Der Putsch in der Türkei nährt autoritäre Sehnsüchte. Zunächst identifizierten sich viele mit den Putschisten, allein aufgrund des Schlagwortes „säkular“. Wer die bleierne Zeit eines säkularen Regimes in der Türkei als Spätgeborener noch einmal erahnen möchte, dem sei der türkische Film „Yol“ empfohlen. Die Militärdiktatur von 1980 begründete das Bündnis mit Konservativismus und Islam, um die Linken zu zerschlagen und den Gebrauch der kurdischen Sprache zu verbieten. Alternativ genügt ein Blick auf das Verhältnis des Westens zu solchen „säkularen Diktaturen“. Während viele europäischen Staaten Monarchien bleiben und vom Säkularismus allenfalls noch die Gewaltenteilung, nicht aber die Trennung von Staat und Kirche übernahmen, rennt man außerhalb Europas noch jedem faschistischen Regime hinterher, das „Säkularismus“ gegen den „Terrorismus“ verspricht. So hat man dem folternden Evren-Regime Militärhilfen geleistet, so war es in Ägypten, so war es in Libyen, wo viele Konservative und Linke noch immer Gaddafi hinterhertrauern, und so ist es in Syrien, wo man dem „säkularen“ Assad ethnische Säuberungen und genozidale Strategien durchgehen lässt.
Nichts verhält am Wort „Säkularismus“ noch zur Glaubwürdigkeit, nichts darin ist ein Versprechen, solange der realexistierende, inkonsequent säkulare Staat nur durch sein Anderes, den Djihadismus, definiert ist, gegen den er dann das „Bessere“ noch sei. Ohne den Djihadismus müsste man sich die Misere der Säkularisierung eingestehen, so aber kann man von Sehnsuchtsorten, von Schnapsbuden schwärmen, die es wenigstens „noch gibt“ – Nostalgie, die nicht für ein Besseres kämpft, sondern sich das Hier und Jetzt am Schlimmeren schönredet. Das ist eine gute deutsche Tradition, die aus dem absoluten Grauen den ultimativen Stabilisator des realexistierenden Systems formte. Besser Hindenburg als Hitler, besser Hitler als Chaos, besser die Sowjets als ein Atomkrieg, besser Saddam Hussein als Djihadismus, besser die Sowjets als die Taliban, besser eine Militärdiktatur in Ägypen als eine demokratisch legitimierte islamistische Regierung, besser die Ordnung der Diktatur als ein Flächenbrand. So geht es bei jedwedem Konflikt. Der bürgerliche Egoismus dahinter verschleiert seinen Wunsch, hauptsache selbst keinen „aufen Dez“ zu kriegen, als weise Voraussicht und Reifeschritt. Mit historischer Analyse hat das wenig gemein.
Die Paradoxie, dass ausgerechnet in der autoritärsten Institution eines Staates, seinem Militär, eine Opposition entstehen solle, führt dazu, dass Putsche stets nur dort erfolgreich sein konnten, wo sie als bewaffneter Arm eines demokratischen Willens agieren konnten und stets dann in faschistoide Gewalt umschlagen müssen, wenn sie gegen die Majorität Politik machen. J.J. Rawlings etwa gilt in Ghana immer noch als Volksheld, weil er ein durch und durch korruptes Regime zweimal wegputschte und letztlich doch der heutigen Demokratie in Ghana halbwegs friedlich den Weg bereitete. Scheiternde Putsche im Namen einer real bedrohten Minderheit lösen häufig besonders brutale Gegenreaktionen aus. Mehr aber lässt sich an Struktur aus dem Putsch als Form nicht ableiten. Putsche sind wie alle Geschichte Spezifik, die zu studieren man sich nicht durch „News“ ersparen kann.
Der bedeutendste scheiternde Putsch ist vielleicht der indonesische. Dilettantisch organisiert und vom eigentlich umworbenen Sukarno fallen gelassen weckte die brutale, genozidale Gegenreaktion Suhartos den Mythos von einer false-flag-Aktion. Suharto selbst hätte den Putsch organisiert, um sich an die Macht zu bringen. Lesenswert dazu ist die Untersuchung von John Roosa: „Pretext for Mass-Murder“. Die Parallelen zum türkischen Putsch sind frappierend. Kaum ist in der Türkei der Putsch als gescheitert bezeichnet, kaum ziehen Erdogans marodierende Banden auf, werden Richter entlassen und die Todesstrafe gefordert, sprechen jene, die Stunden vorher ihr vollstes Vertrauen in die Authentizität der Putschenden setzten, auf einmal von einer false-flag-Operation Erdogans. Eine Analyse von stratfor.com erklärt den Dilettantismus aus der anstehenden Pensionierung von Hauptakteuren. Dabei hätte ein erfolgreicher Putsch zwangsläufig den bisherigen Autoritarismus Erdogans in den Schatten gestellt: die längst nicht mehr mehrheitlich säkulare Armee von AKP-Soldaten zu säubern, Proteste der islamischen und demokratischen Opposition zu zerschlagen, islamische Richter entlassen, die Todesstrafe durchsetzen, all das konnte kein besseres Ende nehmen als eine Friedhofsruhe, in der dem Islamismus wieder einmal die honorige Rolle der demokratischen Opposition zufällt. Einem Regime aber, das mit eiserner Faust die türkische Gesellschaft neu ordnet, hätten sich zuallererst Russland, China und Syrien, sehr bald auch Iran angedient.
Eine alternative, wohlmeinendere Erklärung wäre, dass die letzten säkularen Kräfte in der Armee noch einmal versuchen wollten, wenigstens eine symbolische Drohung gegen den islamischen Staat am Bosporus zu formulieren, Erdogan mit der Bombardierung des Palastes den Schrecken noch einmal einzujagen, den er verbreitet. Dass sie wussten, dass sie gegen die jedem bewusste Stärke Erdogans verlieren würden, dass sie also gar keinen durchgearbeiteten kalt kalkulierten Plan bis zur Herrschaft hatten und dennoch riskierten, aufgerieben zu werden, einfach aus demselben altmodischen Aberglaube der Aufklärung heraus, der auch auf Umwegen die Islamisten antreibt: die Gewissheit, dass es Schlimmeres gebe als den Tod. (edit: neuere Erkenntnisse sprechen für einen echten Putschversuch mit dem realen Ziel, Erdogan zu inhaftieren.)
Diesen Aberglaube hat der bürgerliche Egoismus gründlich überholt. Niemand mit Verstand und privater Rentenvorsorge stirbt mehr für Hirngespinste wie Freiheit oder Ideale. Dem Islamismus Erdogans, der wie der Viktorianismus die Einheit von Profitmaximierung und Kontrolle der unterdrückten Triebe verspricht, hat diese bürgerliche Ideologie wenig entgegen zu setzen. Der Westen könnte seine kritischen Quellen, bei weitem nicht nur Marx und Freud aktivieren, aber dies würde zwangsläufig in die depressive Position führen: Dass der Luxus und die Freiheit im Gegenwärtigen in einem Schuldzusammenhang aus historischer primitiver Akkumulation und aktueller Verlagerung von Ausbeutung an die Peripherie befindet. Nur unter Leugnung der absoluten aktuell und künftig produzierten Unfreiheit lässt sich die Manie über die relative Freiheit im Hier und Jetzt aufrecht erhalten.
Aufklärung ist totalitär. Sie lässt sich nicht als halbe Wahrheit gegen die halben Lügen der Ideologien verteidigen. Solange man auf dem kapitalistischen Gleis fährt, nur weil es bei uns so gut funktioniert mit der Gleichzeitigkeit von Kirche und High Tech, wird man Beifahrer wie den Islamismus haben, der genau das gleiche verspricht: Smartphones, Bosporusbrücken und Moscheen, in denen die Sharia gepredigt wird. Aber Kirchen sind doch immerhin besser als die Sharia, wird wieder der bürgerliche Egoismus einwenden, der ja heute nicht mehr auf dem Scheiterhaufen landen muss und auch die Masturbationsverhinderungsapparaturen im letzten Jahrhundert ablegte.
Kritische Theorie denkt solches „besser als“ jedoch im Verhältnis zu den Möglichkeiten. Das „notwendig falsche“ Bewusstsein ist ein anderes als das überkommene, böse gegen gesellschaftlich ermöglichtes Wissen und Vernunft gewordene Wahnsystem der ausgehöhlten religiösen Rituale, mit dem sich partout nicht mehr streiten lässt. Quantität erzeugt qualitative Sprünge.
Der Westen ist wegen seiner Möglichkeiten „schlimmer“ als Erdogan, wenn er diesen anheuert, um syrische Flüchtlinge mit aller Gewalt in Syrien oder wenigstens in der Türkei zu halten. Und trotz derselben Möglichkeiten, Gesellschaft zu verstehen, denkt man aus kalt kalkulierter Idiotie „koa Fünferl weit“, was aus dem zwangsläufig zu genozidaler Gewalt prolongierten syrischen Krieg wird, wenn man durch Nichtintervention seine Erweiterung auf die Türkei riskiert. Saving the penny, killing the refugee, denkt sich das bürgerlich egoistische Europa und schickt vorsichtig erst einmal die gleichen unglaubwürdigen Mahnungen zum Frieden in den Äther, mit denen es seit fünf Jahren den Opfern Assads „beisteht“. Europa hätte sich mit einer erfolgreichen Militärdiktatur in der Türkei aus eben den gleichen Gründen abgefunden wie es sich mit Erdogans ohnehin schon lange fortschreitender Islamisierung von Gesellschaft und Armee arrangierte, wie es mit der jeweils spezifischen Unfreiheit in der Krim, der Ost-Ukraine, Syrien, Iran, Nordnigeria, Turkmenistan, Weißrussland, Russland, und allen anderen der 47 offiziell nichtfreien Länder lebt. Die ideologische Obdachlosigkeit des Westens nährt den bärbeißigen Islamismus Erdogans ebenso wie jene autoritären Sehnsüchte nach einem stahlharten diktatorischen Säkularismus dort, wo man trotz aller Möglichkeiten nicht einmal in Deutschland die Abschaffung des Religionsunterrichts durchsetzen kann.
„There must be some kind of way out of here – said the joker to the thief.“
Edit: Die „False Flag“-Gerüchte gehen natürlich weiter. Hier eine vernünftigere Analyse der Fehlerursachen:
https://www.tagesschau.de/ausland/putsch-tuerkei-analyse-101.html
”Der Putsch in der Türkei nährt autoritäre Sehnsüchte.” schreibt Riedel und meint dabei nicht die AKP Feunde, sondern jene, denen es, anders noch als zu Beginn der arabelion, mittlerweile gedaemmert haben muss, dass die Herrschaft islamischer Volksgemeinschaften nicht mit Demokratie zu verwechseln ist.
“Zunächst identifizierte sich fast jede und jeder mit den Putschisten, allein aufgrund des Schlagwortes „säkular“.”
Jeder, der nicht gerade qua eigenen postdemokratischen und/oder islamischen Unglaubens mit dem Islamisten sich identifizierte, und noch im Westen lebend, Bilder des jubelnden AKP Mobs und Erdogan unter den Uerberschriften “pray for turkey” verbreitete. Dass alleine wegen solchen Leute die Sympathie fuer die Putschisten angebracht waere, bleibt unerwaehnt.
“Wer die bleierne Zeit eines säkularen Regimes in der Türkei als Spätgeborener noch einmal erahnen möchte, dem sei der türkische Film „Yol“ empfohlen. Die Militärdiktatur von 1980 begründete das Bündnis mit Konservativismus und Islam, um die Linken zu zerschlagen und den Gebrauch der kurdischen Sprache zu verbieten.”
Richtig waere das, wenn die Uhren 1980 stehen geblieben waeren, aber der Kalte Krieg ist vorbei, “die sozialistische Bedrohung” hat sich laengst erledigt, welche auf der Seite ihrer Gegner eine vergleichbare Koalition stiften koennte. Gäbe es nicht gute Gruende anzunehmen, dass eine Militaerdiktatur in der Tuerkei, eine enge Bindung zum Westen, oder mindestens Russland gesucht haette, haette sie sich doch den Hass der Islamisten in der Region auf sich gezogen.
Die ganze Misere dieses neuen Idealismus drueckt sich nun in folgender ahistorischen Begriffssetzung aus:
“Nichts verhält am Wort „Säkularismus“ noch zur Glaubwürdigkeit, nichts darin ist ein Versprechen, solange der realexistierende, inkonsequent säkulare Staat nur durch sein Anderes, den Djihadismus, definiert ist, gegen den er dann das „Bessere“ noch sei.”
Wider die eigene Einsicht, dass in der Gesellschaft, in der Fortschritt Barbarei verheisst, vernuenftigen Leuten nichts anderes bleibt, als auf die Differenz zwischen “Schlimmen” und “Schlimmsten” zu beharren. Als waere das bessere der westlichen demokratischen Staaten nicht schon seit geraumer Zeit, eben genau das, dass ihre positive Aspekte nur “durch ihr Anderes” der Diktaturen ueberhaupt als positive benannt werden koennten.
Anstatt auf diese Differenz zu beharren, moechte der neue Idealismus eben diese vergessen machen. Schliesslich ist ‘Unrecht’ ueberall:
“… jeweils spezifischen Unfreiheit in der Krim, der Ost-Ukraine, Syrien, Iran, Nordnigeria, Turkmenistan, Weißrussland, Russland, und allen anderen der 47 offiziell nichtfreien Länder lebt.”
Das Vermoegen zu differnzieren schrumpft auf die vorangestellten, kleinen Woertchen “jeweils spezifisc[h]” zusammen, als waere die Misere der russischen Diktatur auch nur ansatzweise vergleichbar mit der Barbarei in Syrien, als waere die kaltbluetige Inkaufnahme vom Tod unzaehliger Zivilisten in Syrien durch die russischen Bomber, das gleiche wie ihre selbstzweckhafte Abschlachtung durch die Islamisten, die nie stoppen werden, wenn man sie nicht aufhaelt- als waere auch nur irgendeine Erkenntnis aus einer solcher Anneinaderreihung von Unrechtsstaaten gewonnen.
“Kritische Theorie denkt solches „besser als“ jedoch im Verhältnis zu den Möglichkeiten.”
Das Verhaelntis der Moeglichkeiten in Syrien ist das Schlimme (westliche Staaten, die Fluechtlingen die Hilfe verweigern, säkulare Diktatur in Syrien) und das Schlimmere (sunitischer Gottesstaat, der in seinem Vernichtungsdrang nicht ein Mal sich um Selbsterhaltung bemueht)- nicht die Ueberlegung, die Riedel hier anstellt, zu fragen, auf welcher Seite die “Moeglichkeiten” zu einer freieren Gesellschaft nun ‘am besten ausgeschoepft’ waeren, und der Gesellschaft in der das Potential sich ‚am tollsten entfaltete‘ den Vorzug zu geben.
Nur wenn man dieser Logik folgt, kann man die Unterstellung Riedels nachvollziehen, der “Westen ist wegen seiner Möglichkeiten „schlimmer“ als Erdogan”. Die Absurditaet dieser Logik, die nichts mit Kritischer Theorie, mehr aber mit westlichen Selbsthass zu tun hat, sieht man,daran, dass der Autor tatsaechlich meint, im selben Atemzug mit der Scharia, auf den Mangel an Abschaffung der christlichen Kirchen im Westen zu verweisen zu koennen, ohne dafuer den begruendeten Vorwurf der “Weltfremdheit” zu kassieren.
“Ohne den Djihadismus müsste man sich die Misere der Säkularisierung eingestehen, so aber kann man von Sehnsuchtsorten, von Schnapsbuden schwärmen, die es wenigstens „noch gibt“ – Nostalgie, die nicht für ein Besseres kämpft, sondern sich das Hier und Jetzt am Schlimmeren [!] schönredet.”
Der “Djihadismus” selbst ist die “Misere“ des Mangels einer „Säkularisierung”, während im Westen als ‚unbelaubter Glaube‘ umgekehrt die modernste Konsequenz der Aufklärung darstellt. Was nun „das Hier und Jetzt am Schlimmeren“ heissen soll ist nicht ersichtlich.
“Das ist eine gute deutsche Tradition, die aus dem absoluten Grauen den ultimativen Stabilisator des realexistierenden Systems formte”
Dabei entspricht dieser neue Idealismus eben jener “guten deutschen Tradition” ins Wort, welche nur die hehren, absoluten Ideale kennt, “Krieg ist immer gewalttaetig und falsch” ruft, und daher schon zwischen dem Krieg gegen die Nazis und dem Holocaust nicht differenzieren will. War es nicht dass Terrorregime Stalins mit dem sich der Westen gegen die Nazis verbündete?
Anstatt einen Begriff von Deutscher Ideologie zu haben, unterstellt Riedel die ‚deutsche Tradition‘ gerade bei denjenigen, die noch das Schlimmere vom Schlimmen differenzieren koennen,
und die Einsicht teilen, dass eine Koalition mit Russland in Syrien, dann doch das “kleinere Uebel” darstellt als die Forsetzung des Buergerkriegs , deren zeitliches Ende nicht absehbar ist, deren Ausgang im sunitschen Gottesstaats, der nicht vom morden lassen wird, aber dann doch schon vorraussagbar erscheint.
Zurueck kommt jene deutsche Grundweißheit, dass ‘gegen den Willen des Volkes sich prinzipiell keine Demokratie errichten laesst’, als waere es nicht die Besatzung die Deutschland jene Zivilisation brachte, von der wir heute profitieren. Jedwede Gewalt gegen eine potentiell revoltierende Mehrheit muss natuerlich gleich “faschistoide Gewalt” Gewalt sein, als liege es in der Natur der Sache, und der Zustand des durchgesetzten Volkswillens ein Reich der Freiheit und Gewaltlosigkeit.
Warum aber soll die Saeuberung der “längst nicht mehr mehrheitlich säkulare[n] Armee von AKP-Soldaten” brutaler verlaufen sein, als das was jetzt passiert? Gerade dann, wenn die neue Fuehrung aus Mangel an Rerpraesentanz in der Bevoelkerung, sich um westliche Unterstuetzung bemueht haette?
Warum liesse sich nicht mit der “demokratischen Oposition” verhandelt, ihr begraenzter Einfluss einraeumen? Was daran schrecklich sein soll, “islamische Richter” zu entlassen, sofern sie die Trennung von Islam und Staat nicht anerkennen sollten, erschliesst sich einem genauso wenig, wie die Behauptung, die Putschisten haetten gemacht, womit Erdogan jetzt droht: Die Wiedereinfuehrung der Todesstrafe, auf die der AKP Lynchmob ja gar nicht erst zu warten brauchte.
Woher ruehrt die Unterstellung, dass ein Regime dass sich “Russland” und “China” angedient haette, nun das schrecklichere waere fuer diese Region, als das Regime des selbstbewussten Islamisten Erdogan?
Deutsch zeigt sich Riedel auch da, wo er vermeintlich ‘wohlmeinend’ die Erklaerung anbietet, der Putsch waere eine “symbolische Drohung” gewesen, als wuerde es nciht um praktische Durchsetzung von Interessen, gehen, deren brutale Risiken absehbar waren? Wer bitte soll angesichts der auf den Putsch folgenden Morddrohungen sich um aussichtslose ‘symbolische Drohungen’ bemuehen, wenn er nicht wie ein Deutscher denkt?
“Dass sie wussten, dass sie gegen die jedem bewusste Stärke Erdogans verlieren würden, dass sie also gar keinen durchgearbeiteten kalt kalkulierten Plan bis zur Herrschaft hatten und dennoch riskierten, aufgerieben zu werden, einfach aus demselben altmodischen Aberglaube der Aufklärung heraus, der auch auf Umwegen die Islamisten antreibt: die Gewissheit, dass es Schlimmeres gebe als den Tod.”
Die Islamisten lieben den Tod und stehen auch offen dazu, von einer “Gewissheit” dass es “Schlimmeres gebe” kann bei denen also nicht die Rede sein. Was Riedel als “wohlmeinende Erklaerung” anbietet, waere in zutreffendem Falle im Grunde verbrecherisch: Dass die Planer des Putsches nie Aussicht auf Erfolg sahen, und fuer dieses “symbolische” Nichts nun die einfachen Soldaten mit ihrem Leben bezahlen muessen, schlicht aus der einfachen islamisten Weisheit heraus, ‘dass man besser stirbt, als auf Knien zu leben’.Es ist die Unterstellung die Putschisten teilten die Gesinnung der islamistischen Moerdern, denen Leben nichts, der Tod aber die Ehre wert ist und damit alles andere als “wohmeinend”, noch weniger, da die Soldaten eben nicht gefragt wurden, ob sie sich fuer die symbolische Sache opfern wollten.
Dass die Sehnsucht nach einem autoritaeren Sekularismus einen objektiven Zuwachs an Wahrheit gegenueber dem Glauben an ‚islamische Volksdemokratie‘ darstellt, welche noch bei der arabelion zu lauschen war und die immernoch kursiert, moechte Riedel nicht wissen, als wuerden Putsch Sympatisanten am Autoritaeren um seiner Selbstwillen haengen und nicht um den Islamisten Erdogan bei seiner Machtausweitung zu hindern.
Aber um eine Verhinderung des Schlimmeren geht es den neuen Idealisten gar nicht mehr, die an unser aller Ohnmacht gegenueber dem Grauen der Welt dumm geworden sind. Dafuer koennen sie sich jetzt den wirklich wichtigen Fragen naehern: Wann kommt in Deutschland endlich die “Abschaffung des [christlichen] Religionsunterrichts”?
Ich schätze eine offene Kritik mehr als das Getuschel hinter virtuellen Rücken. Auch wenn sie falsch ist und einen anschaulichen Beleg für das im Text beschriebene Ideologem liefert.
„Anstatt einen Begriff von Deutscher Ideologie zu haben, unterstellt Riedel die ‚deutsche Tradition‘ gerade bei denjenigen, die noch das Schlimmere vom Schlimmen differenzieren koennen,
und die Einsicht teilen, dass eine Koalition mit Russland in Syrien, dann doch das “kleinere Uebel” darstellt als die Forsetzung des Buergerkriegs , deren zeitliches Ende nicht absehbar ist, deren Ausgang im sunitschen Gottesstaats, der nicht vom morden lassen wird, aber dann doch schon vorraussagbar erscheint.“
Im Kern geht es also um das alte Stück: Gegen Djihadisten ist auch ein Assad das „kleinere Übel“. Das gilt als Einsicht. Und in einer Erweiterung wird dann eine Militärdiktatur, die in der Türkei auf nichts anderes als eine Erweiterung der syrischen Situation hinausliefe, als kleineres Übel zu Erdogan verkauft. Zum ersten Ideologem habe ich genug geschrieben, ein einfaches „s.u.“ genügt.
Zum zweiten habe ich oben alles geschrieben und kann es nur noch einmal verdeutlichen: Als Verzweiflungsakt mag man die Putschisten verstehen. Womöglich gab es einen Masterplan, der in Richtung „sanfter Putsch“ zielte. Wenig spricht dafür, unter anderem, dass Soldaten offenbar unter dem Vorwand eines Manövers für den Putsch eingesetzt wurden.
Wenn die Putschisten ernsthaft vor hatten, Erdogan zu verhaften und die AKP zu zerschlagen, wäre das die blutigste Diktatur der postgenozidalen Türkei geworden. Weshalb sich alle Parteien, auch die HDP, gegen den Putsch stellten. Weil der status quo trotz aller fortschreitenden Faschisierung durch Erdogan, trotz der brutalen Kampagne gegen die PKK immer noch freier ist als das, was folgen würde. Was auch beantwortet:
„Woher ruehrt die Unterstellung, dass ein Regime dass sich “Russland” und “China” angedient haette, nun das schrecklichere waere fuer diese Region, als das Regime des selbstbewussten Islamisten Erdogan?“
Ein wenig sozialpsychologische und konfliktanalytische Sachkunde mit ein klein wenig Landeskunde und Logik vermengt führte mich zu diesem Ergebnis. Und dahingehend korrigiere ich den Fehler meines Artikels: Ich schrieb „fast alle“. Gemeint war, fast alle in meiner Facebook-wall, „meines“ Klientels, dem ich Kritikfähigkeit allerdings getrost zutraue. Korrigiert steht da nun etwas unspezifischer: „viele“.
Eine querzitierte Kritik aus Facebook, wo jeder meint, man könne ja mit Kommentaren unter irgendwo geshareten Artikeln diesen Artikel ergänzen.
„Das viktorianische England ist also dasselbe wie die Herrschaft Erdogans? Der Kapitalimus verspricht „genau das gleiche“ wie der Islamismus? Sollte Kritik nicht eigentlich zwischen Triebkontrolle und autoritärer Freigabe der verpönten Triebe zum Zweck der Vernichtung unterscheiden können?“
Da fällt zuerst dieser Hang auf, mir eine Gleichsetzung zu unterstellen. („dasselbe“). Ich verweise auf das Besondere, auf historische Situationen. Und darin auf den qualitativen Sprung durch Quantität. Wenn man wirklich so aberwitzige Unternehmungen machen möchte, wie die AKP-Ära und den Viktorianismus zu vergleichen, sollte man das am Material auch klären:
Zunächst hat das viktorianische England wesentlich stärkere imperialistische Bestrebungen als Erdogan, der sich zwar in einer globalen Bewegung verortet, aber noch keinerlei Machtanspruch jenseits der Türkei angemeldet hat, von Scharmützeln mit Kurden in Irak und Syrien abgesehen. Etwas, das Erdogan bislang noch nicht vollzieht, ist die genozidale Komponente des britischen Empires:
„Between 1824 and 1908 White settlers and Native Mounted Police in Queensland, according to Raymond Evans, killed more than 10,000 Aborigines, who were regarded as vermin and sometimes even hunted for sport.“
Dazu kommen einige Kriege wie der Opiumkrieg, Burenkrieg (in dem die Konzentrationslager erfunden wurden), die Niederschlagung irischer Aufstände, Millionen Tote durch aktive Hungerpolitik in Indien (u.a. durch Churchill, aber das ist nach dem Viktorianismus, der hier ja Gegenstand sein soll) und einiges mehr, das als „Triebkontrolle“ zu fassen wohl etwas arg schlecht abstrakt wäre. Der Puritanismus ging zwar mit Prostitution einher, aber er verkündete doch eine dem Islamismus gar nicht so fremde Parole, die jegliche Lust und Körperfreude als schädlich erachtete und nicht nur „kontrollierte“, sondern auch projektiv am Anderen auslebte, an den „schmutzigen“ Wilden. In Ghana und anderen Kolonien ging man gegen die nackten Brüste und die matrilokal gestärkten „Amazonen“ und weiblichen Chiefs vor. Was nun davon „dasselbe“ ist und was „schlimmer“ kann ja konkret an den Beispielen erörtert werden, mir scheint die Verkitschung der europäischen Dialektik der Aufklärung schon enorm bedeutsam für die intrapsychische Stabilität der Opposition zum Islamismus zu sein. Womöglich geht man innerlich schon zum Islamismus über, wenn der Westen nicht mehr ganz so strahlend dasteht wie gewohnt. Da werden dann aus graduellen Unterschieden und Spezifika fundamentale Gräben der Trennung und geschichtliches Bewusstsein geht vollends in Harmonismus und geglättete dualistische Oppositionen über.
Die „autoritäre Freigabe der verpönten Triebe zum Zwecke der Vernichtung“ – das von „normaler Triebkontrolle“ – zumal am Beispiel des Viktorianismus – abzugrenzen dürfte erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringen.
Zur Lektüre: https://www.nytimes.com/books/first/d/davis-victorian.html
http://audioarchiv.k23.in/Referate/Wertmueller-Recep_Tayyip_Erdogan-Vortrag.mp3
https://www.theguardian.com/world/2016/jul/18/military-coup-was-well-planned-and-very-nearly-succeeded-say-turkish-officials