Kinder, pubertierende Kollektive und Betrunkene sind die Zielgruppe von Endlos-Liedern wie „Das rote Pferd“, „Schellekalle“ oder „Das Lied vom alten Reisbrei“. Diese Lieder zeichnen sich durch Wiederholungszwang und -lust aus. Ergänzt durch eine streng uniformierte Gestik wird das kollektiv gesungene Lied zum Ritual der Verdrängung. Je hartnäckiger der Durchhaltewillen, desto intensiver das Erlebnis.
Bei einem sehr populären Lied, dem vom „Kleinen Matrosen“, wird das Moment der Zensur als Teil des Rituals offenbart und integriert. Jedesmal, wenn die Wiederholung ansteht, wird ein weiteres Wort durch eine Geste ersetzt. Am Ende stirbt die Sprache gänzlich, es siegt die Ersatzhandlung. Damit wird auch dem weiteren Wiederholen ein Ende gesetzt. Gemeinhin folgt ein großes Jubilieren über diese kollektive Leistung.
Der Liedtext spricht demzufolge Bände:
„Ein kleiner Matrose umsegelte die Welt. Er liebte ein Mädchen das hatte gar kein Geld. Das Mädchen musst sterben und wer war schuld daran? Ein kleiner Matrose in seinem Liebeswahn.“
Nun spräche in einer oberflächlichen Analyse einiges für versammelte Blutrünstigkeit, angesichts einer johlenden Masse, die fröhlich den Tod eines armen Mädchens begröhlt. Eine historische Analyse käme zum Schluss, dass das Lied eigentlich ein sehr trauriges, den Hafenprostituierten gewidmetes war, denen der „Liebeswahn“ von Matrosen eine tödliche Geschlechtskrankheit einbrachte. Der Jubel wäre dann möglicherweise einer der Überwindung jener Krankheiten durch die Therapie der Syphillis und dem Vergessen der für viele nur zu realen Dramatik des beschriebenen Todes geschuldet. Eine marxistische oder feministische Sichtweise könnte das Lied als reaktionäre Maßregelung an den Erhalt der Klassenreinheit interpretieren: Liebe mit mittellosen Mädchen führt zu unerfüllter Verantwortung, Schuld und Tod.
Aus psychoanalytischer Sicht kann man ebenfalls geteilter Meinung sein. Es bieten sich verschiedene Versionen an.
Ein kleiner Matrose symbolisiert wie üblich einen kleinen Jungen. Der liebt ein Mädchen, das infolgedessen sterben muss. Welche Mädchen lieben kleine Jungen? Ihre Mütter. Haben diese „kein Geld“, verweigern also die Versorgung des trotzigen Bengels, müssen sie in der Phantasie eben sterben.
Der Kastrationskomplex würde folgendermaßen angesprochen: Der kleine Junge ist auch das Mädchen. Er liebt sich selbst als Mädchen, identifiziert sich mit der Mutter. Das jedoch hat kein „Geld“, keinen Phallus und muss daher als Identifikationsobjekt aufgegeben werden. „Geld“ wird durch das masturbationsähnliche Reiben von Daumen und Zeigefinger ersetzt: der Junge glaubt, das Mädchen könne nicht masturbieren, weil der Vater es kastriert habe. Zensiert wird hier die Kastrationsdrohung des Vaters, die das „Mädchen“ im Jungen sterben lässt. Die klammheimliche Überwindung dieser Drohung durch Ersatzhandlungen, die der Masturbation entsprechen, könnte die Lust am Programm auslösen. Auch denkbar wäre eine Ursache der Lust im Nachspüren auf das Finden des Weges aus dem Dilemma der Kastrationsdrohung: Das gehorsamen Anlegen der Hand an die Kappe symbolisiert im Ritual den Matrosen – Gehorsam und Vateridentifikation sind eines. Die wellenförmige Handbewegung, mit der das Mädchen gezeichnet wird, verweist auf den Lohn dieser Identifikation – den Körper des Mädchens, das den der Mutter vertritt. Wird der „Liebeswahn“ allerdings zu groß, scheitert die Identifikation. Ein kollektives Tippen an die Stirn bestraft dieses Scheitern.
Aus einer aufs Kollektiv gerichteten Perspektive würde die verdrängte Homosexualität ins Blickfeld rücken. Der kleine Matrose, von je Zeichen der einzigen, für den homophoben Charakter vorstellbaren Homosexualität, nämlich der Zwangshomosexualität nach einsamen, abstinenten Wochen auf dem Schiff, liebt ein „Mädchen“. Dass dieses sterben muss, lässt der angestauten, verdrängten Homoerotik im Publikum einen sicheren Ort zum Ausagieren der eigenen Lust am Matrosen.
Schuld, Treibstoff aller Religionen, rückt in einer vierten Perspektive ins Zentrum des Rituals. Der kleine, also unschuldige, Matrose in seiner reinweißen Uniform verkörpert den Narzissmus. Phallisch-besitzergreifend und anal-kontrollierend umsegelt er die ganze weite Welt. Seine weibliche Seite besteht in der Armut, die ihn zu diesem Verhalten, das ihn ja gleichzeitig von der Mutter trennt, zwingt. Weil diese Erinnerung an Abhängigkeit seinen Narzissmus befleckt, muss sie sterben. Übrig bleibt ein zwar schuldiger, aber um so autonomerer Matrose. Schuld motiviert ihn zur Zensur in der nächsten Strophe. Am Ende bleiben nur noch Silben zurück, die an seine Geschichte erinnern, damit ist auch seine Schuld verdrängt – und damit die des christlichen, also sündhaften Publikums.
Aufgrund solcher Texte fällt es mir schwer, psychoanalytische Ansätze in den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften ernstzunehmen.
„„Geld“ wird durch das masturbationsähnliche Reiben von Daumen und Zeigefinger ersetzt“. Mir scheint, es geht hier um die Bewegung beim Zählen von Geldscheinen.
Wahlweise aber auch um das schmerzhafte Reiben einer entsetzlichen Brandblase am rechten Zeigefinger.
Blase-Urin-Brand-Feuerausurinieren-Urhorde-rechter Zeigefinger-faschistische Urhorde-Zeigefinger-Vater-Ödipuskomplex–> Das Lied drückt folglich die kollektive Lust zur Unterwerfung unter den libidobesetzten faschistischen Führer aus.
Einwandfreie Deduktion, oder nicht?
Es geht nicht um Deduktion. Sonst würde es ja Logik heißen und nicht Psychoanalyse.
Wieso soll das Zählen von Geldscheinen nicht lustvoll besetzt sein wenn doch Geld in einer warentauschenden gesellschaft mittel zur Lust ist? Dagobert Ducks fetischistisches Baden im Geld ist da ebenso enthalten wie das lustvolle Wegwerfen von Dollarnoten durch Rapper in Musicclips.
Und ganz ernstgenommen werden will der Text ja auch nicht, sonst könnte man ihn ja nicht ernstnehmen.
frdrt
Schei? Seite!