„Niemandem gelang es besser, diese Paradoxie, die Wiedergutwerdung der Deutschen an den Flüchtlingen, besser auf den Punkt zu bringen als Karl Lagerfeld. „Wir können nicht Millionen Juden töten und Millionen ihrer schlimmsten Feinde ins Land holen.” Wer dieser trivialen Aussage nicht zustimmen kann, der ist offenbar bereit, zwecks Aufnahme von Menschen in Millionenhöhe, die nur zum Teil tatsächlich verfolgt werden und denen zum größten Teil auch anders geholfen werden könnte – all dies könnte man mittlerweile wissen –, die Möglichkeit jüdischen Lebens dort preiszugeben, wo es einmal fast ausgelöscht wurde.“
Das schreibt Felix Perrefort auf der Achse des Guten und es ist nur eine Wiederholung der ewig gleichen zynischen Suggestion, Flüchtlinge seien „geholt“ worden und hätten sich nicht unter Lebensgefahr, durch das Mittelmeer, Kälte und Wasser dezimiert, und unter Aufwand von Kapital für Schlepper an jeder Grenze hierher gerettet.
Man hätte „anders“ helfen können, meint der Autor hier, und sagt aber nicht wie und wer. Anders hilft etwa die Organisation WADI e.V., die nicht das erste Mal feststellen muss, dass aus temporären Lagern für vom IS verfolgte Menschen dauerhafte Einrichtungen werden, während das internationale Interesse und damit die Gelder schwinden. Für solche „andere“ Hilfe wirbt Perrefort aber gar nicht erst: es geht ihm eher darum, dass „Andere“ und vor allem „woanders“ helfen sollen.
Allein der erste Teil der Aussage Lagerfelds ist trivial und wahr: „Wir können nicht Millionen Juden töten.“ Sobald der Nebensatz hinzutritt, wird aus ersterem eine Option. Wann kann man „Millionen Juden töten“? Wenn man danach nicht ihre Gegner ins Land „holt“? Ist es dann erlaubt? Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Was ist mit Schweden, Frankreich, England? Sollen die Millionen Judenfeinde ins Land „holen“ dürfen?
Lagerfelds unausgegorender Unmut ist schon im Ansatz falsch und dieses Falsche ist Ursache dafür, dass wenig Hoffnung auf Heilung vom Antisemitismus besteht: Weder in den Herkunftsländern von Flüchtlingen, die arabische Diktaturen bleiben, noch in Europa, wo man vom Gewordensein des Antisemitismus so wenig wissen will, dass man kein Rezept zur Re-Education von Millionen parat hat.
Wenn Europa nicht eine Million Flüchtlinge im Jahr gegen Antisemitismus bilden kann, wie soll es dann mit den Dezimillionen eingebürgerter und indigener Antisemiten verfahren können? Wie mit den gebildeten Antisemiten in den Universitäten, in den Zeitungen? Der Anti-Antisemitismus scheitert nicht an den Geflüchteten, sondern an den europäischen Eliten, am fehlenden öffentlichen Bewusstsein über den Antisemitismus. Es geht dem Anti-Antisemitismus von Rechts nicht um Aufklärung gegen Antisemitismus, sondern um bequeme, kollektivierende Lösungen, die mit Notständen gerechtfertigt werden sollen. Weil nicht wenige Antisemiten unter den Geflüchteten sind, soll man am besten alle in der libyschen Wüste oder im Mittelmeer oder am besten ganz „woanders“ sterben lassen. Das ist ohnehin Praxis, nur noch knapp 200,000 Menschen schafften es 2017 lebend bis nach Deutschland. Ein Großteil der Geflüchteten sitzt nun in der Türkei fest, wo sie nun den antisemitischen Reden des Islamisten Erdogan zuhören.
Die höhnische Rede von der „Wiedergutwerdung“ hat ihren kritischen Gehalt, den der Begriff im spezifischen Wandel vom Antisemitismus zum sekundären Antisemitismus einmal beanspruchte, längst verloren und verbreitet ausschließlich Hass auf den Humanismus der Flüchtlingshelfer, zu dem man nicht fähig ist und hinter dem man daher dieselben bösen Motive vermutet, die man selbst gegen Flüchtlinge hegt.
Perrefort fährt fort:
„Dass Weltoffenheit und Vielfältigkeit nur die ideologischen Schlagworte sind, mit welchen die Kritik an solchen Zuständen als Fremdenfeindlichkeit denunziert werden soll, dürfte mittlerweile genauso ersichtlich sein, wie das „Willkommenskultur“ geheißene Destruktionspotenzial einer an seiner nationalsozialistischen Vergangenheit erkrankten Gesellschaft, welches beispielsweise darin zum Ausdruck kommt, dass von der polizeilichen Kriminalstatistik empirisch belegten Gewaltkriminalität seitens der Zuwanderer geflissentlich geschwiegen wird.“
Der verstorbene Demagoge Udo Ulfkotte sprach vom „Vernichtungspotential“ der Einwanderer, hier wird aus Flüchtlingshilfe ein „Destruktionspotential“. Wie jeder Agitator suggeriert Perrefort, es werde über Gewaltkriminalität von Geflüchteten, die er im szeneüblichen Jargon als „Zuwanderer“ tituliert, „geflissentlich geschwiegen“. Als würde nicht jede CDU-Postille die Ausländerkriminalität beklagen, als wäre das Internet nicht voll von faszinierten „Berichten“ über angebliche und reale Vergewaltigungen. Wovon tatsächlich geschwiegen wird, sind humanistische Strategien, sowohl für die Kriege in Syrien und Jemen als auch für die Situation von Geflüchteten als auch gegen den Antisemitismus.
Lieber Felix Riedel,
Dein Einsatz für den Humanismus in allen Ehren, aber wirft man jemandem vor, er sei ein „Agitator“, der bloß „suggeriert“, könnte man sich doch auch die eigenen Sätze noch einmal anschauen.
So schreibst Du, „nur noch knapp 200,000 Menschen schafften es 2017 lebend bis nach Deutschland.“ Wieviele schafften es denn tot bis nach Deutschland? Oder ist dies eventuell bloße Gegenagitation?
„Weil nicht wenige Antisemiten unter den Geflüchteten sind, soll man am besten alle [!] in der libyschen Wüste oder im Mittelmeer oder am besten ganz „woanders“ sterben lassen. Das ist ohnehin Praxis […] Ein Großteil der Geflüchteten [!] sitzt nun in der Türkei fest, wo sie nun den antisemitischen Reden des Islamisten Erdogan zuhören.“ Wenn Du also suggerierst, Perrefort würde am liebsten alle Flüchtlinge irgendwo verrecken lassen, was ja schon geschehe, dann aber sagst, dass diese „alle“, die längst sterben, zum Großteil in der Türkei festsitzen, ist das keine Demagogie?
„Wovon tatsächlich geschwiegen wird, sind humanistische Strategien, sowohl für die Kriege in Syrien und Jemen als auch für die Situation von Geflüchteten als auch für [!] den Antisemitismus.“ Es ist erstaunlich, wie schnell man im Hang zum Konstruktiven plötzlich nicht mehr Strategien „gegen“, sondern für den Antisemitismus entwickeln will, und sich somit der Amadeu-Antonio-Stiftung gleichmacht, in der man drüber aufklärt, wann man mit der Israelkritik den Bogen überspannt. Auch bleibt etwas unklar, was „humanistische Strategien für Kriege“ sind oder sein sollen.
Auch Deine Lagerfeld-Deutung scheint mir etwas sehr gewollt:
„Allein der erste Teil der Aussage Lagerfelds ist trivial und wahr: „Wir können nicht Millionen Juden töten.“ Sobald der Nebensatz hinzutritt, wird aus ersterem eine Option. Wann kann man „Millionen Juden töten“? Wenn man danach nicht ihre Gegner ins Land „holt“? Ist es dann erlaubt? Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Was ist mit Schweden, Frankreich, England? Sollen die Millionen Judenfeinde ins Land „holen“ dürfen?“
Weder ist der erste Teil trivial noch wahr. Dass „wir“ konnten, ist historischer Fakt, von dem auszugehen ist – was Lagerfeld macht, und das weißt Du auch. Angesprochen ist mit Zitat in erster Linie, dass es der Rechtsnachfolger des größten staatlichen Judenschlächters ist, der nun als größter Flüchtlingshelfer auftritt, und dabei eine der größten Massenauswanderungen von Juden billigend in Kauf nimmt. Auf Frankreich trifft das Lagerfeld-Zitat durchaus auch zu. Indem Du aber Geisel auf den Haufen der Theoriemüllhalde wirfst, und zwar genau in dem Moment, in dem er Dir in die Quere kommt, offenbarst Du doch, erstens, dass die „Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“ Dich gar nicht mehr interessiert, und zweitens dass Dein Humanismus tendenziell (!) so naiv ist wie derjenige, der seit 2015 maßgeblich entprofessionalisierten Flüchtlingshilfe. Vielleicht magst Du auch erklären, was dies heißt: „verbreitet ausschließlich Hass auf den Humanismus der gegen die staatliche Bigotterie Flüchtlingshelfer, zu dem man nicht fähig ist.“
Korrigiere mich bitte, falls ich mich irren sollte.
Werte Paulette Gensler,
deine Sophistereien in den ersten Passagen spare ich uns.
Das „für den Antisemitismus“: Wer geht in die Apotheke und bestellt ein Mittel „gegen“ seine Bronchitis? Natürlich hast du recht und dennoch bestellt jeder ein Mittel „für“ seine Bronchitis. Ich habe es dennoch korrigiert, recht vielen Dank für den Hinweis.
Was sollte an einer humanistischen Strategie für den Syrienkrieg falsch sein? Ist es der alte pazifistische Vorwurf, Humanismus und Intervention gingen nicht in eins?
Du suggerierst dann, Deutschland würde als größter Flüchtlingshelfer auftreten und eine der größten Massenauswanderungen von Juden billigend in Kauf nehmen.
Das ist doppelt falsch. Zum einen IST Deutschland das Land in Europa, das am meisten Flüchtlinge aufnimmt. Des weiteren bleibt es hinter dem eigentlich Erforderlichen unglaublich weit zurück. Erforderlich wäre nämlich 15 Millionen Flüchtlinge in den nächsten 2-3 Jahren aktiv einzufliegen als global vernünftiges und angemessenes Minimum, allein um den akutesten Auswanderungsdruck im afrikanischen Konfliktgürtel, im Sahel und im nahen Osten ein wenig aufzufangen. Und zum dritten findet die größte Massenauswanderung von Juden vor allem aus Schweden und Frankreich statt. Sie hat auch nichts mit der neueren Flüchtlingswelle zu tun, sondern eher mit Jahrzehntelangen Versäumnissen in der Schulbildung. Dazu verweise ich auf die gängigen Kritiken von Schulbüchern und Medien. Wenn Europa wollte, könnte es den Antisemitismus nicht nur in Europa sondern auch in der arabischen Welt sehr rasch eindämmen – nur müsste es dazu ein zionistisches Europa sein, das Israel zu verteidigen weiß. Man wirft auch hier Flüchtenden das eigene Problem vor, während es weiße Frauen und Männer sind, die israelische Produkte kennzeichnen und in den Medien hetzen.
Auch legen du und Perrefort implizit nahe, es gäbe noch Spielraum nach unten in Sachen Containment von Flüchtenden. Im status quo. Seid doch ehrlich und sagt, wie ihr euch die Welt vorstellt. Die Mauer in der Türkei gegen die syrischen „Antisemiten“ habt ihr ja schon, mitsamt Todesschüssen. Abschiebungen nach Afghanistan auch. Sklavenhandel und bezahlte Milizen in Syrien auch. Was soll noch kommen? Wegen dem Holocaust und dem Antisemitismus? Was solls denn sein, bitte?
Dass Flüchtlingshilfe sich 2015 „entprofessionalisierte“ ist eine groteske Fehlwahrnehmung. Ab 2015 professionalisierte sich Flüchtlingshilfe auf einem neuen Niveau, trotz und gegen das eklatante Staatsversagen in der Eindämmung des Konfliktes und der geordneten Überführung, Versorgung und Betreuung der Kriegsflüchtlinge. Naiv war daran die Hoffnung, dass Deuschland tatsächlich dauerhaft wiedergutwerden könnte – unterschätzt hat man unter den Flüchtlingshelfern allenfalls die Fähigkeit zum Verrat vormals aufgeklärter Menschen an aufklärerischen Basisbanalitäten und natürlich die Organisationskraft der Reaktionäre.
Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt. Alle Neurechten halten ihre Rationalisierungen für mächtig vernünftig, und alle ihre Konsequenzen laufen auf vernünftigen, notwendigen Massenmord hinaus – notfalls wegen dem Antisemitismus. Das meint Wiedergutwerdung der Deutschen in Reinstform. Geisel kommt daher nicht mir in die Quere, sondern denen, die ihn vereinnahmen.
Der letzte von dir kritisierte Satz wurde bereits vorher korrigiert, es gab eine sogenannte „Leiche“, ein fehlendes Wort, bzw. Halbsatz.
Lieber Felix Riedel,
Ich sage noch nicht einmal, dass irgendetwas „an einer humanistischen Strategie für den Syrienkrieg falsch sein“ sollte, ich verstehe bloß nicht, was das sein soll. Ist es eine Intervention nach Genfer Konvention?
Dass sich die Flüchtlingshilfe professionalisiert haben sollte, kann ich aus eigener Erfahrung und Analyse nicht bestätigen – zumindest nicht, wenn man unter Professionalisierung nicht versteht, kulturadäquate Rezepte hervorzukramen (was niemandem wehtut), islamische Feste in Kitas etc einzuführen oder aber sich lieber aktiv der Auseinandersetzung mit solch Scheußlichkeiten wie Genitalverstümmelung zu verweigern.
Eben deshalb heißt, dass Deutschland das Land in Europa ist, das am meisten Flüchtlinge aufnimmt“ noch lange nicht, dass es auch nur ansatzweise einen Plan hat, wie Flüchtlingen denn zu helfen wäre; und zwar Hilfe, die über Sammmelunterkünfte und Fressen hinaus geht, und dabei gerade den schutzbedürftigsten unter den den Flüchtlingen.
Ich glaube nicht, dass Du von mir irgendetwas von Obergrenze, Abschiebung oder ähnliches gelesen haben dürftest – wenn dann nur etwas über die in moralischer Schnappatmung vorgebrachte Aufregung darüber, dass Leute diese Themen überhaupt nur diskutieren wollen.
Der Humanismus hat in Deiner Darstellung einfach keinerlei Gehalt, zumindest keinen, den ich erkennen könnte – was natürlich an meinem Wahn liegen muss; oder am „Verrat vormals aufgeklärter Menschen an aufklärerischen Basisbanalitäten“, und nicht an der vereidigten Naivität zahlreicher (keineswegs aller, aber eines gehörigen Haufens) der Helfer, die nun nicht mehr nach Indien reisen mussten, um sich selbst zu finden, sondern endlich auch daheim wieder Sinn fanden. Und wenn wir schon mit Freud-Versatzstücken herumwerfen, wäre m.E. vor allem auch an jenen Part aus dem „Unbehagen“ über die Nächstenliebe, an die bei Dir das Wort „Humanismus“ in einer sehr unbestimmten Weise gemahnt, zu erinnern: „Das Gebot »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« ist die stärkste Abwehr der menschlichen Aggression und ein ausgezeichnetes Beispiel für das unpsychologische Vorgehen des Kultur-Über-Ichs. Das Gebot ist undurchführbar; eine so großartige Inflation der Liebe kann nur deren Wert herabsetzen, nicht die Not beseitigen. Die Kultur vernachlässigt all das; sie mahnt nur, je schwerer die Befolgung der Vorschrift ist, desto verdienstvoller ist sie. Allein wer in der gegenwärtigen Kultur eine solche Vorschrift einhält, setzt sich nur in Nachteil gegen den, der sich über sie hinaussetzt. Wie gewaltig muß das Kulturhindernis der Aggression sein, wenn die Abwehr derselben ebenso unglücklich machen kann wie die Aggression selbst! Die sogenannte natürliche Ethik hat hier nichts zu bieten außer der narzißtischen Befriedigung, sich für besser halten zu dürfen, als die anderen sind.“ Nur weil viele irgendetwas machen, heißt es keinesfalls, dass diese das Richtige tun – der Einsatz ist ersteinmal nicht viel wert, wenn man nicht weiß, was man eigentlich will, worauf dabei zu achten ist etc pp. Einfach etwas zu tun, ist tatsächlich Humanismus, und zwar in seiner vulgärsten Form, nämlich der abstrakten Arbeit, wo nur Energie und Zeit die Kategorien sind, auf die es ankommt.
Nochmal: Wo kommt Geisel „mir in die Quere“? Es ist gerade das als Wiedergutwerdung der Deutschen gemeint, was Lagerfeld und Perrefort machen: Zu sagen, wir sind die größten Judenschützer, haben aus dem Holocaust gelernt und fordern deshalb, Millionen Flüchtlinge weiter in Elend zu halten oder in den Tod zu treiben, weil wir so gut geworden sind.
Und nochmal: „Angesprochen ist mit Zitat in erster Linie, dass es der Rechtsnachfolger des größten staatlichen Judenschlächters ist, der nun als größter Flüchtlingshelfer auftritt, und dabei eine der größten Massenauswanderungen von Juden billigend in Kauf nimmt.“
Unterstellt ist, dass das eine mit dem Anderen zwingend zusammenhängt – und nicht, wie du andeutest, dass die Helferschaft bigott ist, nämlich staatlicherseits zunächst unprofessionell und planlos, dann inszeniert und sich zuvor, zugleich und zuletzt de facto als brutales Abschottungsregime manifestiert. Du bringst zwei Gegenstände zusammen und produzierst eine unzulässige Engführung, die Massenauswanderung den Flüchtlingen zuschiebt und dadurch wie Perrefort als Gegenstrategie wiederum gegen die „Masseneinwanderung“ wie es im Jargon heißt, agitiert.
Wenn wir uns darüber unterhalten, wie man Aufklärung gegen Antisemitismus vorantreibt, auch und gerade gegen arabische Narrative, dann gern. Aber darum geht es in Perreforts Text nicht.
„Ich glaube nicht, dass Du von mir irgendetwas von Obergrenze, Abschiebung oder ähnliches gelesen haben dürftest – wenn dann nur etwas über die in moralischer Schnappatmung vorgebrachte Aufregung darüber, dass Leute diese Themen überhaupt nur diskutieren wollen.“
Wer hat denn diese „Schnappatmung“ und wer will das „überhaupt nur diskutieren“? Abschiebung wird nicht „diskutiert“, sie ist für die überwältigende Mehrheit der Deutschen die Allheilstrategie für alle Probleme und sie wird als Kampfmittel und Propagandainstrument vollumfänglich angewandt, nicht diskutiert. Der nationalliberale Gestus hält sich immer den angeblichen Tabubruch zugute: Jetzt aber müsse man doch endlich einmal auch abschieben – als hätte man das vorher nicht bei jeder Gelegenheit getan. Dagegen gibt es gutes Recht, der Abschiebung ebenso wie der Todesstrafe jegliches Recht zu verweigern: Gerade bei Terroristen, vor denen schwächere Staaten geschützt werden müssten.
„Helfer, die nun nicht mehr nach Indien reisen mussten, um sich selbst zu finden, sondern endlich auch daheim wieder Sinn fanden.“ – unter den Helfern fanden sich bürgerliche Profiteure, die ihre Wohnungen an den Mann schlagen konnten ebenso wie Leute wie ich, die einfach unabhängig von ihrer ideologischen Prägung das verinnerlicht haben, was Adorno als moralischen Imperativ einfordert: Einem Flüchtling an der Tür nicht den Weg zu weisen unter dem Vorwand notwendiger Reflexion. Das zu tun, was unmittelbar notwendig und somatische Moral geworden ist: zu helfen, auch defizitär, auch wenn später Widersprüche entstehen.
Das hat mit Indien und Selbstfindung einfach nichts zu tun. So etwas macht auch kaum noch jemand: Die Studierenden gehen nach Indien, um ein Praktikum zu machen und Lebenserfahrung für den Lebenslauf zu sammeln, nicht um sich Selbst zu finden – was auch ein legitimer Anspruch wäre. Aber es scheint doch, als würden diese Helfer ein Gegen-Selbst für viele aus dem Bahamas-Spektrum erfüllen, die Indien nur aus Wittfogels Orientalitscher Despotie kennen und generell alles Nichtwestliche ostentativ als „Barbarei“ verachten gelernt haben.
Mir den christlichen Ethos vorzuwerfen, ist auch so eine Übersteigerung. Sofort geht es um die Nächstenliebe, als würde ich fordern, alle Flüchtenden zu „lieben“, wo ich nur das allermindeste einfordere: die oberste Spitze des globalen Fluchtproblems mit der aktiven Aufnahme von 15 Millionen Menschen zu nehmen. Im gleichen Ton panikt die Rechte davon, dass man „nicht alle aufnehmen“ könne, wenn es mal eine ganze Million schafft. Ich habe diese Übersteigerung an anderer Stelle kritisiert als verschleierte Forderung, niemanden aufzunehmen.
Abgesehen davon war dieses christliche Liebesgebot, und dazu findest du ebenfalls in der Kritischen Theorie einiges, trotz seiner Unmöglichkeit eines der fortschrittlicheren Elemente zumal gegenüber dem Islam, dessen zynischer Rationalität sich einige rechtsantideutsche Gegner des Asylrechts einigermaßen angeglichen haben.
Ich habe genug zum christlichen Narzissmus gearbeitet, referierte Grunberger/Dessuant und auch das Freud-Zitat ist mir hinlänglich bekannt – der christliche Humanismus alleine ist gewiss nicht das, was ihn malign macht und auch wenn er gesellschaftlich furchtbares an Gegenreaktionen anrichtete, so gelingt doch manchen Christen auch um den Preis ihrer narzisstischen Aufwertung eine, und hier mit Freud, „kulturfreundliche“ Leistung, nämlich der Aufbau von Krankenhäusern, die Aufwertung von Menschenrechten gerade des Individuums, etc. Es scheint aber gerade dieses kulturfreundliche Moment des Christentums zu sein, das den Hass der Kulturfeinde auf sich zieht.
Daher auch das richtige Argument des mittlerweilse leider ebenfalls nach rechts abgedrifteten Gunnar Heinsohn, der NS habe versucht, mit den Juden den jüdischen Ethos vom Nächsten und vom Leben zu vernichten, der dem Machtrationalismus im Wege stand.
Das Gebot zu „lieben“ ist kurzum nicht das zu helfen oder humanistisch zu handeln.
Zum Vorwurf der Konzeptlosigkeit zwei Dinge:
1. der Verweis auf meine über 13 Jahre alte Bloggeschichte, in der so einiges ausformuliert wurde.
2. die Kritik am gegenwärtigen Konzept, das Kritik von rechts, die dem Ganzen „Konzeptlosigkeit“ vorwirft, nur zu stärken sucht: Das Abschottungsregime mit der Legitimationsform bürgerlicher Egoismus, der sich mit dem Vorwand des Schutzes von Juden selbst zum Humanismus adeln möchte.
3. Die Kritik der als Konzeptlosigkeit getarnten Konzeptes rechter Kritik mit der Frage: Was soll es denn sein? Was wäre die Alternative gewesen? 2015, davor, danach? Was ist die Alternative dazu, wenigstens ein paar wenige hereinzulassen und manchen sind die 200,000 von 2017 noch zuviel?
Mir scheint der Vorwurf der Konzeptlosigkeit von Flüchtlingshilfe nur instrumentell vorgetragen zu sein, eher um diese anzufeinden und nicht um sie voranzubringen und auf vernünftigerer Basis auszuweiten.
„Denn in der eifrigen Materialsammlung und der sie begleitenden gefühligen Anschauung wurde aus der Besinnung auf den Nationalsozialismus eine neue Besinnlichkeit und der Verstand wurde vom Verständnis abgelöst […] Gerade die offenherzige Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ging reibungslos konform mit wachsendem Ausländerhass und parteiübergreifendem Patriotismus, wohingegenwahrhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
einzig darin bestünde, den notorischen Zusammenhang
zu kündigen.« (Eike Geisel)
Mir scheint grob unzulässig daraus zu machen: „Wegen dem Holocaust, den wir aufgearbeitet und aus dem wir gelernt haben, dürfen wir keine Flüchtlinge mehr ins Land holen, weil diese die Antisemiten sind und nicht wie wir aus Geschichte so gut gelernt haben.“ Und das ist die Verdrehung Perreforts, selbst exakt so vorgehend, wie es Geisel im Zitat aus „Verordnete Aufklärung“ kritisiert.
„unter den Helfern fanden sich bürgerliche Profiteure, die ihre Wohnungen an den Mann schlagen konnten ebenso wie Leute wie ich, die einfach unabhängig von ihrer ideologischen Prägung das verinnerlicht haben, was Adorno als moralischen Imperativ einfordert: Einem Flüchtling an der Tür nicht den Weg zu weisen unter dem Vorwand notwendiger Reflexion.“
Das ist eine wirklich vulgäre Gegenüberstellung vom ehrenlosen Kapitalisten oder „Profiteur“ und ehrenamtliche Helferlein, unter denen es in ihrer moralischen Reinheit anscheinend keine psychischen Profiteure gab und gibt, die beispielsweise klatschend am Bahnhof standen, oder auch einfach ganz handfeste Profiteure, die endlich in einer der Stiftungen oder so einen Job bekommen haben, wobei es in Zeiten der Überforderung meist egal war und ist, ob sie für diesen überhaupt qualifiziert sind. Und gerade jene Leute, in aller Rege „Studierte“ müssen auch kaum einen Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt befürchten, da sie eben ganz anders überflüssig sind als jene, die oftmals im Grauen Arbeitsmarkt tätig sind. Gerade unter jenen Leuten aber, von denen viele oder gar die meisten wegen 20 Nazis gut und gerne Stunden lang Straßen blockieren, gibt es kaum jemanden – hierbei sollte klar sein, dass ich Dich explizit nicht dazu zähle -, der beispielsweise den momentanen Aufmärschen gegen Juden und Israel sich entgegenstellt. Und gerade in diesem Kontext ließe sich konstatieren, dass schlichtweg zusammenwächst, was zusammengehört; was in der Presse und von eben keineswegs ideologiefreien Flüchtlingsfreunden oftmals begleitet wurde mit der Phrase, dass Muslime die neuen Juden seien. Was nicht zuletzt der von Dir massiv abgestrittene Zusammenhang wäre. Man musste selbst 2015 nicht darauf warten, dass „später Widersprüche entstehen“, sondern diese bestanden längst und werden nun verstärkt.
„Abgesehen davon war dieses christliche Liebesgebot, und dazu findest du ebenfalls in der Kritischen Theorie einiges, trotz seiner Unmöglichkeit eines der fortschrittlicheren Elemente zumal gegenüber dem Islam.“ Dies ist mir wohl bewusst, und meine auch, dazu ab und an etwas geschrieben zu haben.
Aber ich predige auch nicht am laufenden Band Atheismus und Humanismus, weshalb mir auch jene Flüchtlingshelfer, die sich ganz offen auf ihren eigenen christlichen Anspruch beziehen, sehr viel lieber sind, als jene, die diesen Anspruch mit reflektiert klingenden Phrasen wie Humanismus, die völlig unbestimmt bleiben, übertünchen. Denn tatsächlich „gelingt doch manchen Christen (!) auch um den Preis ihrer narzisstischen Aufwertung eine, und hier mit Freud, „kulturfreundliche“ Leistung“.
Mir ist auch durchaus bewusst, dass Abschiebungen in viel zu vielen Kreisen als Allheilmittel gelten. Ich für meinen Teil schrieb dazu dies: „Das hegelsche „Recht auf Strafe“ steht in einem direkten Zusammenhang mit der Gleichheit vor dem Gesetz. Im Sinne des Rechtsstaates wäre deshalb darauf zu bestehen, dass eine Ausweisung eine unzulässige Verschärfung des Strafmaßes darstellt.“ Auch meine ich, dass dies nicht alle, die für Dich Neurechte aus dem Bahamas-Spektrum sind, teilen, aber – und das magst Du nicht glauben – darüber kann man diskutieren und macht man dort (in diesem Spektrum) auch.
Worin sich aber alle der Beteiligten meines Erachtens einig sind, ist, dass die Kritik dem Satz gebührt: „Wir schaffen das“ – ohne zu sagen, was „das“ denn überhaupt ist. Und gerade weil es nicht gesagt wird, umfasst es auch: „Der Islam gehört zu Deutschland.“ Ich meine, dass es mehr als legitim ist, eben dies nicht schaffen zu wollen. In diesem Sinne zitiere ich einmal Justus Wertmüller: „Vielleicht hat die Bundeskanzlerin zunächst nur sagen wollen: Vorläufig können wir die Flüchtlingswelle nicht stoppen, ohne selbst oder vertreten durch Bündnispartner an irgendeiner Grenze auf sie zu schießen. Deshalb muss gelingen, was nicht einfach, aber machbar ist: sehr viele Menschen in sehr kurzer Zeit in Deutschland aufzunehmen. Das wären angesichts einer sich abzeichnenden humanitären Katastrophe angemessene Worte gewesen. Gesagt hat sie der Bevölkerung etwas entscheidend anderes: Jeder wird gebraucht bei der Bewältigung einer Asylantenflut wie damals 2010 bei der Wasserflut am ostzonalen Oderdeich, jedenfalls so lange, wie Kamerateams bereitstehen. Gesagt hat sie auch und das wörtlich: Wir können keinen Zaun aufbauen – was natürlich völliger Unsinn ist, denn natürlich kann man das. Sie hätte sagen müssen: Vorläufig machen wir von diesem Souveränitätsrecht keinen Gebrauch, weil wir keine Unmenschen werden wollen. Vielleicht hat sie auch sagen wollen: Vorläufig sind wir ohnmächtig und müssen eine Situation meistern, deren Folgen im Inneren noch nicht absehbar sind. Aber ohnmächtig wollte sie nicht sein.“ Wer daraus wie Scheit oder Du sofort einen Nazivorwurf, oder in Deiner gemäßigteren Formulierung den Vorwurf „Neurechte“, abzuleiten vermag, diskutiert nicht mehr, sondern moralisiert.
Und genau das ist der kleine Unterschied zu Adorno, der die Abweisung von Flüchtlingen kritisierte, sich aber immer weigerte, Rechtstitel an die Hand zu geben – und dabei egal, welcher Art -, oder gar Menschen(gruppen) als Quantitäten aufzufassen. Beides aber machst Du, da Du selbst eine Obergrenze, mit der Du Dich vorerst abfinden könntest, also eine Untergrenze von 15 Millionen angibst, die Dein Gewissen (oder die Welt) zumindest notdürftig befriedigen würde. Wobei mich sehr interessieren würde, wie Du auf diese Zahl kommst, die ich hiermit nicht einmal in Abrede stellen möchte.
Frohen Advent, wünsche ich.
Noch ganz kurz zu Geisel, von dem ich nicht ganz so viel halte, bzw. mir immer noch unsicher bin, was ich von ihm bzw. seinem Werk halte, weshalb ich mich weder auf ihn beziehen würde noch ihn verdammen würde. Mir erschien es aber dezent willkürlich, wenn Du, in dem Moment, in dem jemand die Sicherheit von Juden zum Telos der Kritik macht, verkündest: „Die höhnische Rede von der „Wiedergutwerdung“ hat ihren kritischen Gehalt, den der Begriff im spezifischen Wandel vom Antisemitismus zum sekundären Antisemitismus einmal beanspruchte, längst verloren“, um dann zu schreiben: „Es ist gerade das als Wiedergutwerdung der Deutschen gemeint, was Lagerfeld und Perrefort machen.“
Liebe Paulette,
Das von dir angeführte Wertmüller-Zitat nehme ich gewiss nicht zur Einstufung als rechtsantideutsch oder gar „Nazi“ (das würdest du von mir so gewiss nicht lesen). Gerade Wertmüller tritt in diesen Sachen häufig noch recht wohlformuliert auf und in manchen Sachen lässt sich mit seinen Texte auch gegen andere argumentieren. Was Anlass zu äußerstem Unbehagen mit dem Absturz der Bahamas liefert sind andere, mehrere redaktionelle (und daher durch JW mit abgesegnete) Statements, die auf die Affirmation ungarischer Politik hinausliefen und als antideutsch die osteuropäische Abschottung gegen den „Imperialismus“ Merkels verstehen. Du kennst diese Positionen, ich werde das nicht im Kommentarbereich aufmachen.
Die 15 Millionen sind 3 Prozent der EU-Bevölkerung und 2 Prozent der europäischen. So kam ich einmal darauf. Zugleich sind 15 Millionen 25 % der weltweiten Fluchtbewegung. Wenn man das noch mit der Wirtschaftsleistung (Die EU hat im Weltvergleich das größte BIP) vergleicht, sollte klar sein, dass das eine Untergrenze ist, die noch nicht einmal realistisch dem Ideal einer gerechten Verteilung entspricht.
Zu Geisel: Ich hatte ihn nicht zur Hand, würde daher das spezifische zurücknehmen und den Vorwurf der Verdrehung aufrechterhalten, den ich mit dem Zitat belege. Ansonsten teile ich auch nicht die unbedingte Begeisterung für Geisel, im Film gab es auch ein paar komische Momente, die ich aber nie niederschrieb und daher im vagen nur erinnere.
Auch dir eine produktive Zeit. Wenn die anderen feiern, kann man in Ruhe deren übers Jahr produzierten Unfug abarbeiten.
Lieber Felix Riedel,
erst einmal stammt das „Ich bin ein Trottel.“ von Dir?
Dann vielen Dank für die Angabe, wie die Zahl der 15 Millionen zustande kam. Ich dachte, Du hättest Sie vielleicht von irgendwo anders.
Wenn Du aber schreibst, 15 Millionen seien 25% der globalen Fluchtbewegung, würde ich 1. sagen, dass von den 65 Millionen Menschen, die auf der Flucht sind, 40 Millionen Binnenflüchtlinge sind, also Flüchtlinge, denen vor Ort geholfen werden muss, die aber auch nicht in der Türkei festsitzen oder im Mittelmeer ersaufen. Und auf jene bezog sich Dein ursprüngliche Kritik. Darunter wären ferner ja auch die 5,irgendwas Millionen palästinensischen „Flüchtlinge“, die ihren Status vererben oder per Adoption weiterreichen können. Aus rein pragmatischer Sicht wären – das hast Du oben auch angedeutet – die Fluchtbewegungen in Süd- und Mittelamerika abzuziehen, da auch von diesen niemand oder kaum jemand versucht, mit Schiff nach Deutschland zu kommen. Dass es das „Ideal einer gerechten Verteilung“ unter den Produktionsverhältnissen gerade nicht geben wird, wissen wir vermutlich auch beide. Aber von all dem abgesehen, verstehe ich wirklich nicht, inwieweit diese (sehr viel) höhere Grenze, würde man sie als Grenze fassen – („Im gleichen Ton panikt die Rechte davon, dass man „nicht alle aufnehmen“ könne, wenn es mal eine ganze Million schafft. Ich habe diese Übersteigerung an anderer Stelle kritisiert als verschleierte Forderung, niemanden aufzunehmen.“) – die von Dir angemerkten Scheußlichkeiten, wie ertrunkene Menschen im Mittelmeer bspw. mehr als nur quantitativ verschieben würde. Auch eine geplante und staatlich organisierte Aufnahme von 15 Millionen schließt die Abweisung weiterer ein. Die „Schuld“ ist zwar quantitativ geringer, aber sie vergeht nicht. Durchaus bedeutend scheint mir dabei das Thema der finanziellen Unterstützung von bspw. Gruppen wie WADI. Denn Geld scheint mir in der Tat ein Gegenstand zu sein, an dem man die Chauvinisten (von mir aus auch Rassisten) sehr leicht unterscheiden kann von jenen, die andere Anliegen mit in die Debatte bringen. Und mir wäre keine Person aus dem von Dir kritisierten Spektrum bekannt, die sich dagegen ausgesprochen hätte, viele Milliarden für die Flüchtlingshilfe auszugeben. Wer dies nicht möchte, betreibt in der Regel auch eine „Kritik des Islam“ á la FPÖ, die den Islam einfach nur nicht im eigenen Land möchte, ihn sonst aber sehr faszinierend findet. Mir wären auch keine Vorbehalte bekannt, die es rechtfertigen würden, zu behaupten, in und um die Bahamas gäbe es Leute, die „generell alles Nichtwestliche ostentativ als „Barbarei“ verachten gelernt haben.“
Dankbar wäre ich, wenn Du mir eventuell zumindest eines jener „Statements, die auf die Affirmation ungarischer Politik hinausliefen und als antideutsch die osteuropäische Abschottung gegen den „Imperialismus“ Merkels verstehen,“ nennen könntest, denn mir wäre dies in der Art nicht bekannt – also vielleicht einfach die Quelle. Mir scheint es in Bezug auf die Bahamas gerade immer wichtiger zu werden, alles wirklich am Text auszumachen, da die „Deutungen“, welche sich aus der Lektüre dieser Texte ergeben, etwas arg frei werden momentan.
Liebe Grüße
Entschuldige ferner bitte eventuell orthographische Sonderheiten oder Satzkonstruktionen. Dieses Kommentarfeld ist für mich recht ungewohnt.
Sehr geehrter Herr Riedel,
ich möchte mich hier einschalten, weil ich den Vorwurf, es gäbe geradezu eine Affirmation Ungarns, für unredlich halte. Noch falscher ist es, Ungarn generell mit osteuropäischer Politik in eins zu setzen.
Was es gibt, in Deutschland und auch unter sogenannten Antideutschen, ist ein durch nichts zu rechtfertigender Chauvinismus gegenüber Polen und dazu stand auch mal hier und da etwas in der Bahamas und dazu wird man dort auch noch mehr lesen können. Von einer Israelsolidarität, die vergisst, was der Nationalsozialismus und Deutschland in Polen angerichtet haben. Wer glaubt, über den polnischen Nationalismus und Polens „rechte“ Regierung den Stab brechen zu können, was in Deutschland fast völlig analog zur Abrechnung mit Israels „rechter“ Regierung erfolgt, der kann nicht wirklich verstanden haben, was Israelsolidarität und die Solidarität mit den Opfern der deutschen Barbarei bedeutet. Der kapiert auch nicht, dass der Nationalismus in Ländern wie Polen, Tschechien oder Israel eben eine andere Funktion und Geschichte hat als in Deutschland. In dieser Frage sehe ich auch nicht, welchen Dissens man in der Frage zwischen mir, Justus Wertmüller und anderen Bahamas-Autoren aufmachen möchte und warum.
Wer glaubt, dass es richtig ist, dass Merkel versucht, Polen, Tschechien und weiteren osteuropäischen Ländern ihre Flüchtlingspolitik aufzuzwingen, während das Land jahrelang an Warschau vorbei Russland affirmiert hat und sich in der Reparationsfrage die sowjetische Haltung zueigen macht, also noch nicht einmal bereit ist, die Hauptverantwortung des NS dafür anzuerkennen, dass Polen nach dem zweiten Weltkrieg verheert war und dann auch noch unter sowjetische Fuchtel geriet, in dessen humanistischen Unternehmen möchte ich nicht mitspielen.
Eben dieser Bezug auf Polen, wie Martin ihn hier skizzierte, ist mir nämlich auch aufgestoßen. Denn auch ohne Bahamaslektüre, aber nach einem kurzen Blick in ein durchschnittliches Geschichtsbuch wäre doch zu erkennen, dass es eventuell Gründe gibt, aus denen sowohl die polnische Regierung als auch Bevölkerung etwas sensibel auf deutsche Biopolitik auf polnischem Boden reagiert. Bezüglich des angeblichen Endorsement der ungarischen Reaktion würde mich wie erwähnt die Quelle sehr interessieren.
„Wer glaubt, dass es richtig ist, dass Merkel versucht, Polen, Tschechien und weiteren osteuropäischen Ländern ihre Flüchtlingspolitik aufzuzwingen“
Ist diese Lesart des gesamten Konfliktes denn bei dir auch d’accord, Paulette? Du selbst sprichst von „Biopolitik“? Ernsthaft?
Denn eigentlich erspart mir das den Nachweis aus Bahamas-Editorial 73, ihr beide belegt euch doch eure eigene Frage. Für euch ist es eine Zumutung, dass EU-Länder wenigstens ein paar Dutzend Flüchtlinge aufnehmen, wozu sie sich verpflichtet haben. Der Rest eurer Argumentation ist vorgeschobene Kritik an deutscher Politik, Whataboutism, ebenso wahllos wie die pazifistischen Gleichsetzung von Waffenhandel mit Saudi-Arabien und U-Boot-Verkauf an Israel.
Aber ich wurde um einen Beleg gefragt. Man findet das in letzter Zeit in mehreren Artikeln, nach meiner Kündigung habe ich den Faden verloren. Eine der Wegmarken nach rechts war Bahamas 73.
„wofür die vollends wahnsinnige Flüchtlingspolitik seit dem Frühjahr 2015 steht“ – vollends wahnsinnig. Als hätte es eine Alternative gegeben, die nicht irre gewesen wäre. Wertmüller schreibt selbst in dem von Paulette angeführten Zitat, die Alternative hätte darin bestanden, Flüchtlinge zu erschießen. Offenbar war es aber vollends wahnsinnig, etwa drei Wochen lang ein paar Flüchtlinge aufzunehmen.
„Für die wenigen Kritiker im Inland könnte es dagegen weit unangenehmer werden, als für die Mitglieder einer alternativen Partei, die immerhin auch „für Deutschland“ agieren. Den brutalen Überlegenheitsdünkel und die unerträgliche Selbstgerechtigkeit der deutschen Intelligenz hat kürzlich der Schriftsteller Pascal Bruckner in Gestalt des ihn interviewenden Journalisten Georg Blume zu spüren bekommen. In einem Interview das am 14.4.2016 in der Zeit erschienen ist. Im Ergebnis geriet die intendierte Entlarvung des prinzipienlosen französischen „Parade-Intellektuellen“ durch einen Vertreter der „guten Deutschen“ zum Protokoll über einen kollektiven Wiederholungstäter, dessen Hang zu Sonderwegen Europa einmal mehr ängstigt:“
[…]
„Zeit: Haben wir etwa keine universelle Verantwortung für die Flüchtlinge?
Bruckner: Man darf die Schuldigen nicht aus ihrer Pflicht entlassen. Deshalb sollten die Länder, die den Krieg verursacht haben, auch diejenigen sein, die die Flüchtlinge aufnehmen, allen voran Saudi-Arabien.
Zeit: Aber Frankreich etwa nicht?
Bruckner: Nein, ich sehe uns moralisch nicht in der Verantwortung. Die europäische Intelligenzija teilt weit und breit meine Meinung.“
„Die Redaktion Bahamas, die Bruckners Argumente vorbehaltlos teilt, befindet sich in der ungemütlichen Situation, dass Herr und Frau Durchhalter in deutschen Redaktionen, Studentenvertretungen und selbst sich israelsolidarisch nennenden Initiativen auf jeden kritischen Hinweis über deutsche Alleingänge wie die Flüchtlings- und Türkeipolitik der Regierung Merkel nicht nur mit Diffamierungen reagieren, auf die wir schon zu antworten wissen.“
[…]
Polemische Frage Redaktion Bahamas: „„Haben wir antifaschistisch und antirassistisch motivierten Helfer nicht Europas Ehre gerettet?“ Nein, Ihr habt Euch als die unverbesserlichen Narzissten, die Ihr seid, nur selber gefeiert und aus Europa ein Rest-Europa gemacht, das Ihr moralisch erpressen wollt.“
Man belege einmal ein Zitat, in dem nennenswerte Fluchthilfeorganisationen „Europas Ehre“ zu retten sich brüsten. Das entbehrt jeder Polemik, das ist einfach sehr, sehr miese Hetze gegen die, die sich den Arsch aufgerissen haben, um ein paar Menschen durch das System zu bringen, die seit Jahren gegen dieses „Europa“ aus Mauern und Stacheldraht kämpfen und ihm einige Überlebende abringen, in Lesbos, in Lampedusa, in den Gemeinden.
Die oben zitierten Positionen ensprechen eins zu eins der Argumentation der französischen, deutschen, polnischen und ungarischen Rechten. Letztere werden bei Stobbe nochmal als „Opfer Deutschlands“ kollektiviert, als wäre es nicht gerade jenes Spektrum, in dem NS-Glorifizierung, Misogynie und harter Antisemitismus Urständ feiern. Dieses schlechte Generalisieren und Kollektivieren, willkürliches Ineinanderschmeißen von Gegenständen, das macht das neue, in Permanenz übergegangene rechtsantideutsche Wutbürgertum der Bahamas ebenso aus wie Martin Stobbes Kommentar oben.
Nur ein Beispiel für die Ehrrettung Europas, wenn auch von Junckers: „Im Mittelmeer rettet Italien Europas Ehre.“
Oder: „Die deutsche Bereitschaft, eine hohe Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen, hat „in gewisser Weise Europas Ehre gerettet“ sagte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble am Dienstagabend in Paris.“
„Und Pierre Henry von der Organisation „France Terre d’Asile“ spricht nachdenkliche Worte: „Die Mobilisierung hat in Frankreich nur langsam begonnen, die Ehre Europas hat Merkel gerettet.“ “
Zum Rest ganz bald mehr, wenn ich wieder an einem Computer sitze.
Lg
„antifaschistisch und antirassistisch motivierten Helfer“
Hier geht es explizit gegen diese und nicht gegen Junckers, Schäuble, etc., die jahrzehntelang Gegner der Flüchtlingshelfer waren.
Bleibt Henry.
Der Europa „moralisch erpresst“? Das ist alles so wirr, man braucht gar nicht anfangen, irgend etwas daran zu retten.
Das Problem an Riedels Realitätsprinzip und seines an die Rhetorik der Sowjetunion gemahnenden Humanitätsgefasels ist, dass es alles erlogen ist. Man kanm das an dem Vorwurf, ich kollektivierte die Polen, sehr schön zeigen, da ich explizit vom Land Polen sprach, das de facto und nicht zu leugnenderweise Opfer des Nationalsozialismus und weiterer deutscher, russischer und sowjetischer Expansionspolitik war. Ein Realitätsprinzip, das auf faustdicken Lügen aufbaut, kann man getrost in die Tonne kloppen.
Wofür viele polnische Nationalisten (nicht kollektiviert und nicht alle) ein Bewusstsein haben und was sie turmhoch über Riedel erhebt, ist die simple Tatsache, dass die größte Gruppe unter den im Holocaust ermordeten Juden Polen waren, was übrigens explizit und zu Recht als Argument in der für Deutschland mehr als peinlichen Entschädigungsfrage vorgebracht wird. Das Bewusstsein, dass im Holocaust eben nicht nur Juden, sondern deutsche, polnische etc. Staatsbürger umgebracht wurden, ist in Polen deutlich lebendiger als in Deutschland, wo man die Juden quasi posthum zu Fremden erklärt. Eine Argumentation in Deutschland lautet ja allen ernstes, für den Holocaust habe man ja mit Israel ein Entschödigungsabkommen geschlossen, weswegen Polen kein Recht auf Entschädigung für den Massenmord an seinen Staatsbürgern habe. Das ist der Humanismus von Riedel und Merkel.