Aus dem Wald Geschalltes und Gerauchtes – Replik auf Wertmüllers Sieg

Einst war ich nach einer Konferenz in einer berliner Bar gefangen zwischen etwa 80 RaucherInnen, die an die 90 % der Gesamtpopulation dieser Ausschankstätte für Alkoholika ausmachten. Mir verschlug es mehr noch als üblich in solchen Etablissements Atem und Sprache und die einzige Wahl, die sich mir bot, war vor der Türe auszuharren, bis meine Freundinnen und Freunde ausgeraucht und -debattiert hatten. Ich war kurz davor, meinen Kornschnaps aus der ausgeleierten Jogginghose zu ziehen und Passanten über die Straßenverkehrsordnung zu belehren. Meine  Triebhaftigkeit, Luft zu holen, und meine dazugehörige Lust, wurden mir als Sünde bewusst, deren Predigt ich bislang wohl nicht gehört hatte:

Die Sprache der Predigt ist demokratisch, sie wendet sich an alle. Doch gehört es zu ihrem Sinn, daß Einzelne und ganze Gruppen grundsätzlich als die Bösen und Verstockten draußen bleiben. Zur Anforderung an die Masse, daß sie die adäquate Befriedigung ihrer Triebe sich versage und sie nach innen wende, gehört, gleichsam als Trost, als Kompensation, die fortwährend erneuerte Überzeugung, daß jene, welche den Verzicht und die Anstrengung nicht leisten, verworfen sind und ihrer furchtbaren Strafe nicht entgehen werden. (Horkheimer nach Wertmüller)

Auch hatte hier wohl ein Plebiszit stattgefunden, bei dem eine sich auserwählt fühlende Elite eine Kampagne gegen mich, dem man sein prospektiv längeres Leben gar nicht wünschte, gestartet hatte. Mein zum regelmäßigen Luftschnappen geöffneter Mund erinnerte wohl an Heiterkeit, Gelöstheit, vielleicht sogar Erotik. Durch mehrheitliche,  zwangsintegrative Akte  blieb mir, der Randgruppe, die Wahl zwischen dem Nichtraucherbereich vor der Gaststätte und der Askese.

Die demokratischen Eliten hatten noch wie Helmut Schmidt die autoritäre Gewohnheit inkorporiert, nach der ein Autokrat überall seinen Hautgout verbreiten müsse, um überhaupt wahrgenommen zu werden.

Dieses Schreckbild der Freiheit, dieser Zerrspiegel der Zivilisation macht den Westen in seinen Exzessen dem orientalischen Osten so unangenehm ähnlich. (Wertmüller)

Anfang der ’80-er tauchten allerdings dann Nichtraucher und Nichtraucherinnen nicht mehr nur als verweichlichte Männer auf, sondern erfreuten sich zusehender Popularität als tiefschichtige Individuen. Mit „First Blood“ wurde ein Nichtraucher zum Actionhelden, bei dem der rauchende Colt nicht automatisch durch Tabakspucken und die halbgerauchte Zigarette im Mundwinkel verziert werden musste. Emanzipierte Frauenrollen kamen auf einmal ohne die bis dahin für den  Tabubruch reservierte Zigarette aus.

„Hollywood hatte mit dem Zeigen eines alltäglichen und eigentlich banalen Vorgangs [Das Atmen, NI] – wenngleich dieser Vorgang sehr romantisch und mit raffinierter Beleuchtung in Szene gesetzt wurde – mehr für die Emanzipation der Frau getan als die gesamte Frauenbewegung.“ (Bittermann nach Wertmüller)

Gegen diese erste Zeichen einer Befreiung vom Muff der damals noch verrauchten Hörsäle und Konferenzräume baute das reaktionäre Bürgertum wenigstens die Kneipen zu Bollwerken aus:

Der Bürger war zu keinem Zeitpunkt seiner Existenz besonders liebenswert, sondern selbst in seinen großen Perioden, kleingläubig, geizig und paranoid. Er nannte sein home sein castle nicht nur um die Staatsbüttel draußen zu halten, sondern eben auch weil er wie sein feudaler Vorgänger in den Kategorien von Ringmauern und Schießscharten dachte. Zu verteidigen galt es das Eigentum und  die eigenen schlechten Manieren, deren schlechteste seine Beziehungsunfähigkeit, sein Mangel an Charme, sein Mangel an Geselligkeit waren. (Wertmüller)

Es vollzog sich wie üblich:

Die soziale und juristische Ächtung einer Minderheit, die im Verdacht steht, trotzdem Spaß zu haben, gibt einen Vorgeschmack auf eine weit umfassendere Diktatur des Verzichts, die mit der Natur die Unnatur, mit der kollektiv verfassten Demut menschliche Hybris austilgen soll. (Wertmüller)

Rufe nach Disziplin und Verzicht prägten die Kampagnen gegen die Nichtraucher. Jenen wurde nicht nur vorgeworfen, ihre Lust am Atmen auf Kosten der Mehrheit ausüben zu wollen, sondern auch, sich zur Rechtfertigung dessen auf Geist und Sinnlichkeit zu berufen.

Dass im Abweichlertum Vernunft und Sinnlichkeit bekämpft werden, scheint paradox. Und doch wendet sich die plebiszitär selbstorganisierte Ranküne gegen die Autorität von Wissen, Reflektion und Aktivität, die ihren Namen verdient, genauso wie gegen die ihnen scheinbar entgegengesetzt sündhafte Ausschweifung und die exklusive, dem konkreten Ergebnis abholde Kontemplation. (Wertmüller)

Und so findet sich abschließend in den Kampagnen der Raucher

[…] die obszöne Lust am Dabeisein in einem Akt der physischen und moralischen Selbstauflösung eines Individuums, also die Feier jenes „Gefühl(s) der eigenen absoluten Nichtigkeit, das die Mitglieder der Masse beherrscht“. (Horkheimer, S. 73) Und, es sei hinzugefügt, eines Gefühls, das von jenen, die als Gesellschaft geadelt sich über sie stellen, inzwischen ebenso geteilt wird wie von den unteren Millionen. Die gesellschaftliche Moral ist auf den Stand nekrophilen Voyeurismus regrediert und will „ganzheitlich“, „überzeugend authentisch“ teilhaben nicht am Glück, sondern am Tod der anderen. (Wertmüller)

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Zitate aus: „Dieser Sieg ist ein Sieg des Volkes – Protestantische Elite und Tugendterror“ (Justus Wertmüller, Bahamas Nr. 60)

Um die Polemik abzubrechen, drei Stichworte:

1. Rauchen als Lust und das Interesse anderer an Nichtteilhabe am Laster des Anderen als Askese zu definieren beinhaltet eben jenes Verhalten, das ich im Artikel „Rauchen als Verkehrung“ als „Raucherdjihad“ mit der Parole „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“ verkürzte.

2. Die paranoische Überfrachtung, die aus einem Plebiszit einer reaktionären Partei  für ein Rauchverbot in Gaststätten eine „Kampagne gegen die Raucher“ macht, die Raucher in der Imagination schon als erste Opfer eines wiederauferstehenden Faschismus wertet, habe ich bereits in meinem Artikel „Der Raucher-Shylock von der taz“ kritisiert.

3. Die konsequente Nichtentfaltung der konkreten Bedingungen der Ausübung des spezifischen Lasters bedingt die Lücke in der Volte gegen den Plebiszit. Gasförmigkeit und heftige olfaktorische Zähigkeit der konsumierten Substanz wären ebenso hinzuzurechnen wie die gesellschaftlich getragenen Folgen des Konsums: Auswaschung der Nervengifte ins Grundwasser, Therapien von Kindern von notorischen Rauchereltern, Therapien von  Erkrankungen, die in überaus hoher Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit dem direkten Konsum von Tabak stehen. Im Ignorieren dessen kocht Wertmüllers mitunter ausgezeichnete Kritik der asketischen Tendenzen über. Der bedeutenden und hochaktuellen Dialektik vom Bewusstsein physischer Zusammenhänge und den daraus resultierenden Folgen für die Psychopathologie der Individuen (gültig etwa  für die gesamte Präventionsmedizin) stellt sich Wertmüller nicht. Er ist einfach nur sauer, weil man ihn in Bayern zum Rauchen vor die Tür oder in das Séparée des Restaurants seiner Wahl bittet. Ob er  allerdings nun Tabak schnupft oder kaut oder seine beliebten Vorträge unter der Einwirkung einer handelsüblichen Dosis Lysergsäurediethylamid hält, wird dem so „lustfeindlichen“ Mob herzlich egal sein.