Die beschützte Frau

Oskar Graf, der 1933 dagegen protestierte, dass seine Bücher bei der Bücherverbrennung von den Nazis übersehen wurden, und für den 1934 eine separate Bücherverbrennung nachträglich organisiert wurde, jener aufrechte Oskar Maria Graf hatte viel zu sagen über gescheiterte und erfolgreiche Annäherungsversuche. In seinem „Bayrischen Dekameron“ findet sich auch jene Geschichte von der Heirat vom hochchristlichen Schlemmer-Wastl und der nicht minder frommen Rehbinder-Traudl.

Schon das ganze Heiratmachen ging sehr hart zwischen dem Wastl und der Traudl. Der alte Schlemmer mußte mit seinem Sohn hinübergehen nach Boling und bei Rehbinder die Rede vorbringen. Der Wastl stand dabei, sagte nicht gick und nicht gack, schier so wie mit einer vollen Hose. Die Traudl hockte bei ihrer Mutter auf der Bank, die Augen niedergeschlagen, die Hände ineinander auf ihrem Schoß, und schließlich fing sie das Flennen an. Eine rechte Umständlichkeit war es. Der Schlemmer wurde zuletzt ärgerlich und sagte: „No, nachha müaßt’s hoit it heiratn, wennd’s enk oi zwoa schaamts.“

In der doch noch stattfindenden Hochzeitsnacht wird den beiden dann doch die Frömmigkeit zu arg:

Jetzt stieg’s den zweien erst recht in den Sinn, wie sündhaftig das sei, Mannbild und Weiberts nachts allein in einer Eh’kammer. Dem Wastl kam vor lauter Verlegenheit ein Drang an, so gewaltig, daß ihm ein lauter Wind hinterrücks rauskam. […]

Der Wastl schwang sich auf und gab seiner jungen Bäuerin ein Bussel. Sie röchelte und stöhnte fast weinerlich: „Wa-wastl! Wa-stei!“ Wenngleich aber jetzt Sündhaftigkeit und Heiligmäßigkeit unter dem Wastl seiner Brust hart kämpften und die erste schon halbwegs die Oberhand gewann, er raffte seine ganze Bravheit zusammen. „Trau-au-dei!“ stotterte er wieder und wieder heraus, ganz windelweich. Auf das hin erfaßte die Traudl doch ein arges Mitleid und sie legte sich ins Bett. Der Wastl fiel ihr schier nach, tapsig und dalgert wie eine einhaxerte Henne. „Trau-au-dei!“ flennte er fast: „A-a Bussei, Trau-au-dei!“ Und – gut ist’s, wenn ein Mensch Mitleid im Herzen hat – also sagte halt die Traudl, weil sie so was schon einmal gelesen hatte: „Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein, Wastl.“

Das Bayrische, eine der Einwanderung psychoanalytischer Begriffe ganz unverdächtige Sprache, hat neben solchen recht katholischen Verklemmungen eine der syntagmatisch kürzesten Möglichkeiten kreiert, Konsensualität zwischen prospektiven Sexualpartnern herzustellen: „Mogst?“. Die Antwort schwankte dann je nach Situation zwischen einer saftigen „Watschn“, einem „Di Brenzsoiza werd I grod no zum Fensterln hoin!“, einem „I daad scho gern meng!“ und einem „Gscherter Hamme, lass hoit aus aa, wenn uns no oana sigt!“ Bisweilen lautete die Antwort auch „Aba heirotn muaßt mi fei scho aa, göi!“ – was in der Literatur meist als sicherste Methode gilt, den Verführer in die Flucht zu schlagen.

Seine Geschichten gestaltet Graf mit einem psychologischen Feingeschick aus, das genau um die vielen Zwänge weiß, die Männern und Frauen ihre Lust wahlweise verleiden oder sie in Gewalt am Anderen umschlagen lassen, das aber auch die lustbejahende, einvernehmliche Lösung als überlegene präsentiert, am schönsten noch in seiner Geschichte von Wally und ihren 16 Liebhabern, dem „Theodor-Verein“. Die promiskuöse Kellnerin weiß sich gegen die Anfeindungen von den Ehefrauen der Liebhaber resolut zu verteidigen:

„A so a Loadsau… A so a Dreckfetzn!“ haben die entrüsteten Weiber von Aching über die Wally geschimpft. Die hingegen hat sich gar nicht versteckt und kühn ist sie jeden Tag mit dem Kinderwagerl durch die Straßen gefahren. „Ös?“ hat sie zur bissigen Reblechnerin gesagt: „Ös?…? Ös derhoits ja net amoi oa Mannbild, aba bei mir kinna zwanzge kemma, nacha bin i oiwai noch ganz!“

Graf denunziert Sexualfeindschaft und ihr Resultat, die sexuelle Gewalt, was sein Dekameron zu einer wahrhaft Freud’schen Lektüre macht. Der beschrieb in seiner Schrift „Zur Einführung des Narzißmus“ das Problem der Verliebtheit in weitaus gewählteren Worten als Graf:

Die volle Objektliebe nach dem Anlehnungstypus ist eigentlich für den Mann charakteristisch. Sie zeigt die auffällige Sexualüberschätzung, welche wohl dem ursprünglichen Narzißmus des Kindes entstammt, und somit einer Übertragung desselben auf das Sexualobjekt entspricht. Diese Sexualüberschätzung gestattet die Entstehung des eigentümlichen, an neurotischen Zwang mahnenden Zustandes der Verliebtheit, der sich so auf eine Verarmung des Ichs an Libido zugunsten des Objektes zurückführt.

Im Gegensatz dazu typisiert er einen klassisch weiblichen Verlauf:

Hier scheint mit der Pubertätsentwicklung durch die Ausbildung der bis dahin latenten weiblichen Sexualorgane eine Steigerung des ursprünglichen Narzißmus aufzutreten, welche der Gestaltung einer ordentlichen, mit Sexualüberschätzung ausgestatteten Objektliebe ungünstig ist. Es stellt sich  besonders im Falle der Entwicklung zur Schönheit eine Selbstgenügsamkeit des Weibes her, welche das Weib für die ihm sozial verkümmerte Freiheit der Objektwahl entschädigt. Solche Frauen lieben, strenggenommen, nur sich selbst mit ähnlicher Intensität, wie der Mann sie liebt. Ihr Bedürfnis geht auch nicht dahin zu lieben, sondern geliebt zu werden, und sie lassen sich den Mann gefallen, welcher diese Bedingung erfüllt.

Freud führt diese offenbar von Nietzsche inspirierte Beobachtung fort:

Es erscheint nämlich deutlich erkennbar, daß der Narzißmus einer Person eine große Anziehung auf diejenigen anderen entfaltet, welche sich des vollen Ausmaßes ihres eigenen Narzißmus begeben haben und in der Werbung um die Objektliebe befinden; der Reiz des Kindes beruht zum guten Teil auf dessen Narzißmus, seiner Selbstgenügsamkeit und Unzugänglichkeit, ebenso wie die Reize gewisser Tiere, die sich um uns nicht zu kümmern scheinen, wie der Katzen und der großen raubtiere, ja selbst der große Verbrecher und der Humorist zwingen in der poetischen Darstellung unser Interesse durch die narzißtische Konsequenz, mit welcher sie alles ihr Ich Verkleinernde von ihm fernzuhalten wissen.

Es ist so, als beneideten wir sie um die Erhaltung eines seligen psychischen Zustandes, einer unangreifbaren Libidoposition, die wir selbst seither aufgegeben haben. Dem großen Reiz des narzißtischen Weibes fehlt aber die Kehrseite nicht; ein guter Teil der Unbefriedigung des verliebten Mannes, der Zweifel an der Liebe des Weibes, der Klagen über die Rätsel im Wesen desselben hat in dieser Inkongruenz der Objektwahltypen seine Wurzeln.

Freud betont im Anschluß explizit, ihm liege „jede Herabsetzung des Weibes“ fern, er verweist zudem auf die vielen Frauen, die nach dem „männlichen Typus“ lieben „und auch die dazugehörige Sexualüberschätzung entfalten.“

Eine Herabsetzung von Frauen und ihrer sexuellen Freiheit findet indes statt, wenn heute Bettina Wulff in jener für den Puritanismus typischen lüsternen Prüderie eine mögliche Vergangenheit als Prostituierte nachgetragen wird, wenn eine hübsche Politikerin in einer Partei als Prostituierte beschimpft wird, weil sie Annäherungsversuche abgeschlagen hat, wenn Prostituierte sich von barbusigen Femen-Aktivistinnen in Hamburg erzählen lassen müssen: „Prostitution is genocide“ (1, 2, 3);  generell, wenn Prostitution verboten wird und damit eine spezifische Möglichkeitsform weiblicher Arbeit und Lust durchgestrichen wird. Die Frau hat sich nicht freiwillig mit so vielen Männern abzugeben, sie muss narzisstisch rein sein, ihre aktiven Anteile werden abgespalten und als aggressive und destruktive dem Mann zugeteilt – dieses reaktionäre Denkmodell hat an Macht selbst in Frankreich gewonnen, das Prostitution abzuschaffen gedenkt, wie auch in Schweden unter dem Druck eines zutiefst puritanischen Feminismus.

Die wesensverwandte Empörung über eine SMS eines Politikers an eine Journalistin mit dem Inhalt „Ich vermisse deine Nähe“ mokiert sich vor allem darüber, dass männliche Politiker immer noch sexuelle Wesen sind, die es mitunter wagen, eine nicht normierte Konstellation zu denken: eine Liaison zwischen junger Frau und älterem Herrn. Wo man zumeist männliche Gesichter auf Wahlplakaten wählen soll, ist die Anmaßung anscheinend unzulässig, dass man sich mit so einem Gesicht eventuell doch sich einen Reiz auf die junge, schöne Frau einbilden dürfe, die auf dem Plakat gegenüber irgendein mineralisiertes Wunderwasser oder eine unerschwingliche Reise nach Fernost feilbietet.

Das ins Private eingewanderte Tauschprinzip fordert Ideale, die sich primär an Filmen herausgebildet haben: Der attraktive Mann verdient durch seinen Heroismus hindurch eine attraktive, passiv wartende Frau. Wer dieses Verhältnis zu überwinden versucht, gerade eben nicht sich reduzieren lässt auf sein Alter und seinen verbrauchten Körper, wer es also zumindest einmal versucht, zuletzt noch mithilfe von Geld oder der Macht auf das libidinös besetzte Objekt einzuschmeicheln, zieht sich den Hass jener zu, die weder Macht noch Geld haben. Wenn man selbst schon erfolglos ist mit allenfalls aus schlechten Journals dahergestammelten Sprüchen, so darf der Alte den Versuch gar nicht erst wagen. Man wertet seine Offerte innerhalb des Tauschprinzips als unverschämtes Angebot, nicht nur weil es ein Angebot ist, sondern weil es Billigkeit unterstellt, einen geringen Wert der Ware, die sich so leicht haben ließe und für so einen geringen Gegenwert: ein schlechtes Kompliment, einen alternden Körper. Wie oft in Verführungsgeschichten überhaupt nicht der Inhalt, sondern die Überwindung zählt, davon sprechen Teenagerlieben Bände, in denen Kommunikation häufig ganz ausfällt und Konsensualität eben körperlich ausgelotet wird nach dem Ideal der fließenden Brünnlein:

Ja, winken mit den Äugelein,
Und treten auf den Fuß;
’s ist eine in der Stube drin,
Die meine werden muß,
’s ist eine in der Stube drin,
Ju, ja, Stube drin,
Die meine werden muß.

Pubertierende zeigen auch häufiger ein ambivalentes Abwehrverhalten: Sie brüsten sich dann im Freundeskreis mit Zahl und Absurdität der abgeschlagenen Annäherungsversuche, zelebrieren aber dadurch auch die Lust, die aus einer eventuellen Einigung entstehen hätte können, sie steigern ihren eigenen Marktwert als begehrte Objekte. Ein solches Leiden an Attraktivität tendiert zur Inszenierung, wo es nicht mehr nach der Psychologie der als ewige Angreifer empfundenen Männer, nach den Zurichtungen fragt, die diese erfahren haben könnten, dass sie nicht ihren weiblichen Objekten sich als Gleiche nähern können und stattdessen zwischen masochistischer Selbstaufgabe und Herrschsucht oszillieren.

Im Rückzug begriffen sind Vorstellungen von Frauen, die sich mit deftigen Worten und Gesten und notfalls mit der Heugabel schon zu verteidigen wissen wie jene bayrischen Dirndlträgerinnen aus Grafs Geschichten, die allerdings das häufige Scheitern solcher Abwehr und somit die Vergewaltigung nicht verschweigen. Anstatt nun wenigstens den Ansatz der Selbstverteidigung fortzuführen, wo diese zu scheitern droht, treten gemäß Hollywoods reaktionärem Frauenbild Schutzmächte auf, die bedrohte Frauen an ihre Wehrlosigkeit erinnern mehr, als dass sie ihnen eine Waffe anbieten.

Die Frauen gerade so klein und unsicher halten, wie sie unter dem Druck männlicher Herrschaft geworden sind, das ist die Strategie auch des Islamismus und des konservativen Ehrbegriffs. Hilfsangebote schlagen in Paternalismus um, wenn von der aggressiven Lösung geschwiegen wird, wenn ein Kultus des Beschützens, des Stellvertretens entsteht, der letztlich doch wieder die schwache, beschützte Frau zum Ideal hat und überdies ein entsexualisiertes Frauenbild zur Norm erhebt: Wenn also solche „Wohlfühlräume“ entstehen, in denen Sexualität nur als jene von allen unangenehmen Verklemmtheiten und Missverständnissen gereinigte Prinzessinen- und Prinzenwahl idealisiert wird, die sie nicht ist. Oder eben, was wahrscheinlicher ist, Räume, in denen Sexualität bequemerweise gleich durchgestrichen wird durch die Drohung, dass jede noch so verbale und vorsichtige Annäherung als „Sexismus“ gelten kann, wenn die oder der schöne Unbekannte das so „definiert“. Selbst das letzte Resort der Kommunikation von Lust, der Blick, wird so zum passiven Anstieren, zur ewig Vorlust bleibenden, vergafften, voyeristischen Konsumption dessen, was man ohnehin nicht haben kann, das Abbild wird wenigstens ohne Tausch und Strafe eingesogen, dafür aber in Permanenz, zum Leidwesen der fernen weiblichen oder seltener männlichen Schönheiten.

Der zelebrierte Schock darüber, von einer unbekannten Person wegen der eigenen Schönheit geliebt zu werden, überhaupt sexuell attraktiv zu sein, scheint doch sehr aus dem Innersten der Gesellschaft zu entspringen. Im Kern ist er schon die Abwehr einer zutiefst bedrohlich gewordenen Sexualität. Dass Männer (oder im Ressentiment seltener Frauen) „nur“ Sex wollen würden, ist Herabwürdigung der Sexualität zum niedrigen Motiv. Schon die Enttäuschung darüber, überhaupt aus einem bestimmten Grund geliebt zu werden, und nicht ganz ohne jeden Grund, folgt dem Ideal der christlichen narzisstischen Erfüllung par excellence. Dass Brüderle einer Frau wie ein tapsiger Bauer in Grafs Geschichten das Kompliment macht, „ein Dirndl ausfüllen“ zu können, weckt Neid und zugleich die Wut derer, die eigentlich permanent auf den gleichen Reiz ansprechen, ihn aber unterdrücken. So unappetitlich dann die Zusammenrottungen der Möchtegerne sind, die in Brüderle ein Opfer einer ewig trügerischen Weiblichkeit sehen, deren Misstrauen gegen eine jahrhundertealte Kultur der Ausbeutung und Verzerrung ihrer Sexualität gerade in den dunklen Ecken der Arbeitsplätze gestellt sei, deren Sensorium für die noch zu deutlich spürbare Drohung in der Anmache auf Übersensibilität verweise, so widerlich sind die Karikaturen über Brüderle. In ihnen tritt jenes Lachen auf, das Adorno das „antisemitische Gelächter“ nannte: Das Tabuierte äfft man lustvoll nach, gleichzeitig desinfiziert man es durch Identifikation mit der versagenden Instanz.

29 thoughts on “Die beschützte Frau

  1. Die Reflexe der Pseudofeministen sind akkurat beleuchtet. Ich vermute jedoch, dass die Gründe dafür, dass die Mainstream-Presse auf diesen Fall so laut und hämisch reagiert hat, in Brüderles Überheblichkeit angesichts der Bedeutungslosigkeit seiner Partei, nicht in seinem Äußeren und seinem Alter begründet liegen. Stünde die FDP bundesweit bei über zehn Prozent, hätte er diese Affäre wohl noch weglächeln können, oder sie wäre gar nicht erst zur Sprache gekommen. Momentan kann er es sich aber nicht erlauben, den Graben der misstrauensbasierten Professionalitätsdistanz, der Politiker und Journalisten in einer funktionierenden Demokratie trennt, zu überspringen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Verschärfend kommt die Plumpheit seiner Avancen hinzu: man erwartet von einem Mächtigen, dass er eine gewisse kommunikatorische Intelligenz an den Tag legt, wenn er sich zu einem solchen Manöver entschließt. Durch den Mangel daran hat er im Grunde seine Eignung als Politiker selbst in Frage gestellt: Tapsigkeit in Liebesdingen und Machtanspruch schließen sich aus. Vielleicht war er aber einfach auch schon hackedicht und dadurch in seiner Urteilsfähigkeit eingeschränkt.

    Im übrigen sei noch bemerkt, dass Journalistinnen oft nicht die Option ziehen, wichtige Politiker für solche Übergriffigkeiten bloßzustellen, weil sie wohl fürchten, den Zugang zur Macht zu verlieren, also weder Stories, noch Insider-Informationen, noch Interviews zu bekommen. Solche Sanktionen für unliebsame Berichterstattung werden gerne auch gleich gegen ganze Redaktionen verhängt, weswegen die Hemmschwelle für die einzelne hier sehr hoch ist. Ein Tabubruch wäre es, dieses einmal zu thematisieren.

  2. Für Bayern, wie ich einer bin, gehört Oskar Maria Graf zur Pflichtlektüre. „Wir sind Gefangene“, der „Sittinger“ und die „Reise in die Sowjetunion“ sind mir die liebsten Bücher des bayerischen Rebellen. In der Nachbemerkung seines “Bayrischen Dekameron” schreibt Graf: „Meine hier erzählten Geschichten sind – bis auf jene, die ich selber als nacherzählt angab – überhaupt nicht erfunden. .. Passiert sind sie größtenteils in meiner altbayrischen Heimat.“ Oskar Maria Graf lebte in der Schwabinger Bohème und hatte von daher nach dem ersten Weltkrieg ein eher lockereres Verhältnis zu Sexualität als die meisten Deutschen seiner Zeit.

    Die Verhältnisse wie sie Graf in seinen Romanen schildert, haben sich in den letzten100 Jahren durchaus verbessert, das entsexualisierte Frauenbild, die Verklemmtheiten und Missverständnisse sind geblieben. Ich stimme also zu, verbale und vorsichtige Annäherung hat nichts mit “Sexismus” zu tun.

    Die Karikaturen in der Titanic über Brüderle finde ich allerdings schon witzig. Zugegeben, hätte beispielsweise Lindner die Journalistin angemacht, wäre der Aufschrei vermutlich ausgeblieben. Es ist aber weniger der Altersunterschied der mich schmunzeln lässt, es ist die Person Brüderle, es ist die FDP. Die Vorstellung des angeheiterten, nuschelnden, „spitzen“ Spitzenkandidaten Brüderle an der Bar ist schon verdammt komisch, wie ich finde.

    Es spricht übrigens, bei aller Kritik an den deutschen politischen Verhältnissen, für die deutschen Wähler, für den deutschen Humor, dass eine Partei wie die FDP, mit vorsintflutlichen neoliberalen Ansichten, die sich zwei unnachahmliche Komiker an der Spitze leistet, noch nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist.

      • fidelche – du weißt genau, dass ich mich in bezug auf burka nur über die männekens beömmle, die die scheiße finden, weil sie dann nicht sehen können, ob wirklich ne frau drunter steckt – und deshalb nicht wissen, wie sie sich benehmen müssen/dürfen/können, die ärmsten.

        meine rote kippa trag ich allerdings gern! vor allem in der öffentlichkeit!

  3. Auch ich habe hier gerne gelesen.

    Aber eine bescheidene Anmerkung zu »[d]as Bayrische, eine der Einwanderung psychoanalytischer Begriffe ganz unverdächtige Sprache …«:

    Die Sprache schreibt man mit ai, also: das Bairische; das Land als ganzes (ohne die Pfalz) mit ay, also Bayern; die Gebiete Altbayern sowie deren Bewohner wieder mit ai, also Baiern.

    Zu verdanken haben wir solches Kuddelmuddel natürlich, wie könnte es anders sein, einem Ludwig (ja, dem mit der Montez), der das bis dahin ungebräuchliche i grec einführte.

  4. „generell, wenn Prostitution verboten wird und damit eine spezifische Möglichkeitsform weiblicher Arbeit und Lust durchgestrichen wird“

    Na klar, Prostitution ist „lustvoll“ – die Millionen Frauen weltweit, die sich prostituieren müssen und denen es dabei dreckig geht, freuen sich bestimmt, wenn privilegierte, männliche Akademiker ihnen erklären, was für einen tollen „Job“ sie doch „ausüben“.

    Hier ist ein weitaus besserer Text zu diesem Thema:
    http://jungle-world.com/artikel/2011/22/43318.html

      • Nur geht aus dem Text kein Gegenargument zu Text 1 hervor. Niemand hier bestreitet die elenden globalen Verhältnisse von Prostitution. Nur lassen sich einige eben nicht davon dazu verleiten, das aus dem liberalen Recht logisch hervorgehende Recht auf die konsensuelle Veräußerung des eigenen Körpers aufzugeben aus reinem Pragmatismus, der genauer betrachtet Faulheit ist: Faulheit, komplexe ökonomische und psychosexuelle Verhältnisse in ihrer Komplexität zu denken. Wie Konsensualität hergestellt wird, da scheint doch eher das provokante Problem zu sein, dass es nämlich jenseits der eben nicht immer präsenten Gewalt das Geld ist, das die archaisch unterstellten Begriffe „Ehre“ oder „Scham“ der Prostituierten überwindet – Geld, das im Falle von Millionen Heiraten akzeptiert wird als Motivator. Der Diamantring ist ja nur eine von vielen Glossen, Stereotyp ist auch die Orienturlauberin, die von der Zahl der weißen Kamele schwärmt, die für sie geboten worden sein sollen. Solange diese Bigotterie vorherrscht, bleiben Prostitutionsverbote ein Angriff auf ein bürgerliches Recht der Frau (und des Mannes). Die implizite Behauptung ist: Eine Frau hat unmöglich einen Lustgewinn davon zu haben, mehrere fremde Sexualpartner pro Woche oder sogar an einem Tag zu haben, sie darf keine Exhibitionistin oder Sado-Masochistin sein, sie ist ewige passive Manipulierte und nicht selbst manipulativ, etc. – die gleichen Bestimmungen bei Männern würde mit einem Herrenwitz über das Wesen des Mannes als lässlich-sündiges Schwein bedacht. Und diese sexistische Spaltung, die von prädominant unterschiedlichen Objektlibido-Narzissmus-Verhältnissen dann immer noch schweigt und die Spaltung ontologisiert in einer Art Ökofeminismus: Diese sexistische Spaltung ist normativ auf weibliche Sexualität gerichtet, sie ist puritanisch und trägt mit dazu bei, die grauenvoll schlechte Realität der Prostitution zu produzieren.

        Zu den Zwängen, die auch in die Prostitution führen, zählt übrigens der folgende: http://www.independent.co.uk/news/world/europe/the-curse-of-juju-that-drives-sex-slaves-to-europe-2264337.html
        http://www.bbc.co.uk/news/uk-england-20125115

        In Italien leben etwa 10.000 nigerianische Frauen in der Prostitution, die durch Netzwerke, die häufig von ehemaligen Prostituierten, sogenannten Madames, dominiert sind, „beliefert“ werden. Natürlich ist das ein extremer Missstand, den ein Prostitutionsverbot vermutlich weitgehend aufheben wird. Uns ist das zu bequem, solange es andere Mittel gibt: Die Abschaffung der asylrechtlichen Unsicherheit, der Zwangsprostituierte ausgesetzt sind, die Schaffung von Ausstiegshilfen, die Aufklärung unter anderem der Männer und Frauen über ihre Sexualität und ihre Rechte, die generelle Liberalisierung der Sexualität, das Einwirken auf Frauenrechte und die ökonomische und kulturelle Situation in den Herkunftsländern. Manchen Familien dort ist es lieber, sie wissen nicht, wie die Tochter das Geld verdient, das sie heimschickt, aber wenn sie zurückkommt ohne es „zu etwas gebracht“ zu haben, gilt sie als Ausgestoßene, als Verräterin, braucht sich nicht mehr blicken zu lassen.

  5. „Möglichkeitsform“ schrieb ich bewusst. Über die Häufigkeit können wir streiten. Gerne lese ich dann Fallstudien über Prostitution und ihre Möglichkeiten/Zwänge im Vergleich zu anderen Arbeitsformen. Prostitution, Monogamie und Produktionsbedingungen gehen ein derart intimes Verhältnis ein, dass es schlichtweg eine Spaltung ist, Prostitution abspalten zu wollen und zu denken, es ginge dann besser mit den anderen beiden. Der Status quo mit massiven Zwängen und unangenehmen männlichen Klientelen ist unbestritten, ist aber mit den ökonomischen und v.a. asylpolitischen Missverhältnissen zu kontextualisieren. Der ökonomische Zwang zur Sexualität ist da, er ist aber doch in fast jeder monogamen Beziehung präsent. Der Herrenwitz und Frauenwitz weiß noch von unlustigen, frustrierten, angeekelten, gewalttätigen Gatten und Gattinnen Bände zu sprechen.

    Der Text ist, den du verlinkst, ist schlechte Generalisierung und selbst schon sexistische Spaltung in Männer, die wollen ohne Interesse an den Frauen und Frauen, die nicht wollen und aufhören wollen. Er belegt, was ich schrieb: Die Möglichkeitsform weiblicher, mehr oder weniger lustvoller Promiskuität oder Fetischistischer Neigung (Objektliebe) wird zensiert. Promiskuöse, gar fetischistische Neigung bei Frauen ist der Versuchung eines lukrativen Marktes ausgesetzt, Hingabe wäre verschwenderisch im Tauschprinzip. Ob es bequemer oder unlustbringender ist, 8 Stunden bei McDonalds an der Kasse zu stehen, füri Subunternehmen zu putzen oder vor der Kamera zu masturbieren/Masturbation vortäuschen oder sich seinen Escort-Partner oder Porno-Co-Darsteller auszusuchen, darüber lässt sich streiten. Ich verteidige das prinzipielle Recht der Frau (und des Mannes, transgender usw.), eine promiskuöse, fetischistische Neigung zu haben und sie auszuleben, auch mit ökonomischen Vorteilen, ohne sich für jene gesellschaftlichen Zwänge verantwortlich zu fühlen, die an anderen Stellen produziert werden. Und ich verteidige das Recht der Frau, das nicht tun zu müssen, was sowohl rechtsstaatliche Kompetenz einfordert als auch ein Mindesteinkommen oder eine Form der Sozialhilfe im falschen Ganzen auch zu erhalten und das auch in Moldawien oder Rumänien. Dafür müsste man aber unendlich komplexere Modelle anstreben als die Reduktion der Prostitution auf männlichen Zwang.

  6. was mir zu heugabel und beschützt noch einfiel
    „wenn man weiß, wie der Bauer die Heugabel ergreift, kann man sich vorstellen, wie seine Liebesumarmung aussieht“ (Alain Corbin )

  7. Um ein „Missverständnis“ auszuräumen: Es gibt kein „Recht“ darauf, sich zu prostituieren, also den Körper zu verkaufen – ebensowenig wie ein „Recht“, die eigene Niere (oder andere Körperteile) zu veräußern. Organhandel ist aus gutem Grund verboten. Hingegen haben Menschen sehr wohl das Recht auf körperliche und sexuelle Unversehrtheit – und genau dieses Recht wird durch Prostitution verletzt. Somit handelt es sich bei Prostitution um eine Menschenrechtsverletzung, nicht um ein „Menschenrecht“, wie einige absurderweise behaupten.

    • Bevor Du hier fortfährst, eigne Dir doch bitte erst einmal das nötige juristische Grundwissen an: einvernehmliche Prostitution und Organhandel auf dieselbe Stufe zu stellen, ist schlicht Humbug. Letzteres erfordert die Versehrung der körperlichen Integrität bei der Operation, und es findet ein Eigentumstransfer der entfernten Körpersubstanz statt, bei ersterem passiert nichts dergleichen. Es findet auch nicht unbedingt eine Brechung des Willens durch gewalttätigen Zwang seitens der Freier statt. Inwiefern einvernehmliche Prostitution eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit und einen Eingriff gegen die sexuelle Selbstbestimmung (der Ausdruck „sexuelle Unversehrtheit“ ergibt keinen Sinn) darstellt, solltest Du für Dich selbst erst einmal ausformulieren, ehe Du anderer Leute Aufmerksamkeit vergeudest.

      Aber ich befürchte, dass es Dir ja sowieso nicht um eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, sondern um die Vertreibung des eigenen Ohnmachtsgefühls und den Bezug narzisstischer Gratifikation aus dem imaginierten Einsatz für die Opfer der Verhältnisse geht.

      • Beim Organhandel soll also »ein Eigentumstransfer der entfernten Körpersubstanz statt[finden]«?

        Da wir ausdrücklich im Bereich des juristischen Grundwissens bleiben sollen, machen wir das mal:

        1. Was Eigentum ist, steht in 903 BGB: Eigentümer einer Sache ist, wer befugt ist, mit ihr nach Belieben zu verfahren und andere von jeder Einwirkung auf sie auszuschließen.

        2. Was eine Sache ist, steht in 90 BGB: Sachen sind körperliche Gegenstände. Und in 90a lesen wir: Tiere fallen nicht darunter.

        Wenn die Sacheigenschaft und damit eine Bedingung von Eigentum schon für Tierkörper fehlt, so gilt das a fortiori für menschliche Körper.

        3. Wenn der Körper eigentumsfähig wäre, müsste das Eigentum an ihm gem. 1922 I BGB im Falle des Todes auf die Erben übergehen. Das tut er aber nicht, und zwar interessanterweise deshalb nicht, weil sich der Körper nicht im Eigentum des Erblassers befand.

        4. Leichen sind konsequenterweise per definitionem »herrenlose Sachen«, an denen kein Eigentum begründet werden kann. Deshalb ist zB die Störung der Totenruhe (‚Leichenschändung‘) auch kein Vermögensdelikt.

        5. Wäre der Körper eine eigentumsfähige Sache, wieso braucht es dann für Organentnahme explizit ein eigenes Gesetz (Transplantationsgesetz), wo doch 1004 BGB (Eigentumsstörung) reichte?

      • Punkt 2 ist so nicht richtig: ein Organ erhält nach herrschender Meinung erst durch seine Abtrennung vom Körper die Sacheigenschaft und wird Eigentum desjenigen, von dem des abgetrennt wurde, verliert diese aber nach der Transplantation wieder. Es findet also kein eigentlicher Eigentumstransfer statt (obwohl das vertraglich durchaus möglich wäre, wenn man es denn wünscht), sondern das Organ bleibt für die Transplantationsdauer im Besitz des Spenders. Organe sind im Unterschied zum Gesamtkörper (und damit der Leiche) auch nicht Träger der Menschenwürde, beide lassen sich daher also auch nicht vergleichen. Für Details siehe: http://www.bgb-kommentar.info/CenterPane/leseprobe/Leseprobe_0090.pdf (S. 6, „d) Natürliche Körperteile“) oder einen anderen BGB-Kommentar.

      • Sehr schön, Schleifstein: Jetzt haben wir kurz und unprätentiös vorgestellt, worum sich der eminente Scholasterstreit bei der Organtransplantation dreht.

        Ich sage Scholasterstreit, weil der Streit tatsächlich längst entschieden ist: Der Körper gehört nämlich: dem Staat, weswegen er es als seine Prärogative betrachtet, die den Körper betreffenden Angelegenheiten allgemein zu regeln; und es ist kein Gegenargument, daß der je einzelne Körperinhaber bedarfsfalls das Recht hat, gegen die Organentnahme etwas verbindlich einzuwenden oder die Entnahme von seiner Zustimmung abhängig zu machen, denn beides ist kein Widerspruch zur, sondern Konsequenz der staatlichen Rechtsmacht über die empirischen Leiber seines Menschenmaterials.

  8. Informiere DU dich gefälligst, bevor du mich belästigst und juristischen Unsinn verzapfst. Selbstverständlich gibt es kein „Recht“ auf Prostitution, deshalb ist jeder Staat, der Prostitution verbietet, voll und ganz im Recht. Du kannst ja mal versuchen, gegen Prostitutionsverbote zu klagen – viel Spaß dabei *lol*. Und unterlasse deine billigen psychologischen Spielchen, mein seelischer Zustand geht dich rein gar nichts an, andernfalls könnte ich dir ja auch so einiges unterstellen.

    • Es mag kein Grundrecht auf Prostitution geben, aber es gibt Vertragsfreiheit als Ausfluss des Grundrechts auf allgemeine Handlungsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1 GG und das Grundrecht auf Berufsfreiheit durch Art. 12 Abs. 1 GG. Das Recht auf Prostitution lässt sich aus beiden ableiten. Traditionell wurde Prostitution als sittenwidrig und die damit zusammenhängenden Verträge für nichtig angesehen, aber die Rechtslage beginnt, sich hier langsam zu ändern, was sich wohl im Zuge der EU-weiten Vereinheitlichung noch intensivieren wird. Und ich muss gar nicht gegen ein Prostitutionsverbot klagen, denn andere haben dies schon getan und vor dem EuGH Recht bekommen (EuGH C-268/99 „Jany and Others“).

  9. „Du (Solon) warst es, so heißt es, der von allem Menschen zuerst dies – beim Zeus! – demokratische und rettende Werk getan (…): da du die ganze Stadt voll junger Männer sahst, wie sie sich unter dem Zwang der Natur dorthin verirrten, wo sie nicht hin sollten, kauftest du Frauen und brachtest sie an öffentliche Orte, wo sie nun jedem zur Verfügung stehen“.
    aus: Athenaios’ deipnosophistai

    im ganz alten orient hingegen war prostitution unbekannt und gab es auch kein wort dafür. sagt Julia Assante
    „„Why Mesopotamians were so tight-lipped about prostitution yet so open about sex (in early periods at least) is a subject for another study. Perhaps, Mesopotamians did not view the prostitute as exotic or set apart as moderns do, but as consonant with cultural practice. Such a notion would be compatible with the early literature evidence found in hmyn after hymn (…), in which gifts are awarded for pleasurable sex. Whatever the case, prostitution was greatly understated. Finally, in answer to Brooks’ findings of 1941, there are no specific words for prostitution or prostitute in the languages of ancient Mesopotamia“
    in: The kar.kid/harimtu, Prostitute or Single Woman? (Ugaritforschungen 1998)

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.