Im Deutschen entstanden zwei große Begriffe zur Verschleierung der Ausbeutung. Der erste ist die Verkehrung der Bedeutung von „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“. Der Ausgebeutete wird als „Nehmer“ verhöhnt.
Ein zweiter Begriff beruht auf einem Euphemismus: Die „Hilfe“. Bürgerliche Ideologie hat ein sehr spezielles Verhältnis zur Hilfe: Unternehmer*innen und andere Bourgeois imaginieren sich permanent als wohlwollende Patrone, die Arbeit „vergeben“ und durch ihre Fabriken „Gutes tun“ für die Ortschaften, die sie ausbeuten. Unternehmertum lebt von der Inszenierung solcher mafiöser Vateridentitäten, weil sie das schlechte Gewissen unterdrückt.
Für diese „Hilfe“ erwartet die Bourgeoisie freilich Gegenleistungen: willentliche und freudige nackte Ausbeutung für das Fortlaufen des Betriebes. Diese Ausbeutung nennt bürgerliche Ideologie dann ebenfalls „Hilfe“ und wo sie sie nicht erhält, verlegt sie sich aufs Betteln.
Erntezeiten in der Landwirtschaft sind von einer ganz spezifischen Urgenz geprägt: Ernte muss in einem kleinen Zeitfenster, manchmal binnen weniger Tage oder Stunden eingeholt werden. Das wohl bekannteste aller Volkslieder, der Kanon „Hejo, spann den Wagen an“ atmet diesen Druck der Regenwolken am Himmel, das Arbeiten unter der Angst, dass eine kurze Rast die Früchte eines ganzen Jahres harter Arbeit zerstören können.
In kleinbäuerlichen Betrieben war daher tatsächlich die gegenseitige Hilfe beim Ernten häufig: wer Arbeitskraft entbehren konnte, maximierte sein soziales Kapital. Wer viele Kinder hatte, konnte sie nun in Profit umsetzen. Nur, wer die Spitzenlasten der Ernte bedienen konnte, durfte auf Expansion hoffen.
Der Fron für einen Fürsten oder Großbauern allerdings war von Beginn an von oben organisierte Ausbeutung. Leibeigene und Sklaven wurden zu Erntearbeiten eingesetzt und entlang der Klimazonen und reifen Früchte auch verschickt, um sie so lang als möglich im profitablen Bereich zu halten. Mit der fortschreitenden Zentralisierung und Organisation von Landwirtschaft für die großen Städte entstanden Truppen doppelt freier Lohnarbeiter, sogenannter „harvest-gangs“. Karl Marx und Friedrich Engels beschrieben die hierarchische Struktur, die Ausbeutung insbesondere der Frauen und Kinder in diesen Gangs, vor allem aber die generelle Ausbeutung durch die Betriebe.
Im zweiten Weltkrieg griffen die Nazis auf die alte Praxis der Sklaverei zurück: Sie setzten osteuropäische Kriegsgefangene für die Ernte ein. Fast jeder landwirtschaftliche Betrieb wurde durch Zwangsarbeit gefördert.
Mit dem Begriff der „Erntehelfer“ für osteuropäische Arbeiter*innen wird in Deutschland nachträglich dieses Gewaltverhältnis kaschiert. Hilfe wird freiwillig geleistet und unentgeltlich. Mit dem fehlenden Entgelt hat die deutsche Landwirtschaft nach wie vor keine Probleme, die „Freiwilligkeit“ stellt ihr nach dem Untergang des Faschismus wieder der Markt in alter Tradition her.
Durch den Einsatz von Maschinerie gelang es, das Image der Erntehilfe als „Maschinenringe“ aufzubessern: Gigantische Mähdrescher ziehen durch die USA, immer an der Front der Klimazonen.
An der schmutzigen Ausbeutung in Gemüse und Obstbau änderten solche Megamaschinen nichts. Tomatensklaverei wird weithin schulterzuckend akzeptiert. Im Spargelbau hingegen überraschte die geringe Bezahlung für ein nicht einmal sehr wohlschmeckendes Luxusgut dann doch größere Bevölkerungsteile. Ihr edler Spargel das Produkt von Lohndrückerei?
Spargel war einst das erste frische Gemüse, das nach einem langen Winter mit Eingemachten wieder zur Verfügung stand. Er war von Beginn an ein Vergnügen der Aristokratie – anders als Lachs, Hummer oder Edelkrebs, die früher Armenspeise waren,
Spargel ist bis heute dekadenter Luxus. Die besten Böden, sowohl sandig als auch nährstoffreich, eben und wärmebegünstigt, werden zusätzlich mit Wärme, Folien und aller verfügbarer Technik aufgerüstet, um ein Produkt ohne Kalorien und Geschmack zu erzeugen. Diese Investition muss hereingeholt werden durch den massiven Einsatz von harvest-gangs, deren Arbeitskraft möglichst gering entlohnt wird. Soweit sind sich Investor, Verwalter und Kunde einig.
Mit Corona gerieten Saisonfruchtanbieter unter Druck: Nicht die Organisation der Werktätigen, sondern eine Krankheit verhinderte den möglichst rücksichtslosen Einsatz mobiler Arbeitstruppen. Daher rekurrierte die Spargelindustrie früh auf den Begriff „Hilfe“. Arme Bauern, die Hilfe brauchen – Studierende fielen auf diese Maskerade herein und meldeten sich freiwillig zur Selbstausbeutung an.
Sie sollten nicht lange gebraucht werden: der politische Druck ermöglichte bald wieder den Einsatz von osteuropäischen harvest-gangs, die man anders als Studierende so übel behandeln konnte, wie deren materielle Not es erlaubte. Der Entzug von Pässen, das völlig überzogene Berechnen von Unterkunft und Nahrung waren bekannte und nun umso drastischer angewandte Mittel, um die Mehrkosten durch die angeblich „strengen“ Sicherheitsmaßnahmen zu kompensieren.
Gegen die Krankheit, die angeblich die Betriebe in „Nöte“ brachte, hatte man aber in Wirklichkeit auf einmal nichts mehr. Bedenkenlos erzeugte man Situationen in denen sich hunderte von Arbeitenden anstecken mussten, für Löhne weit unter deutschem Mindestlohn. Dieselbe Krankheit, die den Einsatz von Erntearbeitenden zu Beginn verhinderte, griff nun unter den Erntearbeitenden um sich.
Die Fleischindustrie war der Komplize dieser Strategie. Anders als im Gemüsebau gibt es hier geringere saisonale Schwankungen. Weihnachtsgänse gibt es im Dezember, ansonsten folgt aber auf den Braten an Weihnachten das tägliche Fleisch auf dem Teller, mit immer raffinierterem Luxus für die Wochenenden, Sonntage, Ostern, Grillsaison: Dry aged beef, Wagyu-Burger, Tomahawk-Steaks – Fleisch ist omnipräsent und alles andere zur Beilage geschrumpft.
Natürlich legt die Fleischindustrie die Kosten für den billigen Luxus auf Natur und Mensch um. 70% Artenschwund in der Fläche bei Insekten und vielen anderen Tieren und Pflanzen konnte sie sich ungehindert erlauben. Erst als die Gülleflut dauerhaft an die Wasserwerte ging, schritt die Politik auf Druck der EU zaghaft ein.
In den Schlachthöfen hatte die Industrie dennoch den gleichen Druck wie die Spargelbauern. Ein Schwein, das sein Schlachtgewicht erreicht hat, frisst seinen immer stärker schrumpfenden Profit wieder auf, wenn es weiter gefüttert werden muss. Also muss geschlachtet werden. Die Arbeiter wurden wie im Spargelbau systematisch den Gefahren ausgesetzt, die die Industrie eigentlich als Krisenfaktor beklagte. Fleischfabriken wurden zu neuen Hotspots für die Ausbreitung von Covid-19.
Dass diese Betriebe in Gemüse- und Fleischindustrie ihre eigenen, angeblich so wichtigen „Helfer“ schonungslos der Ansteckung aussetzen, und somit ihre Krisen selbst erzeugen, hat seine Logik in der Echtzeit des Kapitalismus. Es interessiert einen Betrieb im Kapitalismus nicht, ob er in drei Jahren oder auch nur drei Monaten noch gut dasteht, wenn er in dieser Zeit Profite einfahren und die Konkurrenz zermatschen kann. Er schert sich nicht um seine Arbeitenden, weil er weiß, dass sich mit etwas politischer Manipulation und Krokodilstränen um den Standort weitere, unendliche Ströme von Arbeitswilligen anzapfen lassen, deren Freiwilligkeit und Fügsamkeit der Markt durchsetzt.
Daher ist der erste ideologiekritische Schritt, die notorische Klage der ausbeutenden Betriebe in ihrem Zynismus und Skrupellosigkeit zu entlarven und sich mit den Arbeitenden bedingungslos solidarisch zu zeigen.
Der Spargelkult und der Fleischkult, beide werden durch die Agrarlobbies kulturell hochgejazzt zu einem Grundbedürfnis, das die gewaltigen Opfer von Natur und Mensch rechtfertige. Die Wahrheit ist: Niemand braucht diesen Spargel und niemand braucht täglich Fleisch aus Massentierhaltung und Megaschlachtereien. Auch nicht die rumänischen Arbeitenden, die durch die Agrarpolitik der EU von ihren kleinen Selbstversorgerhöfen gepresst und in die harvest-gangs hineinmanipuliert werden. Ihnen „hilft“ man im Moment am besten, indem man weder Spargel noch Fleisch aus den Fleischfabriken kauft, in denen Arbeitende rücksichtslos der Massenansteckung mit dem Coronavirus ausgesetzt wurden, während die Bourgeoisie Videos über Langeweile und den Kaffeedurst beim Home-Office postet und sich mit Schokolade und Spargel „belohnt“ für die „Entbehrungen“ der Krise.