Ukrainische Kriegspropaganda und ihre Rationalität

„Strike the occupier! Let’s win together! Our strength is in the truth!“

Ministry of Defence, Ukraine

Die Diskrepanz zwischen dem Optimismus der proukrainischen Militärkommentare und offiziellen Nachrichten von der Front und den Kartenwerken von UA-Maps scheint erschütternd. Auf Youtube, Twitter und Tiktok täuschen die Algorithmen vor dass die ukrainische Armee permanent russische Schützengräben räumt, mit Drohnen Granaten zielgenau in russische Panzer versenkt und selbst kaum Verluste hat. Es scheint auch offizielle Linie der ukrainischen Armee zu sein, keinerlei negative Meldungen und keine für die russische Armee nutzbaren Informationen zuzulassen. Reportagen aus den Schützengräben zeigen motivierte Soldat*innen, die ihren Gegnern zwar verletzlich, aber heroisch gegenüberstehen. Hier die kühl planenden Landesverteidiger mit klug angewendeten modernen Waffensystemen, dort die ausgehungerten, schlecht schießenden, aus den Gefängnissen geholten Söldner und Infanteristen mit uralten Waffen und Panzern aus dem zweiten Weltkrieg. Es ist, als wäre der Fog of War selbst getarnt worden als permanente Berichterstattung direkt von den Fronten: Über Bodycams, Dronen und Handykameras von Soldaten, deren Aufnahmen allerdings penibel selektiert werden.

Auf dem Kartenwerk, das aus Meldungen zusammengebastelt wird, wird jedoch die Intensität russischen Artilleriebeschusses, russischer Angriffe mit Infanterie und die Realität relativ statischer Frontlinien deutlich. 20.000 Stück Artilleriemunition pro Tag verschwendete die russische Armee auf den Beschuss im November, die Nachrichtenkartenseite https://liveuamap.com/ listet tägliche Angriffe durch Artilleriebeschuss entlang der gesamten Front auf. Auch wenn dieser Beschuss den NATO-Präzisionswaffen weit unterlegen ist, muss er doch einen hohen Blutzoll fordern und den psychischen Terror erhöhen. Vier Smertsch-Raketenwerfer können aus bis zu 120km Entfernung in wenigen Sekunden einen knappen Quadratkilometer eindecken. Von einer lernfähigen Armee eingesetzt könnte der noch fahrbereite russische Militärpark trotz erheblicher Verluste noch gigantische Schäden anrichten. Und auch die unintelligente, auf Terror und eugenisches Menschenopfer von Strafgefangenen und ethnischen Minderheiten setzende Strategie konnte bislang einen größeren Durchbruch verhindern und die Ukraine trotz anrollender Militärmaschinerie zum Aushalten zwingen.


Während die zivilen Opfer von russischem Raketenterror gemeldet werden, hält sich die Ukrainische Armee aus nachvollziehbaren Gründen bedeckt über militärische Opfer. Aus gigantischen Explosionen im ukrainischen Gebiet zu schließen, trafen russische Luftschläge vor einer Woche offenbar große Munitionsdepots. Russische Spionage in den ukrainischen Gebieten, Satelliten, sowie die Folter gefangener Soldaten sind erwartbare Faktoren, die die Treffsicherheit russischer Raketen erklären.
Kaum denkbar ist, dass die Ukrainische Armee den Beschuss durch Russland nur aushält, um in Ruhe den Gegenangriff aufzubauen. Realistischer ist die Annahme, dass die Kapazitäten zur Gegenwehr schlicht noch nicht vorhanden sind und dass die russischen Angriffe mit einigen kritischen Schlägen den Gegenangriff verzögern konnten.

Die Strategie der ukrainischen Propaganda, eigene Verluste zu beschweigen und die unter den ukrainischen Geflüchteten beobachtbare Disziplin beim Bewahren von Diskretion über das Frontgeschehen, sind rational. Die Brüchigkeit der Solidarität zentraler NATO-Staaten wie Deutschland ist in der Ukraine schmerzhaft bekannt. Anstatt das Land nach der Invasion der Krim und des Donbass 2014 auf einen weiteren Schlag vorzubereiten und angemessen aufzurüsten, führten acht Jahre lang verbummelte Diskussionen zu monatelanger Verzögerung von Waffenlieferungen. Wieder einmal, denn als der IS 2014 Sindschar eroberte und Massaker an den ezidischen Kurden organisierte, diskutierte ausgerechnet Deutschland monatelang darüber, ob man Menschen militärisch helfen darf, die genozidaler Gewalt ausgesetzt sind. Geliefert wurden am Ende ein paar ausgemusterte Militärfahrzeuge und Waffen – jedoch nicht an die Selbstverteidigungseinheiten oder an die YPG und PKK, die den esidischen Kurden als Einzige beistanden, sondern an die konkurrierenden Peschmerga. Dass Waffen „in falsche Hände“ geraten könnten, wurde im Falle des permanenten Terrors des türkischen NATO-Partners gegen esidisch-kurdische Selbstverteidigungsgruppen beflissentlich ignoriert.

Und 2022 wurde in Deutschland erneut monatelang diskutiert, ob man einem Land Waffen liefern kann, das von einem jüdischen, liberalen Präsidenten geführt wird und Opfer dreier Überfälle wurde: zunächst durch die stalinistischen Sowjets, dann durch die Nazis, dann durch das neozaristische Russland unter Putin.
Die harte Arbeit, die ukrainische Botschafter und die Regierung Selenskyj leisten mussten, um nach einem halben Jahr erste einigermaßen hinreichende Zusagen für die Lieferung schwerer moderner Waffensysteme zu erhalten, sowie die Weigerung der Schweiz, essentielle Panzermunition zu liefern, machten unmissverständlich klar, dass nicht wenige NATO-Länder einer russischen Verhandlungsofferte mit signifikanten Gebietsverlusten für die Ukraine nur zu gern gefolgt wären, allein um weiter in Trägheit schlummern zu dürfen. Es durfte für den Westen keine Zweifel an einem Sieg der Ukraine geben. Die Kriegspropaganda der Ukraine hat daher zunächst drei rationale Ziele: Die Moral der eigenen Truppen und Bevölkerung unter dem Terror gegen die Zivilbevölkerung und angesichts der zeitweise hohen Verluste aufrecht zu erhalten, der russischen Feindaufklärung so viele Informationen wie möglich vorzuenthalten und die NATO-Länder bei der Stange zu halten.

Nach den großen Geländegewinnen in der Gegenoffensive 2022 warteten nun alle Seiten auf eine Wiederholung des Erfolges. Dass dieser sich noch hinauszögert, ist zunächst durch Verluste erklärbar. Zwar gab es kaum Verluste an NATO-Waffensystemen, aber die Verluste an erfahrenen Soldaten vor allem in der Schlacht um Bachmut müssen erheblich gewesen sein. Bakhmut erhielt die Funktion, die russischen Truppen auszubluten. Der Preis dafür war jedoch zu hoch, um das als souveräne Strategie aus einer überlegenen Position heraus zu erklären. Die Notwendigkeit einer derartig hingezogenen Schwächung russischer Truppen verwies auf die eigene Schwäche und den Zwang zu einem solchen Vorgehen. Dass die ukrainische Armee mit der Eroberung der Höhenzüge nun einen Kessel herstellt, ist zwar ein erster Schritt, jedoch bleibt das Rückgrat der russischen Strategie der Artilleriebeschuss und der Raketenterror aus dem sicheren Hinterland des Krieges, während die teilweise von Lohnunternehmen ausgehobenen Schützengräben mit Rekruten aufgefüllt werden, die von der ukrainischen Armee unter hohem Aufwand von Munition nach dem immer gleichen Ablauf getötet werden: Drohnenaufklärung, Artilleriefeuer und Mörser (softening up), nach Möglichkeit Anrücken im Schutz von Schützenpanzern und Panzern, Vorrücken unter suppressive Fire und letztlich die vermutlich am wenigsten veränderte Technologie seit dem zweiten Weltkrieg, die in Gräben und Erdlöcher geworfene Handgranate.

Das zweite, rationale strategische Element einer Konzentration auf Bachmut ist offensichtlich: eine Verlegung russischer Truppen aus den Verteidigungslinien am Dnipro um Saporischschja zu erzwingen. Das dritte wurde von Militärkommentatoren häufig vernachlässigt: Russland den Propagandaerfolg zu verweigern. Die ukrainische Regierung weiß, wie essentiell Propaganda für das System Putin ist und da diese Propaganda sich auf Bachmut kaprizierte, musste die Ukraine dort reagieren, obwohl der militärische Wert der nunmehr ohnehin zerstörten Stadt zweifelhaft war.

Ein durchaus genialer Schachzug ist nun, der „Legion freies Russland“ und dem „Russischen Freiwilligenkorps“ in der ukrainischen Armee ausreichend Material für einen Aufstand auf russischem Gebiet in Belgorod zur Verfügung stellen. So wird die russische Strategie solcher „Aufstände“ russischer Staatsbürger ad absurdum geführt und die Russifizierungspolitik Russlands wird endlich gegen Russland selbst gewendet.

In den besetzten ukrainischen Gebieten wurde schließlich mit Dekret vom 23.4. die russische Staatsbürgerschaft zur Pflicht: Wer sie nicht annimmt, wird mit der Deportation als feindliches Element bedroht. Die Politik der Russifizierung, der zynischen Verschickung von Menschenmassen zur Herstellung von loyalen Mehrheiten wurde vom Zarismus in den Stalinismus übernommen und ist weiter prägendes Element der russischen Expansionspolitik. Sie ist auch der Grund, warum die baltischen Staaten und die Ukraine Strategien zur Klärung der Loyalität der dorthin verbrachten russischsprachigen Gesellschaftsteile entwerfen mussten. In Lettland wandte sich die Mehrheit der Bevölkerung gegen Russisch als zweite Amtssprache, in Estland blickt man misstrauisch auf die russisch dominierten Orte im Osten und überall werden sowjetische Kriegsdenkmäler mal aus nachvollziehbaren Motiven, mal aus Revisionismus geschliffen. Mit Antifaschismus hatte die Sowjetunion nichts mehr gemein, die Aufarbeitung des Holocaust wurde von ihr aktiv sabotiert und verhindert, und vor allem in Polen sogar offener Antisemitismus gegen „zionistische Elemente“ geschürt.

Die historische Erfahrung mit der Russifizierungspolitik in Estland, Lettland, Georgien, Donbass und Krim ist eindeutig: Russland hat und wird seine Staatsangehörigen mittels Sprachpolitik und Propaganda nutzen, um Einfluss auszuüben oder territoriale Ansprüche durchzusetzen. In Deutschland waren und sind russischsprachige Individuen und Vereine das Ziel einer aggressiven Propaganda, die sowjetische Propagandastrategien übernommen und weiterentwickelt hat. Das Bandwagon-Element von Propaganda erwies sich dabei als Rückgrat: Alle Russen müssen für Putin sein, oder zumindest gegen den homosexuellen, liberalen, verweichlichten, faschistischen, zionistischen Westen. Russifizierung als essentiellen Teil der russischen Kriegsökonomie zu unterhöhlen und zumindest potentiell in einem symbolischen Aufstand gegen Russland zu wenden ist eine gelungene und progressive Antwort auf die Russifizierungspolitik. Sie ist nicht nur ein Signal an Russlands Regierung und Opposition, sondern auch an die eigenen Gesellschaften: Es darf keine Vereinheitlichung des Gegners geben, es gibt eine russische Pluralität, es gibt eine russische Opposition gegen Putin und die russische Minderheit ist nicht nur bedrohlich, sondern eine Chance auf ein freies Russland.
Das Narrativ eines Zerfalls des durch Militarismus bis in die Kindergärten, Geschichtsmythen, Zentralisierung, Paranoia, Suprematismus und auf den Mord als Mittel der Politik trainierten und somit faschisierten Russlands erhält mit der Initiative in Belgorod einen Testballon, der die interne Schwäche Russlands sichtbar macht. Die Evakuierung russischer Bürger*innen von der entstandenen Front trägt dazu bei, die russische Kriegsmoral entscheidend zu unterminieren und Putins Paranoia zu steigern.

Wer ist da nun mit dem Material der ukrainischen Armee einmarschiert? Während die „Freedom for Russia Legion“ aus russischen Deserteuren und Kriegsgegnern zu bestehen vorgibt, deren weiß-blau-weiße Flagge sie trägt, ist die RVC rechtsextrem. Der Anführer der RVC, Denis Nikitin, kann als Nazi-Hooligan gelten, der seine Abneigung gegen den „zu liberalen“ jüdischen Senenskyj seiner Abneigung gegen Putin unterordnet.
Die ukrainische Gesellschaft indes hat einen im europäischen Vergleich eher niedrigen Anteil rechtsextremer Gruppen, die sich aber durch die Invasion mit bürgerlichen Nationalisten verbünden konnten und die – in die Armee integriert – weitgehend einer ans Völkerrecht gebundenen Kriegsdisziplin unterworfen bleiben. Der Krieg hat den internationalen Faschismus in zwei Lager geteilt. Die Neofaschisten traditioneller Prägung, sprich Nazis z.B. des Dritten Wegs, tendieren zur Unterstützung der Ukraine, insbesondere des Asov-Batallions und der Kraken-Einheit. Der größte Teil des politisch harten Kerns der dort organisierten Rechtsextremen dürfte allerdings inzwischen gefallen sein, die Einheiten unterlagen seit Beginn des Krieges im Donbass 2014 einer Umstrukturierung und einem weitgehenden Austausch der Kämpfer.
Die bürgerlich-konservativen Faschisten vom Stil der AFD, aber auch Banden wie die Night Wolves, rechtsextreme Söldner und russische, syrische und südamerikanische Nazis unterstützen Russland.
Während jedoch linke und anarchistische Gruppen für die Ukraine kämpfen, gibt es keine antifaschistischen Truppen auf Seiten Russlands.

Die traditionell von sowjetischer Propaganda infiltrierten Teile der traditionellen westlichen Linken nehmen nicht an den Kämpfen teil, reproduzieren aber die russische Propaganda mit ihrem Hauptelement der Rückprojektion: Aus der Ukraine werden angreifende Nazis im Dienst der NATO, aus den russischen Invasoren antifaschistische Verteidiger des großen, vaterländischen Krieges. Die in der Linken immer noch weit verbreiteten Verschwörungstheorien und Mythen über die Jugoslawienkriege belegten die Anfälligkeit der Linken für ein propagandistisches Reenactment der Täter-Opfer-Positionen des zweiten Weltkrieges und die Erleichterung von intellektueller Arbeit, die eine solche fälschende Wahrnehmung von Konflikten verschafft. Dazu zählen im globalen Kontext auch Länder wie Brasilien unter dem linken Antiimperialisten Lula oder Südafrikas ANC, der ebenfalls historische Gemengelagen mit aktuellen Konfliktlinien verwechselt und sich als Revanche für die Unterstützung der südafrikanischen antirassisischen Kämpfer durch die Sowjetunion eindeutig auf die Seite Russlands geschlagen hat. Gegen die vorgeschützte, zwischen zwei Übeln angeblich differenzierend abwägende, in Wahrheit russlandtreue linke Position, und gegen die unentschlossenen, abwartenden Staaten und Parteien muss die ukrainische Position den Kriegserfolg zumindest in der Propaganda vorantreiben, um keinen Zweifel am weiteren Kriegsverlauf zu lassen.







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