Norbert Bolz, von Beruf Vorzeigeintellektueller, hatte einst nach jahrelanger Kommunikationsforschung Überraschendes festgestellt:
„In der von den Massenmedien formatierten Öffentlichkeit ist Kritik durch Moralisierung ersetzt worden: Zwischen den Polen Lob und Tadel wird das Nachdenken eingespart, in Feuilletons und Talkshows wird längst nicht mehr diskutiert, sondern nur noch emotionalisiert.“
Ein detailreicher Befund, der anscheinend nicht unbedingt zur Umsetzung im eigenen Gerede führt. Sein neuester Gimmick ist ein Artikel in der Tageszeitung mit dem Titel „Linke Lebenslügen“. Gar nicht emotionalisierend wird der Titel mit einer Kopftuch tragenden Frau illustriert, die am Schild „Kottbusser Tor“ vorbeiläuft. Ob hier eine Selbstmordattentäterin auf dem Weg zur Arbeit abgebildet ist oder eine Kommunikationswissenschaftlerin mit Stipendium vom Goethe-Institut kann man nicht so genau sagen – die Unterschrift suggeriert jedenfalls, hier gebe es laut Norbert Bolz keine Linken. Stattdessen gibt es da Fremde, schlimmer noch, Fremde, die nicht von hier sind und das führt Bolz zu seinem Ziel: Einer „Integrationsdebatte“.
Selbst wenn es eine solche Integrationsdebatte tatsächlich gäbe, man müsste befürchten, die Kritik daran in einem Zitat von Adorno/Horkheimer aufgehen lassen zu können:
„Das Wunder der Integration aber, der permanente Gnadenakt des Verfügenden, den Widerstandslosen aufzunehmen, der seine Renitenz herunterwürgt, meint den Faschismus.“ (Adorno/Horkheimer DdA 138)
Bolz entspricht in seinem narzisstisch verplombten, autoritären Charakter voll und ganz dem Verfügenden aus dem Zitat. Sein Urteil blendet zwangsläufig jegliche faschistoide Tendenzen aus, die er so sehr selbst vertritt:
„Dass es hier keine Fortschritte gibt, liegt nicht an den Dummen und Ewig-Gestrigen, die man an den Stammtischen vermutet, sondern an den Linken.“
Bolz muss erst gar nicht nachweisen, ob eine Relevanz einer „linken“ Position zur Integration überhaupt je in irgendeiner Gesetzgebung gegeben war. Er denkt in seiner Schlafmützigkeit ja selbst noch in Kategorien wie „rechts“ und „links“. Auch eine emische Entfaltung dieser Etiketten müsste schlüssig machen, dass Kulturalismus, Ethnozentrismus und eine verquere Toleranz tatsächlich der „Linken“ bevorzugt eigen wären. Diese Ideologeme prägen allerdings nicht minder die nationalistischen und islamistischen Bewegungen, die Toleranz vor allem für die eigene und fremde völkisch-bornierte Barbarei markieren wollen. Eine Arbeit an Gegenständen interessiert Bolz aber auch gar nicht, er will ja als Mythenzertrümmerer in die Geschichte eingehen:
„Erstens: der Mythos der Ausländerfeindlichkeit. Kranke Hirne unter Glatzen, Springerstiefel und Kampfhunde gibt es überall in der Welt. Aber diese Verrückten, für die wir in Deutschland aus historischen Gründen natürlich besonders sensibel sind, sollten doch nicht den Blick dafür trüben, dass wir in einem der ausländerfreundlichsten Länder leben“
Auch das muss der „Wir in Deutschland“ – Wissenschaftler nicht belegen. Er könnte es auch nicht, es ist nämlich schlichtweg falsch. Deutschland ist weder „besonders sensibel“ geworden, noch „eines der ausländerfreundlichsten Länder“. Wovon überhaupt? Der Welt? Wohl kaum. „Ausländerfeindlichkeit“ sei selbst gar ein „Mythos“: so trinkt Bolz sich Deutschland schön. Dabei erspart sich der Wissenschaftler nicht einmal die billigsten Platitüden, um größere gesellschaftliche Gruppen zu bauchpinseln:
„Denn fast jeder, der ein schulpflichtiges Kind hat, fängt an, vernünftig zu werden.“
Dicht beschrieben ist das wahrlich nicht. Fairerweise muss man notieren, dass Bolz wenig Zeit hat. Er muss, nachdem er mit einem im Stahlbad der Fakten und Argumente gehärteten Hammer den ersten Mythos siegreich zertrümmert hat flugs zum nächsten Mythos eilen:
„Zweitens: der Mythos des Multikulturalismus. Zwei Schlagworte markieren die festgefahrene Integrationsdebatte: „Multikulti“ auf der Linken und „Leitkultur“ auf der Rechten. Multikulturalismus ist das Fazit einer mit dem Kolonialismus des 19. Jahrhunderts beginnenden Selbstkritik des Westens, die das Abendland als einen Schuldzusammenhang konstruiert, aus dem uns nur „die Anderen“ erlösen können.
Aber dieser Multikulti-Kult der guten Anderen ist so undialektisch wie die Gegenparole „Leitkultur“. Am Multikulturalismus ist wahr, dass wir die Anderen brauchen. An der Leitkultur ist wahr, dass wir die Anderen nur anerkennen können, wenn wir unserer Toleranz eine Grenze setzen. Nur wer selbstbewusst ist, kann auch offen sein. Wer keine eigenen Werte zu verteidigen hat, kann auch nicht tolerant sein. Wahrer Multikulturalismus setzt eine Leitkultur voraus.“
Würde Bolz die „Anderen“ nicht „brauchen“, wäre der ganze Utilitarismus perdu, der seinen Pseudo-Liberalismus noch am Leben hält. Doch dazu später. Es steht noch ein Stein vom Mythos, der „Deutschenhass“:
„Es ist eigentlich eine ganz selbstverständliche Erwartung, dass Einwanderer sich mit dem Land ihrer Wahl identifizieren. Dass Linke ein solches Bekenntnis zu Deutschland nicht erwarten, ja geradezu verabscheuen, liegt an ihrem pathologischen Verhältnis zum Patriotismus. Gerade hinter ostentativer Ausländerfreundlichkeit versteckt sich oft nichts anderes als Deutschenhass.“
Wie „selbstverständlich“ diese Identifikation ist, bezeugen zahllose Austreibungen und Genozide, Pogrome und Mordbrennereien gegen Einwandernde: Chinesen in Indonesien, Nigerianer in Ghana, Ghanaer in Nigeria, Simbabwer in Südafrika, Zigeuner auf der ganzen Welt, Juden auf der ganzen Welt außerhalb Israels, Palästinenser im Libanon und überhaupt Ausländer in Europa. Was an der Ablehnung von einer dümmlichen Ideologie für Ich-Schwache, dem Patriotismus, sowie einem Hass auf deutsche Patrioten pathologisch sei verschweigt Bolz – er will ganz unemotionalisierend das patriotische Nationalgefühl seiner prospektiven deutschen Leserschaft abernten. Und denen kann er dann auch mit viel Preisnachlass etwas Elitenduldung verkaufen:
„Drittens: der Mythos von der Unmenschlichkeit des ökonomischen Arguments. Wer heute nicht sieht, dass Deutschland Einwanderer braucht, ist einfach ignorant. Die Frage ist nur: welche? Dass an deutschen Universitäten brillante Köpfe aus dem Ausland ausgebildet werden, denen nach Studienabschluss dann Arbeit und Aufenthalt verweigert werden, ist natürlich ein Schildbürgerstreich. Wir brauchen Kinder und Inder. Vor produktiven Immigranten, die sich mit Deutschland identifizieren, hat niemand Angst.“
Würden sie sich tatsächlich wie Bolz mit Deutschland identifizieren, wäre Grund genug zum Fürchten – meistens fürchten sie sich selbst genug vor den täglich ausgespuckten Drohungen, der Toleranz demnächst Grenzen zu setzen. „Schildbürgerstreiche“ treffen die Schildbürger, was an Elend von derzeitigen Regelungen bei den tatsächlich Betroffenen angerichtet wird ist Bolz in seiner pathologischen Germanomanie schlichtweg unzugänglich.
„Die Akzeptanz der Einwanderer hängt daran, dass die Immigration nicht als Invasion erscheint. Der Eindruck der Invasion entsteht am leichtesten bei Wirtschaftsflüchtlingen und beim Nachzug von Großfamilien. Natürlich muss Deutschland stets politisch Verfolgten Asyl gewähren; aber die Kriterien dafür sollten dem gesunden Menschenverstand nachvollziehbar sein.“
Nicht nachvollziehbar sind die Kriterien für Bolz, wenn Flüchtlingswellen den Deutschen als Invasion erscheinen. Nachvollziehbar sind für Bolzens gesunden Menschenverstand wohl so zwei bis dreitausend Flüchtlinge pro Jahr, die dann aber gefälligst sich fügen und baldmöglichst wieder zurück zu ihren Großfamilien sollen. Das „natürlich“ ist schon Verrat an der langen Geschichte des Asylrechts, das erst erstritten werden musste, bevor es weitgehend abgeschafft wurde und daher eine gar nicht „natürliche“ Errungenschaft ist. Was für Bolz gar nicht geht: Wenn Leute die Chancengleichheit nicht nutzen und einfach zu „Wirtschaftsflüchtlingen“ mutieren, die also keine echten Flüchtlinge sind, sondern stinknormale Hungerleider ohne 66 000 € Jahreseinkommen. Und die werden zu Opfern gemacht, wenn man ihnen was zu Essen gibt:
„Der Wohlfahrtsstaat erwartet nicht, dass man etwas für sein Leben tut – und die Medien dokumentieren, dass man nichts für sein Leben tun kann. Gleichzeitig weiß jeder, dass er sich auf die Humanität unserer Gesellschaft verlassen kann, die ihm – zumindest materiell – ein halbwegs menschenwürdiges Leben ermöglicht. Insofern macht der Wohlfahrtsstaat die Betroffenen, die seine Profiteure sein sollten, zu seinen eigentlichen Opfern.“ (Bolz 2009)
Von was für einem Wohlfahrtsstaat und welcher Verlässlichkeit und welchen Medienbotschaften Bolz hier halluziniert, bleibt unbekannt. Der Wissenschaftler hat sich jedenfalls definitiv nicht mit deutschen Medieninhalten auch nur annähernd hinreichend befasst. Wer dazu Menschenwürde schon zum „halbwegs“ teilt und das dann noch als generöse „Humanität“ regelrecht anprangert, hat sich schon zu dem Formstahl gemacht aus dem auch NsdAP-Soziologen geschmiedet wurden. Bolz gliedert sich entsprechend ein, macht sich nützlich und schmeißt eine zünftige Überraschungsparty für alle, die er noch nicht ausgesiebt hat:
„Deutschland bekommt die Leute, die es braucht. Und die, die dann kommen, sind herzlich willkommen.“ (Bolz 2010)
Schön, dass der chancengleich im Lande geborene Grenzwissenschaftler Bolz das auch so gönnerhaft rüberbringen kann. Was mit den Übrigen geschehen soll, formuliert Bolz gar nicht erst aus, weil jedem ohnehin klar ist, was der derzeitige Usus vorsieht: Ausschaffen, ins Meer treiben oder an Ort und Stelle verhungern lassen.
Bolz, Norbert 2010: „Linke Lebenslügen.“ In: Tageszeitung: http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/linke-lebensluegen/
Bolz, Norbert 2008: „Modernes Leben – Geistiger Selbstmord.“ http://www.focus.de/kultur/leben/modernes-leben-geistiger-selbstmord_aid_299051.html
Bolz, Norbert: „Irgendwas kann man immer werden.“ http://www.wiwo.de/lifestyle/irgendwas-kann-man-immer-werden-397894/