Nach dem Tod von 20 Opfern der Massenpanik in Duisburg werden Verantwortliche gesucht – mit allen Merkmalen einer kollektiven Verdrängungsleistung.
Da ist zunächst die Rationalisierung durch Naturalisierung. Ein Psychologe erklärt im Fernsehen die Wirkung von Panik: In der Umgehung des Großhirns gelangen angsterregende Informationen direkt zur Amygdala und lösen dort reflexionslose Handlungen aus. Auf dem gleichen Niveau bewegen sich die zahlreichen „effects“, die angeblich natürlich in Menschenmassen stattfänden.
Ein anderes Symptom ist die durchaus zu befürwortende Suche nach Verantwortlichen auf höherer Ebene: aus ökonomischen Gründen seien Sicherheitsbedenken, die vorher im Internet geäußert wurden, von Veranstaltern und Stadtpolitik nicht berücksichtigt worden. Mal ist es der Oberbürgermeister, mal wieder der Veranstalter.
Und nicht zuletzt richten sich krude reaktionäre Ideologien am Ereignis auf. Eva Hermann (bereits früher Thema) will in Sexualität und Dekadenz die Ursache für die Panik sehen und projiziert die Schuld auf die 68-er. Die Junge Welt projiziert ihre eigenen Qualitäten auf die Raver: unintelligent und dumpf seien die, hätten es kaum besser verdient.
Was bislang unbesprochen bleibt: Die Schuld der Masse, die sich nicht spontan auf eine erkennbare Bedrohung hin zu organisieren wusste. Jede und jeder der da mal im pubertären Scherz, mal in der freudigen Erwartung bald mit Oliver Pocher und Vladimir Klitschko zu raven, mal aus unbändiger Angst heraus drückte, schob und trampelte hat seinen Teil beigetragen zum Tod der 20. Dadurch wird eine für das Selbstbild unerträgliche Schuld aufgehäuft, was in Verdrängung und Projektion mündet. (vgl. Theodor W. Adorno: „Schuld und Abwehr“)
In dem gewaltsamen Paroxysmus erschrickt die neobürgerliche Gesellschaft vor ihrem entschleierten Gesicht. Hier haben alle gegen ihre Interessen gehandelt indem sie ihr Interesse, das eigene Überleben, vertraten. Die Einzelaktionen entfalten in der Masse eine Gewalt, die jedes Individuum für sich machtlos werden lässt, es unter tonnenschweren Druckwellen von den Beinen reißt, wo es selbst nur ein paar Kilogramm nach vorne drückte. Die eigene Ohnmacht dem gegenüber wird internalisiert.
Und so folgt zwangsläufig der Appell an den Staat, solche Massen besser zu überwachen, damit sie sich nicht selbst gefährden. Das setzt ein Bild von Unmündigkeit voraus, das gar nicht einmal falsch ist in der Diagnose sondern in seiner Zementierung der Verhältnisse. Keiner suggeriert, dass es nicht so sein müsste. Dass sich Millionen lustvoll und selbstbewusst treffen könnten ohne vor der Macht, die diese Menge ausstrahlt in Verzückung oder Panik zu verfallen, ohne dieser Masse für die Entbindung von Strafinstanzen zu bedürfen und demzufolge von ihr auch das schlimmste – Bestrafung – zu erwarten. Die Sicherheit, nicht aus dieser Masse herauszufallen wird erst durch eine tief empfundene Angst zur Lust, wobei die Lust nur noch jene der Strafvermeidung ist und nicht mehr an ihr ursprüngliches Begehren gebunden ist. (vgl. Theodor W. Adorno: „The stars down to earth“)
Fest etabliert sich so die Unmöglichkeit der abhängigen Individuen zur massenhaften Solidarität, zur Bewusstwerdung der Gewalt angehäufter Einzel-Entscheidungen. Die Massen können Stahlgitter verbiegen und sprengen aber nicht jenen Schwächeren helfen, die straucheln und zurückbleiben.