Die linksliberale Euphorie über das Spiel „Disco Elysium“ ist vor allem Ausdruck einer Misere im Low-Tech-Spielesektor. Ideenlose Jump and Runs, Tower-Defense-Games, RPG mit immer gleichen, konservativen Inhalten: Damsel in Distress, muskulöser Held, Skillen, Grinden, Juwelensammeln, Upgraden, stumpfsinnige Besorgungen für NPC erledigen, kurz: repetitive Tristesse für zu Tode gelangweilte Menschen. Da kann ein Spiel beeindrucken, das ausnahmsweise von Intellektuellen mit einem ordentlichen Skript versehen wurde, das nicht auf eine Verschwörung eines Gentechnikkonzerns oder bösen Zauberers hinausläuft.
Technisch ist Disco Elysium allerdings auf einem Stand vor 25 Jahren: Ein Point-and-Click-Adventure mit Dreiviertelaufsicht und statischen Kulissen. Dass das Spiel dennoch 2GB Grafikspeicher als Mindeststandard angibt, verblüfft daher, und ist zudem unwahr: Mit den meisten besseren Onboard-Grafiken wird sich das Spiel problemlos begehen lassen. Ressourcen frisst es aber an den unmöglichsten Stellen. So sind banale Türen nur mit teilweise 30-60 Sekunden Ladezeit zu öffnen. Weil man aber ebenso hin- und hergeschickt wird wie bei anderen Spielen des Genres, muss man im Laufe des Spiels mindestens 200mal eine Tür öffnen. Hinzu kommt, dass mit dem letzten Update „Final-Cut“ eine Reihe von Bugs eingeschleppt wurden, die Questreihen sabotieren und Fast Travel ab Tag 4 verunmöglichen. So läuft man immer wieder die gleichen Stellen ab, was lediglich dadurch spannender wird, als man mit fortschreitenden Fähigkeiten mehr verborgene Hinweise erhält.
Die Stärke des Spiels liegt in seiner Ästhetik: Akustische Reize, Musik und Kulissen im Stil von Edward Hoppers „Nighthawks“ erzeugen eine tiefe Schwermut, die teilweise an die Grenzen des Erträglichen drängt. Ausgerechnet die harmloseste Figur im Spiel, eine Würfelmacherin, reizt die Schmerzgrenzen aus. In einer industrieromantischen Ruine sitzt sie vor einem Fabrikfenster wie eine Spitzweg-Karikatur eines Kleinbürgers, vollständig auf ihre sinnentleerte Arbeit fokussiert, abgeschottet von einer Welt, die den Bach hinuntergegangen ist und nun wie ein verlorener Würfel in ein tiefes Loch zu fallen droht.
Inhaltlich arbeitet das Spiel mit (sehr leisen) Anspielungen auf Terry Pratchett, die auch schon beim spieltechnisch himmelweit überlegenen „Planescape Torment“ vorhanden waren. Eine weitere literarische Quelle dürfte Douglas Adams Detektivreihe „Dirk Gently“ und dessen „holistische Detektei“ sein: Alles ist mit allem vernetzt und Absurdes ist möglich. Das erzeugt Suspense beim ersten Durchlauf. Leider hält vor allem diese Suspense das Spiel am laufen. Die Figuren sind sämtlich Klischees, reine Stereotype. Da gibt es DEN bad cop, DIE Disco-Königin, DIE Buchhändlerin, DEN rassistischen Trucker, DEN machistischen Arbeiter und leider auch rassistische Stereotype wie den opportunistischen Händler Sileng. Alles ist wenig überraschend und an einer Stelle gesteht das Spiel sich auch das Amusement über die Stereotypisierung ein:
Das Motiv des Desaster Tourism wird ebenso offen eingestanden in einer Szene, in der ein Fischerdorf mehrfach als „pornographically poor“ bezeichnet wird. Eine echte moralische Wahl gibt es im Spiel kaum: zwar kann man sich zwischen Faschismus, Rassismus, Kommunismus und Zentrismus entscheiden, die zentralen Handlungsstränge werden aber an wenigen Stellen so eng zusammengeführt, dass ein zielgerichteter, linearer Spielverlauf vorgegeben ist. Das moralische Gewissen des Spiels und zugleich eine der sympathischsten Figuren im Spiel, Kim Kitsuragi, ein aus Vorsicht überkorrekter Homosexueller, gibt mit ständigen Bewertungen eine zentristische Richtung als im Spiel vernünftige Wahl vor. Verschiedene Spiel-Enden werden nicht wie bei Fallout auch erzählt, lediglich Dialogoptionen erwähnen die „guten Taten“ am Ende. Das macht die moralische Freiheit zur Farce.
Bemerkenswert ist die Referenz auf den Kommunismus als Scheitern: eine zerbombte ehemalige Kommunardenfestung weckt bewusst Assoziationen an die Pariser Commune oder den indonesischen Politizid an der PKI. Das in einer surrealen, destruktiven Welt aufzuheben, die sich ähnlich wie Alzheimer oder Demenz in einem Zerfallsprozess zu befinden scheint und vor allem das Vergessen als Gegenspieler von Zivilisation aufbaut, ist im Spielesektor zweifellos progressiv. Das Publikum, das die ironischen Seitenhiebe auf Kritische Theorie („Inframaterialismus“) versteht, dürfte extrem klein sein. Die Karikaturen des Kommunismus dienen aber nicht nur der Selbstreflexion, der fraglos ehrlich gemeinten Anweisung zu erneuten Versuchen, sondern auch zur Belustigung von Antikommunisten und Zentristen. Mit dem fiktiven Kommunistenführer Kraz Mazov wird der Name Karl Marx mit Masochismus assoziiert: Kern des Kommunismus sei schließlich das Scheitern. Der „kommunistische“ Spielweg erlaubt leider auch kein reflektiertes Vorgehen, sondern ist weitgehend in Parteipatriotismus und hohlen Gesten gefangen: So erhält der Avatar die Option, einer Büste von Kraz Mazov zu salutieren. Agitation, also die Möglichkeit NPC tatsächlich zum Kommunismus zu bekehren und ein anderes Spielende zu erreichen, gibt es praktisch nicht. Lediglich einer Figur lassen sich (sinnbefreite) Jubelrufe auf den Kommunismus entlocken. Aber man kann mit einer russischen Fellmütze mit rotem Stern umherlaufen und so doppelt so viele Erfahrungspunkte in Dialogen mit linken Charakteren ernten. Das ist ein bisschen wenig für das, was möglich gewesen wäre. Dass der letzte Kommunarde dann ein sexualfeindlicher, homophober Parteisoldat ist, bleibt ebenso im Bereich des bourgeoisen Witzes über den Kommunismus gefangen wie der fettleibige Gewerkschaftsführer, der als „Nacktschnecke“ und „Blutegel“ bezeichnet wird. Er und seine Gewerkschaftstruppe entsprechen dem Bild von Gewerkschaft als Mafia, das zwar seine Realität in einem spezifischen, historischen US-amerikanischen Kontext auch hatte, das aber von der Bourgeoisie auch in eigenem Interesse sattsam zum Klischee überdreht wurde. In diesen Karikaturenkabinett bleibt Disco Elysium demnach weit hinter den Möglichkeiten zurück, die die ursprünglichen Ideen einmal boten. Es wirkt am Ende alles halb fertig, unvollendet, und doch zu starr, um mit Absicht so zu sein. Was passiert mit dem ab- oder angeschalteten Eisbären? Was wird mit dem schwerreichen Unternehmer geschehen? Und wer zum Teufel ist Abigail? Zu viele Entscheidungen haben keinerlei echte Konsequenzen auf den Spielverlauf oder das Ende.
Dem Spieleentwickler ZA/UM ist nicht aufgrund des Ergebnisses, sondern aufgrund des eröffneten Potentials beim nächsten Spiel mehr Erfolg und Mut zu wünschen.