Dunkelziffern, Datenmangel, keine empirische Grundlage – diese Begriffe sind verbreitete Floskeln in der öffentlichen Diskussion um Corona. Sie sind Ausdruck des herrschenden Positivismus, der Ideologie des vereinzelten Fakts. Vermitteltes Wissen, lebendige Erfahrung und logische Schlüsse, kurz gesagt die Ideale Kritischer Theorie, hingegen sind wichtiger denn je.
Dunkelziffern
Die Behauptung, es gebe gewaltige „Dunkelziffern“ bei den Corona-Erkrankungen wird vor allem verwendet, um entweder die Todesraten anzuzweifeln oder um die Maßnahmen für wirkungslos, weil zu spät, zu erklären.
Dunkelziffer ist ein Begriff aus der Kriminologie. Er geht davon aus, dass Verbrechen nicht angezeigt werden. Daher wird aus Erfahrungen von Fachleuten hochgerechnet, was mögliche reale Fallzahlen sein könnten.
Dunkelziffer bedeutet nicht, dass man nichts genaues nicht wissen kann und das für immer so ist, sondern dass man diese Dunkelziffer eben nicht im Dunklen belässt und nach Möglichkeit klärt, welche Schätzungen realistisch sind und wie man dennoch Prävention und Strafverfolgung auf diese näherungsweise eruierte Realität ausrichtet. Kurzum: Dunkelziffern erfordern die Extrapolation von Daten zur Erzeugung von Handlungsanweisungen in unklaren Verhältnissen und nicht Schulterzucken und Agonie.
Der Transfer des Begriffs in die Medizin ist fragwürdig, denn hier geht die „Dunkelziffer“ nicht von individuellem Schamgefühl oder juristischen Hürden oder unklarer Wahrnehmung (z.B. was ist sexueller Missbrauch) oder unmündigen Opfergruppen aus.
Es ließe sich sehr leicht empirisch klären, wie groß der Durchseuchungsgrad mit dem Coronavirus aktuell ist. Dazu kann man entweder mit Blutproben Antikörpernachweise durchführen oder mit Abstrichen den Erregernachweis. Eine solche Studie dürfte je nach n wenige Tage dauern und präzise Auskunft geben. Diese Daten nicht zu haben beschreibt einen Rückstand, ein institutionelles Versagen.
Es gibt aber auch logische Hinweise auf eine relativ geringe Dunkelziffer:
1. Das Auftreten von getesteten Erkrankungen in Clustern (z.B. Hamburg, Berlin, Bergamo). Würde eine hohe Durchseuchung der Bevölkerung vorausgesetzt, wäre auch die Verbreitung von schweren Fällen breiter gestreut. Diese Streuung findet zweifellos mit einer hohen Zahl milder Verläufe statt. Aber sie ist nicht abgeschlossen. Daraus können wir Rückschlüsse über die „Dunkelziffer“ ziehen. Die sich testen ließen.
2. Das Verhältnis bei den tatsächlich getesteten Personen (aufgeteilt in symptomatisch, asymptomatisch) zwischen erkrankt und nicht erkrankt gibt Aufschluss über den Durchseuchungsgrad bei Personen mit Symptomen und Kontakten zur Risikogruppe. Sind Personen mit Symptomen relativ selten tatsächlich erkrankt, ist umso unwahrscheinlicher, dass Personen ohne Symptome relativ häufig erkrankt sind.
3. Der Anstieg der Todesrate, also das Wachstums des Wachstums. Eine hohe Durchseuchung erzeugt ein viel höheres Wachstum der Fälle und damit einen viel stärkeren Anstieg der Todesraten und wiederum eine breitere Streuung.
Wir können aus den vorliegenden öffentlichen Daten schließen, dass das Virus vorerst NOCH in Clustern verbreitet ist, dass also noch keine durchgehende Durchseuchung oder „erste Welle“ stattgefunden hat, wie das mitunter erwogen wird. Auch in Italien haben wir kaum Todesfälle im Süden, es bleibt regional beschränkt.
Wir können weiter daraus schließen, dass die getroffenen Maßnahmen ein gewisses Containment innerhalb von Regionen erreichen können.
Empirische Daten
Die Behauptung, es gebe keine „empirischen Daten“ über die Wirksamkeit von bestimmten Maßnahmen ist vor allem vernunftfeindlich. Es gibt einen sehr klaren Vektoren der Infektion: Die Tröpfcheninfektion. Somit kann eine wirksame Unterbrechung der Infektionsketten nur stattfinden durch das Ausschalten der Tröpfcheninfektion. Und daher sind Maßnahmen angeraten, die 1,5 Meter Distanz erzeugen (und somit die Möglichkeit einer Tröpfcheninfektion verringern) und zusätzliche Hygiene im Bereich häufig berührter Gegenstände und Händewaschen fördern. Ebenso sind Maßnahmen wie die Isolierung hustender oder niesender Personen dringend angeraten und das Tragen eines Mundschutzes durch Personen mit leichen Symptomen in der Öffentlichkeit.
Wir können auch empirische Daten extrapolieren, um Prognosen zu erstellen: Aus bestehenden Länderdatensets zu Maßnahmen und der Ausbreitung, aus dem Vergleich mit historischen Infektionsverläufen ähnlicher Erkrankungen, aus dem Vergleich mit anderen, aber ähnlich invasiven Erkrankungen, wir können Erfahrungen mit HIV-Leugnung, Pockenimpfkampagnen und Impfgegnern hinzuziehen.
Ausgangssperren
Eine Ausgangssperre unterbricht natürlich nur indirekt die Infektionskette, weil sie Personen davon abhält, diese Distanzregeln und Hygieneregeln nicht zu befolgen. Diese Maßnahme ist aus medizinischer Sicht Unsinn, weil sich das Virus nicht über die Luft überträgt und eine Infektion auch durch Distanz vermieden werden kann. Sie ist sogar kontraproduktiv, weil sie Personen von Bewegung an der frischen Luft abhält. Sie ist aber aus soziologischer Sicht eine Disziplinarmaßnahme zur Erzeugung von Compliance zur Einhaltung von sozialer Distanz. Ausgangssperren werden wegen Corona-Parties und Weinfesten diskutiert und nicht, weil das Virus durch die Luft fliegt.
Epidemiologisch sind Ausgangssperren dort begrenzt sinnvoll, wo Menschen isolierbar sind. In Slums des Trikont mit hoher Dichte von Menschen auf kleinstem Raum kann eine solche Maßnahme hingegen kontraproduktiv sein, weil die soziale Distanz im Privaten weniger gegeben ist als im Freien. Dennoch waren in Westafrika Ausgangssperren ein wichtiges Mittel gegen Ebola und sie sind bekannt aus der Medizingeschichte des subsaharischen Afrikas: als traditionelles Mittel gegen Pockenepidemien.
Überwachung
Umgekehrt verhält es sich mit den Maßnahmen der Überwachung von Handys und Kontaktgruppen. Diese sind aus virologischer und epidemiologischer Sicht sehr sinnvoll und wirksam, aus soziologischer Sicht aber katastrophale Eingriffe in elementare Werte dieser Gesellschaft.
Zwischenfazit
Es existieren genügend valide Daten, deren interdisziplinäre und vernunftmäßige Betrachtung relativ eindeutige Rückschlüsse auf den Sinn und Unsinn von Maßnahmen erlaubt. Der Mangel an medizinischen Daten gibt Auskunft darüber, was versäumt wurde und was geklärt werden muss. Der Mangel an Daten kann aber nicht als Argument herhalten, Maßnahmen generell zu sabotieren oder für unwirksam zu erklären. Jede Kritik an konkreten Maßnahmen hat sich am vollständigen Set verfügbarer Daten und Fakten zu orientieren und Alternativen zu präsentieren.
Ideologie der Verlangsamung und die Situation im Trikont
Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist bedenklich, wie wenig die psychologischen Auswirkungen der Vermittlung von Maßnahmen bedacht werden. Bereits zu Beginn der Epidemie in Deutschland, als es noch wenige Fälle gab, einigte sich die Elite in den Medien auf die Formel der „Verlangsamung“. Kommuniziert wird, dass eine kontrollierte Durchseuchung angestrebt wird. Es wird nicht geklärt, warum ein Stopp der Ausbreitung unmöglich sein soll und/oder was der Preis für einen Stop der Ausbreitung wäre. Auf dieser Grundlage entsprechen sich die Modelle von Großbritannien, Finnland, Niederlande und Deutschland: Kein Land hat das Ziel ausgerufen, die Epidemie zu stoppen. Das senkt die Compliance, weil eine Infektion unausweichlich erscheint.
Die Ideologie der „Verlangsamung“ kaschiert aber auch Staatsversagen: Klar ist, dass entsprechende Szenarien einer Corona-Infektion durchgespielt wurden, dass es Maßnahmensets gibt und dass die Krise zu Beginn nicht ernst genommen wurde. Ebenso klar ist, dass die Verantwortung dafür bei der aktuellen Regierung liegt, die einen sehr wahrscheinlichen Fall einer globalen Coronavirusinfektion analog zu SARS oder MERS nicht adäquat vorbereitet hat und die Intrusion des Virus in die breitere Bevölkerung erlaubte. Mit der Formel „Verlangsamung“ wird dem Virus Übermacht einer Naturkatastrophe zugesprochen, um die Schwäche des Staates zu kaschieren.
Was bedeutete die Ideologie der „Verlangsamung“? Sie bedeutete die globale Ausbreitung des Virus insbesondere auf das subsaharische Afrika. Die meisten Infektionen dort kamen aus Europa. Hier existiert keinerlei Redundanz von Beatmungsgeräten. Es gibt hier keine freien Betten, keine Grenze, unter der man die Infektionsraten halten könnte. Wo medizinische Maßnahmen nicht vorliegen, bleibt die Wahl zwischen autoritärer Quarantäne mit Todesfolge für die am härtesten Betroffenen und, sehr viel wahrscheinlicher, eine rasche und gravierende Durchseuchung der Gesellschaften mit hohen Todesraten aufgrund fehlender Intensivpflege. Besonders betroffen sind hier Alte, Mangelernährte, HIV-Erkrankte. Hochgradig tödlich ist aber auch das Zusammentreffen von Corona mit Malaria, Typhus und anderen Tropenkrankheiten.
Die europäischen Staaten haben hier sämtlich an sich selbst gedacht, die Folgen für die eigene Wirtschaft abgewogen und die eigenen Krankenhausbettenzahlen hochgerechnet. Internationale Verpflichtung gegenüber den Staaten im Trikont wurde nicht diskutiert und fand nicht statt. Das Ergebnis können mehrere hundert Millionen Tote sein.
Die afrikanischen Gesellschaften kennen ihre Verwundbarkeit und sind dementsprechend in der „Panik“, die man in Deutschland „vermeiden“ wollte dadurch, dass man keine wirksamen Maßnahmen zu Beginn der Krise traf und technokratisch Maßnahmen dann plante, „wenn die Infektionsrate auf einem Höchststand“ ist.
Zusammenfassung:
Kurz: Man hatte in Deutschland, in Europa nie den Plan stark gemacht, die Ausbreitung zu stoppen und das Virus auszurotten. Die Gründe dafür sind unklar, deutlich ist, dass wirtschaftliche Erwägungen die größte Rolle spielten.
Ideologisch befindet man sich aber auf einer Ebene mit den antiwissenschaftlichen, eugenischen Durchseuchungsplänen der Niederlande und Finnlands und sucht lediglich einen weniger schlechten Kompromiss mit der selbsterzeugten Realität.
Was notwendig wäre: Eine Ethikkommission einzuberufen, die Fakten interdisziplinär zu verhandeln, der Virologie ihren Platz, aber auch nicht mehr, zuzugestehen, und einen Plan auszuarbeiten, wie das Virus auszurotten wäre.
Dieser Plan hätte als zentralsten Punkt zu beinhalten, wie erwartbare Katastrophensituationen im Trikont und in Flüchtlingslagern bewältigt werden sollen, die jetzt, sofort, heute vorbereitet werden müssen. Alles andere wäre ein Bekenntnis zum dezimillionenfachen Tod durch die Ansteckung afrikanischer Staaten durch europäisches laissez-faire im Umgang mit einer Infektionskrankheit. Der nationale Egoismus, der bisherige Strategien der Beschaffung von medizinischem Material kennzeichnet, muss vollständig überwunden und in internationale Solidarität verwandelt werden. Beatmungsgeräte müssen international nach Bevölkerungszahl und Infektionsrate verteilt werden, nicht nach Einkommen.
Bekämfung: Tests, Tests und Tests
Das Ende der Corona-Krise kann nur auf zwei Wegen geschehen:
1. Die massive Ausweitung der Testkapazitäten und die möglichst häufige Testung möglichst vieler, um die Quarantänemaßnahmen präziser zu dosieren. Ein Plan zur massiven Ausweitung der Testkapazitäten wird aber öffentlich nicht kommuniziert, die Hindernisse nicht adäquat benannt. Tests sind das Rückgrat der Epidemiebekämpfung. Medial sind Tests eine sideshow. Man macht sich über Leute lustig, die sich „ohne Grund“ testen wollen, verweist auf die begrenzte Zahl von Tests, ohne öffentlich zu rechtfertigen, warum Tests Mangelware sind und warum Personen mit Symptomen nur getestet werden, wenn sie auch Kontakt zu einer getesteten Person hatten.
2. Die andere Möglichkeit zur Eindämmung des Virus ist die Impfung. Impfungen aber sind invasiv, schwerfällig, dauern als globale Kampagne Jahre, die Risiken sind unklar. Nach derzeitigem Ausbreitungsstand wird eine Impfkampagne der Durchseuchung nicht mehr zuvorkommen.
Das unterstreicht zusätzlich die immense Bedeutung von Tests. Die Quarantänemaßnahmen sind nicht bis zu einer Impfung aufrechtzuerhalten. Tests liegen aber jetzt schon vor und können rascher ausgeweitet werden als Impfungen. Der Öffentlichkeit muss endlich ein Plan kommuniziert werden, mit welchen Mitteln welche Testfrequenz wann erreichbar sein wird. Dieser Plan hätte für den B-Waffen-Fall nach 9/11 oder für Epidemien nach SARS, Ebola und MERS längst erarbeitet sein müssen. Dass er Wochen nach dem Eintreten des Pandemiefalls noch nicht vorliegt, ist Staatsversagen.
Nachtrag
Herdenimmunität: Dieses Konzept taucht immer wieder auf. Herdenimmunität ist ein komplexes Phänomen mit vielen Faktoren, man beginnt bei anderen Krankheiten mit Tröpfcheninfektion mit Schätzungen von ca. 75% Immunität der Gesamtbevölkerung, um Herdenimmunität zu erreichen, realistischer sind Schätzungen ab 85% und für eine hochansteckende Krankheit wie Corona mit langer Inkubationszeit sollte man aus reiner Vorsicht eher von über 90% erforderlicher Immunität für das Erreichen von Herdenimmunität ausgehen, wenn man nicht sehr gute Gründe nennt. Daher wurde Boris Johnson auch in England von Wissenschaftlern bedrängt, seine Strategie aufzugeben, die leider in Finnland und Niederlanden noch wirksam scheint.
https://de.wikipedia.org/wiki/Herdenimmunit%C3%A4t#Einflussgr%C3%B6%C3%9Fen
Indigene Gesellschaften: Völlig unverantwortlich ist, dass in den Pandemie-Szenarien bisher indigene Gesellschaften nicht vorkommen. Corona kann in isolierteren Gesellschaften z.B. im Amazonas-Tiefland viel heftigere Konsequenzen haben und genozidale Auswirkungen haben. Einige indigene Gesellschaften sind für Impfkampagnen sehr schwer zu erreichen, dadurch vor einer Ansteckung besser geschützt, aber eben auch ohne jeden Zugang zu medizinischer Hilfe im Falle einer Einschleppung der Krankheit, die heute sehr wahrscheinlich ist.
Es kann auch zu genetisch bedingter Anfälligkeit bei endogamen und Inselgesellschaften kommen. Dazu fehlen schlicht die Informationen und es sind daher worst-case-Szenarien angebracht, die sich an historischen Erfahrungen orientieren.
In einer der vielen Sondersendungen zum Thema am Schweizer Fernsehen wurde (sinngemäss, aus der Erinnerung) auf die Zuschauer*frage, wo mensch denn jetzt noch hinfliegen könne, im Corona zu entgehen, vom Experten geantwortet, das mache wenig Sinn, da es kaum noch coronafreie Länder gebe.
Der eigentlich naheliegende Gedanke, dass die medizinisch hochgerüstete, aber direkt an die Lombardei angrenzende Schweiz global gesehen eines der am meisten durchseuchten Länder ist und daher der/die Fragesteller*in (ohne negativen Test bzw. sichergestellte Quarantäne) für fast alle Länder dieser Welt zunächst einmal eine dringend fernzuhaltende existenzielle Bedrohung darstellt, liegt dieser selbstverständlichen Herrenmenschenmentalität völlig fern.