten muss, selbst wenn wie derzeit kaum noch Flüchtlinge den lebensgefährlichen Versuch wagen, wird die Zukunft dieser Lager ebenso eskalativ gestaltet werden.
Denn sollten dort menschenwürdige Bedingungen herrschen, würden sie als reale Option für Millionen Mendschen in den subsaharischen Staaten fungieren. Immerhin haben Staaten wie Sudan oder Äthiopien bereits fünfzehn Millionen afrikanischer Flüchtlinge aufgenommen, eine sichere Option auf afrikanischen Boden würde weitere verzweifelte Millionen aus Nigeria, Tschad, Niger, Mali und Zentralafrika anziehen. Daher muss in solchen Anlaufstellen entweder ein kontinuierlicher Abzug von Menschen durch Asyl und Aufnahme stattfinden, was angesichts der Zahl an Menschen, die objektiv ein Recht auf Asyl hätten, sehr unwahrscheinlich ist; oder es wird die exakt gleiche Dynamik einsetzen wie sie derzeit offene Politik der CDU/CSU für Lager auf EU-Boden ist: Abschreckung durch menschenunwürdige Bedingungen. Begleitet vom Druck zur Kostenersparnis, die aus den Lagern Billiglohnzentren, Organspendebanken und nicht zuletzt von islamistischen Organisationen, Milizen oder Privatfirmen autoritär verwaltete Elendsquartiere jenseits der journalistischen Zugänglichkeit machen wird, aus denen ein kontinuierlicher Brain-drain die wenigen verbleibenden Fachkräfte nach Europa rekrutiert. Menschenwürdige Flüchtlingslager außerhalb der EU-Grenzen sind ein Paradox. Die arabischen Staaten wissen um die unerfüllbaren Anforderungen solcher Lager und lehnen sie daher vorerst ab. Sie müssen ohnehin auf Dezimillionen Umweltflüchtlinge aus Iran und afrikanischen Staaten vorbereitet sein, weil Europa sich demonstrativ in seiner infantilen Weltabgewandtheit einrichtet. Man hat sich unter dem Druck der CSU entschieden, nicht einmal ein paar lächerliche hunderttausend zu akzeptieren – ein Realitätsbruch mit dem Rest der Welt. Das Resultat kann nur deligierte Gewaltherrschaft über jene sein, die daran erinnern und die EU wird schrittweise den Weg dahin vorbereiten.
Claus Strunz bringt bei SAT.1 etwas tiefenpsychologische Ehrlichkeit in die Diskussion: Die Mutter, er nennt sie wirklich so, kümmere sich immer nur um die Flüchtlinge. Merkel sei zur „doppelten Mutti“ geworden, zur „Stiefmutter der Deutschen“ und zur „fürsorglichen Mama der Flüchtlinge“. (Strunz)
Die Zwangshandlung, die Kanzlerin Merkel auf die traditionelle Frauenrolle „Mutter“ zurückzuzwingen, ist misogyner Wunsch nach einer mafiösen Vaterfigur, der einer ambivalenten Mutter ein unambivalent drakonisches Gesetz entgegenstellt, das nur die Anderen bestraft und das Selbst belohnt. So ist es auch kein Zufall, dass ausgerechnet Konkurrenz um eine sogenannte Tafel diese stereotype regressive Reaktion eines älteren Geschwisters ausgelöst hat, das dem jüngeren die Mutterbrust neidet. Gemeinsames Essen dient dem Aggressionsabbau, wie Freud am Totemsmahl in „Totem und Tabu“ zeigt. Der getötete Vater wird verspeist, dadurch internalisiert und sein Gesetz wieder aufgerichtet. Aggression geht in Schuld und dann Anerkennung über. Daher ist auch das gemeinsame Totenmahl eine transkulturelle Institution.
Dass nun mit Geflüchteten zusammen gespeist würde, ist für das eigentliche Projekt des Aggressionsaufbaus, das die Neue Rechte betreibt, mehr als hinderlich. Und daher stürzen sich nationalkonservative Akteure in Sat.1, FAZ, Cicero und anderen Medien auf den „Tafelskandal“. Der Klickköder lautet, man müsse „genauer hinschauen“. Suggeriert wird, es gebe eine verschleierte Wahrheit, einen wirklichen rationalen Grund für die Ausgrenzung von Menschen ohne deutschen Pass von einer Armenspeisung. Dieses Geheimwissen bleiben die entsprechenden Medien schuldig, aber die rechten Massen brauchten auch nur das Gefühl, es besser zu wissen, sie hungern nach Simulationen von Erkenntis ohne Anstrengung. Dahingehend ist Strunz zu danken, dass er seinen Mutterneid wenigstens ehrlich und öffentlich preisgibt. Was er damit belegt: es gibt keinen rationalen Grund für die Schließung der Essener Tafel für Menschen ohne deutschen Pass. Es ist blanker Futterneid der ohnehin Gesättigten in vorgetäuschter Fürsorge für Menschen, für die die gleichen Medien sonst auch nichts übrig haben als Verachtung. Es ist Rassismus.
70% der Besucher einer Essener Tafel waren Menschen ohne deutschen Pass – für den Leiter war das ein Grund, die Schuldfrage zu stellen: „Ist der Vorstand schuld? Sind die Mitarbeiter schuld? Und letztlich haben wir festgestellt, dass die einzige Veränderung der Ausländeranteil ist. Wir grenzen auch keine Ausländer aus – wir geben den Deutschen die Möglichkeit, wieder zur Tafel zu kommen.“ (Jörg Sartor)
Nur der Ausländeranteil könne demnach der Grund sein „weshalb sich etwa viele Ältere nicht mehr wohlfühlten und das Hilfsangebot nicht mehr wahrnähmen.“ (Welt) Die an linksidentitären Institutionen verbreitete Maxime des kollektiven „Wohlfühlens“ hat zurückgefunden in die idiosynkratische Gemeinschaft der Rechten. Unspezifisch raunt Sartor etwas von „Belästigung“ oder „mangelndem Respekt“ – die Vorwürfe bleiben unkonkret, weil im Publikum schon als genehmigt gilt, dass „die alle so sind“ und man es ja schon wisse, worum es gehe. Der Rückzug des Staates, dessen Symptom die Tafeln sind, macht sich mit dem autoritären Ruf nach ihm gemein. Wo man offenbar nicht in der Lage ist, bei konkreten Vorfällen die Polizei zu rufen oder auch dauerhaft zur Sicherung einer gereizten Lage bei der Verteilung von humanitären Hilfsgütern in den Krisengebieten am Rande eines der weltweit reichsten Länder abzustellen, wird nach ebenjener Polizei, letztlich nach der kastrierenden Mutter gerufen, die Geflüchtete abschieben, ausweisen, in jedem Fall unsichtbar machen solle.
70% der Besuchenden sollen ausgegrenzt werden, damit 30% sich wohler fühlen, wenn sie Reste von Lebensmitteln erhalten, ohne die sie Hunger leiden müssten. Selbst wenn eine spezifische Gruppe unter den Geflüchteten aufgefallen wäre, so ist es immer noch rassistisch, sämtliche Geflüchteten zu kollektivieren, sie dann als „Unkultivierte“ zu polarisieren und in der Hierarchie noch unter den untersten Rand der Gesellschaft zu stoßen. Man braucht gar keinen Notstand wie in der Kölner Silvesternacht mehr, um solche Kollektivstrafen zu legitimieren, es reicht, wenn jemand in der Schlange drängelt – was allemal zur deutschen Kultur des Ellenbogens gehört. Die wird durch folgende Werbung für den Klassenkampf von oben deutlich, welche sich sicher nicht an Rentnerinnen richtet, die als prekäre Arbeiterinnen einen Witz von Rente erhalten und bis zum Ende ihres Lebens an einer Armenspeisung anstehen müssen, die man „Tafel“ nennt, weil das feiner und nicht so sehr nach Armut klingt.
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Fußnote zur Praxis: Sollte es zu einem seriellen Problem gekommen sein, wäre die adäquate Praxis wie folgt:
1. eine mit kräftiger Stimme vorgetragene Standpauke hilft in einer sozialen Einrichtung wie der Tafel sicher ebensoviel wie im Bus, wenn Spätadoleszente nicht durchgehen oder die Lichtschranke der Tür stören.
2. Gerade unter jungen Geflüchteten findet sich eine hohe Bereitschaft zum Mitmachen bei sozial nützlichen Projekten. Ebenfalls findet sich die Bereitschaft innerhalb einer diskriminierten Gruppe, negatives Verhalten anderer Angehöriger der diskriminierten Gruppe harscher zu verdammen als die Mehrheitsgesellschaft. Ein ehrenamtlicher Ordnungsdienst für die Tafel ließe sich unter Geflüchteten sicher leicht und bei Bedarf spontan auf Ansprache rekrutieren, wenn man nicht davon ausgeht, dass sich die deutsche Oma durch den bloßen Anblick von Ausländern beleidigt fühlt.