Jedes Interview zur Lage der Ukraine beginnt derzeit mit sichtbarer Enttäuschung: Warum die Ukraine so langsam vorankomme, wo jetzt die großen Geländegewinne blieben, die man so lange erwartet habe, wie es denn tatsächlich mit den Erfolgsaussichten stehe, ob nicht doch ein Stillstand der Front zu erwarten sei, ob sich die ganzen westlichen Waffen gelohnt hätten, und ob man nicht tatsächlich Verhandlungen anstreben könne. Diese Bestellmentalität geht zynisch an den Realitäten in der Ukraine vorbei und erzeugt einen erheblichen Erwartungsdruck, der Verluste produziert.
Eine professionelle Militärberichterstattung lässt sich derzeit nur über Youtube-Kanäle erhalten, auf Kosten einer Einladung zum Clickbait auch russischer Propagandakanäle und auf Kosten einer Schwarmanalyse, die letzten Endes der russischen Seite nutzt. Im Fokus der Militäranalysen steht stets die ukrainische Strategie, ihre Möglichkeiten, ihre Stoßrichtungen. Die Aufforderung der UA zur Nachrichtensperre wird selbst von ukrainischen Militärvloggern ignoriert. Deren Abwägung ist nicht allein von Klickökonomien getrieben: selbst die erfolgreichsten Kanäle erhalten kaum 100.000 Klicks, viele andere bewegen sich im Bereich unter 10.000 und damit unter der Ökonomisierungsgrenze. Nicht wenige sind von einem ehrlichen Versuch motiviert, die Moral der Truppen, der Geflüchteten, aber vor allem auch der Unterstützer*innen im Westen aufrecht zu erhalten. Daher werden Tagesrückblicke auf Grundlage der Deepstatemap primär auf Englisch und Deutsch produziert, während Telegramkanäle noch aktuellere Informationen in Landessprachen liefern. Berichte von ukrainischen Erfolgen sind unabdingbar zum Kontern russischer Propaganda und deren Strategie der Entwertung und Verhöhnung der Gegner.
Zur berechtigten Skepsis gegenüber ukrainischer Kriegspropaganda gehört, die Hürden der UA ernst zu nehmen als Resultat der Erfolge russischer Propaganda bis tief in die europäische Sozialdemokratie hinein. Nachdem man der UA nach Kriegsbeginn noch monatelang schwere Waffen vorenthalten hat, gelangen diese immer noch verzögert an die Front. Und zäh wurde und wird über die Lieferung von Kampfflugzeugen insbesondere vom Typ F-35 diskutiert, die nun im September ankommen sollen. Die UA kämpft trotz aller Waffenlieferungen als Einzelnation ein Kaltes-Kriegs-Szenario mit handicap, mit auf den Rücken gebundenen Händen. Ihr Vorteil von Partisan*innen in den besetzten Gebieten wird von der Präsenz prorussischer Spione auf gehaltenem Land und in den eigenen Institutionen nahezu aufgehoben.
Gemessen an diesen widrigen Bedingungen ist die UA überaus erfolgreich. Am 19.6. hat die UA mit Drohnenangriffen und im Grabenkrieg 1010 russische Soldaten getötet oder schwer verwundet, 8 Panzer, 15 gepanzerte Personentransporter, 23 Artilleriesysteme, 4 MLRS, 2 Luftabwehrsysteme, einen Hubschrauber, 10 Militärdrohnen, 3 Cruise MIssiles außer Gefecht gesetzt.
Jeden Tag kommen weitere Erfolge hinzu: Die Eroberung kleiner, strategischer Höhenzüge, das Öffnen russischer Verteidigungslinien. Und jeden Tag werden neue Zeugnisse über den Zustand der russischen Verteidiger aufgedeckt: Folter und Kastration an ukrainischen Kriegsgefangenen, Alkoholabusus an der Frontlinie, Cholera. Die russische Verteidigung wird vor allem durch drei Faktoren bestimmt: die Zahl der Soldaten, die Zahl der Artilleriesysteme und die Minenfelder. Gegenüber einer derart befestigten Verteidigung ist ein Combined Arms-Ansatz hin zu einem Durchbruch mit schwerem Gerät vorerst nur bedingt erfolgreich, zumal wenn die dafür essentielle Luftwaffe veraltet und dezimiert ist. Die NATO-Armeen haben den Guerillakrieg in Afghanistan trotz modernster Waffensysteme mit Satellitenunterstützung, Drohnen und Infrarotkameras nicht gewonnen und schließlich politisch verloren. Umgekehrt hat die russische Armee in Syrien die parallelen Aufstände von Demokraten und Djihadisten mit roher Gewalt und einem Fokus auf Luftwaffe und Artillerie binnen weniger Jahre unterdrücken können.
Zweifel an militärischen Erfolgen sind daher angemessen und eine Strategie, die allein auf waffentechnologische Überlegenheit setzt, muss sich immer noch rechtfertigen.
Die ukrainische Strategie ist aber nach wie vor kein Guerillakrieg und kann eine relativ klare Trennung in Zivilist*innen und Soldaten vornehmen. Das militärische Moment besteht nicht in der Befriedung eines Gebietes, sondern in einem Abnutzungskrieg aller gegnerischen Ressourcen. Dahingehend ist die UA extrem erfolgreich. Weit hinter der Front gelingen Schläge gegen russische Trainings- und Munitionslager, gegen die militärische Führung, gegen Treibstoffdepots und Infrastruktur. Die mit einer Rakete getöteten dreihundert russischen Soldaten reduzieren die mobilen Reserven, die der Schlüssel russischer Verteidigungsringe sind, sie dämpfen die Moral russischer Truppen und Söldner erheblich – während die russischen Schläge gegen ukrainische Krankenhäuser und Zivilist*innen die Ukraine nur stärker zusammenschweißen und die Kampfmoral erhöhen.
Das Starren europäischer „Experten“ auf die Frontlinie, das Bekritteln der ukrainischen Verluste an Material sind Ausläufer von Indifferenz, von fehlender Empathie mit dem disziplinierten und vorsichtigen Vorgehen der UA. Hinzu kommen offene propagandisische Störfeuer aus den afrikanischen Staaten und aus Indien. General Gagan D. Bakshi beispielsweise bietet Indien und damit sich als „einzigen neutralen“ Vermittler in einem angeblich für beide Seiten aussichtslosen Kriegsverlauf an. Seine Strategie ist das Vorspiegeln von Objektivität durch den Eindruck einer sachlichen Analyse, die allerdings systematisch ukrainische Erfolge wie auch russische Verluste kleinredet, um ein „Unentschieden“ heraufzubeschwören. Aber auch aus Deutschland kommen wieder die „skeptische Stimmen“ zu Wort, die vor einem „Unentschieden“ warnen und denselben Verhandlungstisch heraufbeschwören, den sowohl Putin als auch die ukrainische Seite rigoros ausschließen.
Der Zermürbungskrieg wird nicht durch Geländegewinne entschieden, sondern von der Kriegsmüdigkeit Russlands. Dazu genügt es, die Offensiven der russischen Armee weiter zu frustrieren und an der Frontlinie zu knabbern, bis diese zusammenbricht. Entlang der gesamten Front einen Angriffsdruck aufrechtzuerhalten ist absolut sinnvoll, um die Überlegenheit der westlichen Artilleriesysteme und Luftabwehrsysteme voll gegen russische Bewegungen zur Stützung der Frontlinie zu nutzen.
Die Perspektive eines jahrelang mit hohem Blutzoll durchgeführten mühsamen Eroberungskrieges, bei dem Graben für Graben von immer neu aufgestockten russischen Brigaden abgerungen werden muss, ist unrealistisch, weil sie die ökonomische und politische Situation in Russland und den Wirtschaftskrieg außer Acht lässt. Eine weitere Teilmobilisierung wäre bereits ein Eingeständnis einer Niederlage, die Kriegsmaschinerie an Panzern und Artillerie ist bereits erheblich dezimiert, die Reparaturfähigkeit und Ersatz durch die Sanktionen erschwert. Steigende Kriegskosten stehen einer Reduktion der Öleinnahmen um 40% im Februar 2023 und einer Blockade von 300 Milliarden Auslandsreserven in der EU entgegen. Das negative Wirtschaftswachstum von ca. -2% ist nur scheinbar wenig, wenn die gestiegenen Kosten für Material und Sold gegengerechnet werden. Jeder Kriegstag kostet Russland etwa eine Milliarde USD.
Anstatt die sehr gut und vielfältig beratene UA unterm Mikroskop zu sezieren und zu bekritteln, vernachlässigen europäische Medien mehrere Aufgaben: Primär die russische Strategie zu analysieren und der Ukraine durch kompetente Analyse russischer Schwachstellen zuzusarbeiten, anstatt auf die UA zu schauen wie auf ein mühsam trainiertes Sportlerkind; die Lieferung von Luftwaffensystemen zu forcieren, die der Schlüssel für erfolgreiche Combined-Arms-Strategien sind; und die russische Besetzung des AKW Saporischija zu beenden, um die Drohung Russlands mit dieser „schmutzigen Bombe“ entgültig aus dem Spiel zu nehmen. Gingen anlässlich der Katastrophe in Fukushima noch zehntausende in Deutschland auf die Straße, wird eine Sprengung mehrerer AKW-Blöcke in der Ukraine offenbar achselzuckend akzeptiert. Politische Druckmittel wären auf ökonomischer Ebene weiterhin vorhanden: Ein vollständiger Boykott russischer Waren, die Einstufung eines solchen Angriffs als nukleare Kriegsführung mit entsprechender Antwort. Die Nonchalance, mit der Europa die russische Drohung mit einem solchen genozidalen, radioaktiven Angriffs toleriert, ist frappierend und beängstigend – sie fügt sich ein in ein Europa, das besinnungslos den drei bis fünf Grad Klimaerhitzung in die Arme steuert.
Die UA wird aller Wahrscheinlichkeit nach ihre militärtechnologische Überlegenheit erst mit der Ankunft der Luftwaffe voll ausspielen können. Es existiert kein Planspiel für eine Konfrontation mit Russland, in der die Luftwaffe nicht die Hauptlast trägt. Alle NATO-Interventionen basierten auf dem primären Ausspielen der luftwaffentechnologischen Überlegenheit: Ob in Jugoslawien, Afghanistan oder Libyen. Die Lieferung von Panzern ohne wenigstens eine Parität der Luftwaffe herzustellen, ist weitgehend sinnlos und geht am Grundverständnis der Notwendigkeit von Combined-Arms-Strategien vorbei. Die Ersatzstrategie ist der Verzicht auf Panzer und der Einsatz von MRAPs (minenresistente Personentransportfahrzeuge), agilen Schützenpanzern und Minenräumer in Kombination mit reichweitenstarker Artillerie. Die ukrainische Infanterie trägt daher die Hauptlast der westlichen Trägheit, die durch die Verniedlichung des russischen Angriffs zum teilbaren Landkonflikt und durch Unverständnis von Militärstrategien, für russische Waffen wie thermobarische Waffen und Folter entstanden ist.
Solidarität mit der Ukraine bedeutet, eine vollumfängliche Bewaffnung entsprechend der Szenarien des Kalten Krieges zu leisten und die Diskussion um die Notwendigkeit weiterer Waffensysteme einzustellen. Hinzu kommt, das Zusammenspiel von Propaganda und Gesellschaftsstruktur in Russland zu beleuchten. Das ukrainische Gesetz gegen Oligarchen erfährt aus Europa nicht Kritik, weil Korruptionsbekämpfung in korrupten Staaten immer zur Repression gegen politische Gegner verwendet werden kann – sondern weil die Einstufung als Oligarch auch das neoliberal-neokonservative Verständnis von wohlverdientem extremem Reichtum und rechtschaffenen Multimillionären kränkt. Anstatt die Ukraine für das Gesetz zu kritisieren, hat Europa Konzepte aufzulegen, wie künftig zunächst in den europäischen Staaten endlich ein destruktives Wirken von Extremreichen effektiv verhindern. Nur dann kann das russische Zusammenspiel von neostalinistischer Kriegsbegeisterung, neoliberaler Bereicherungstaktik von Krisen- und Kriegsgewinnlern und faschistischer Propaganda mit antisemitischen Zügen als die globale Bedrohung begriffen und bekämpft werden, die es ist.