90 % der Ägypter hegen eine tiefe Abneigung gegen Israel. 60% wollen die Scharia. 20% wählten die Muslimbrüder bei den letzten Wahlen. In Interviews auf Demonstrationen wurde Israel ein Krieg angedroht, Bilder von Plakaten kursieren, auf denen Mubarak mit Davidsstern gezeichnet wird. Israels Regierungschef Netanjahu beschuldigt den Westen, Mubarak, einen treuen Verbündeten fallen gelassen zu haben. Und neue Meldungen vom Tahrir-Platz in Ägypten bezeugen jetzt die gespenstische Präsenz der Muslimbrüder, die beten und Parolen gegen Israel und die USA brüllen und angekündigt haben, ganz Ägypten gegen Israel mobilisieren zu wollen.
Die Freundinnen und Freunde Israels waren und sind gespalten. Die einen unterstützten die ägyptischen Proteste bislang, ja verfolgten sie mit freudigen Emotionen. Man hörte sogar Parolen aus längst vergangenen Tagen, Loblieder auf die internationale Solidarität und der Verdacht liegt nahe, dass hier wie während der Euphorie der antiimperialistischen Klimax Revolutionen an anderen Orten idealisiert werden, um der Starre zu Hause zu entfliehen. Die Anderen warnen vor einem zweiten Iran, vor einer vierten Front gegen Israel, halten der Diktatur Mubaraks gegen den volksbewegten Islamismus die Stange. Stimmen der Vernunft (s.u.) sind selten geworden.
Die Geschichte gibt Pessimisten recht. Nach einer kurzen Party der Demokraten in Tunesien und Ägypten könnte die Geschichte sich wiederholen. Was also bewegt mich und andere dazu, trotzdem die Revolten zu begrüßen? Ahmadinejads Grußworte jedenfalls sind eher als wahnhaftes wishful thinking einzustufen, denn als objektive Einschätzung der Lage.
Das erste Argument ist, das es auch bei einem bislang unwahrscheinlichen Abebben der Revolten nicht weitergehen kann wie bisher. Wenn der Islamismus der einzige Grund ist, warum Mubarak sich am Leben erhalten konnte, ist dies der beste Grund, von diesem Diktator nicht länger zu erwarten, dass er den Islamismus effektiv bekämpfen wird. Er würde sich künftig nicht an seiner Existenzgrundlage vergehen, sie womöglich noch fördern um die Bedrohung am Leben zu erhalten. Diese Dynamik sollte besser heute als morgen unterbrochen werden. Im Falle Ben Alis hat sich gezeigt, dass die Bedrohung durch Islamisten seit Jahren übertrieben wurde. Vielfache Berichte von Kennern der Materie belegen die Marginalität der Islamisten in Tunesien und er erweist sich als Gespenst, das durch seine ständige Beschwörung nur aufgewertet wurde und wird. Ägyptens Muslimbrüder sind gewiss kein Gespenst. Sie sind aggressive Feinde Israels und werden alles tun, um jeden Frieden zu torpedieren. Das Gute ist: Sie haben die Proteste nicht gestartet. Sie waren davon regelrecht überrascht. Je länger sie dauern, je länger der Westen Mubarak stützt, desto stärker können sich die Muslimbrüder als radikale Alternative gerieren. Wäre Mubarak bereits nach vier Tagen aus dem Amt gedrängt worden, der Sieger hätte Facebook geheißen und nicht El Baradei und schon gar nicht Muslim Brotherhood. Die reformerischen Sprüche aus den USA und Europa und verständlicherweise Israel haben Mubarak gestärkt und so haben sie die Muslimbrüder aufgewertet. Wenn die Revolte wegen der Zögerlichkeit der USA und dem Komplettausfall Europas scheitert, werden die Muslimbrüder die Ernte einfahren. Wenn sie noch länger dauert, werden die Muslimbrüder sich möglicherweise als die wirkliche revolutionäre Kraft verkaufen können.
Ein weiteres Argument: Nicht nur in Ägypten, sondern im Sudan, in Jemen und in Jordanien ächzt das Gebälk. Es handelte sich hier allem Anschein nach nicht um eine autoritäre islamistische Erweckungsbewegung, sondern um eine sehr stark auf Facebook ausgerichtete liberalistische Jugendbewegung, die trotz und wegen ihrer ödipalen Tendenzen, der Fokussierung auf den Übervater, mit ökonomischen und politischen Missständen befasst war und ist. Welche Diskrepanz zu den antieuropäischen, antisemitischen Eruptionen beim „Karikaturenstreit“ vor wenigen Jahren. Mögen die Protestierenden Antisemiten sein oder nicht, sie haben das erste Mal ihren Antisemitismus berechtigten Interessen untergeordnet. Das ist begrüßenswert und gibt allen Grund zur Hoffnung.
Die arabischen Diktatoren sind mitnichten Freunde Israels – sie sind allenfalls bessere Strategen. Sie lassen keine Gelegenheit aus, der Bevölkerung zu versichern, dass es eines Tages wieder gegen Israel gehen werde und von ihnen ist jederzeit zu erwarten, dass sie für ihren Machterhalt die antisemitische Karte spielen werden. Das findet derzeit statt. Israelische Journalisten wurden von der Polizei verhaftet, das Gerücht wird gestreut, die Revolten seien von Juden initiiert worden, man habe israelisches Geld auf den Straßen gefunden. Mubarak hat nicht den Antisemitismus bekämpft, er hat in den Muslimbrüdern eine Machtkonkurrenz gesehen. Solange sie seine Macht nicht in Frage stellten, konnten sie ungehindert ihre antisemitische Propaganda verbreiten, die auch im Staatsfernsehen, in Schulbüchern und unter den Mubarak-Anhängern nicht fehlte. Der Antisemitismus durchzieht die Welt – wenn es schon Antisemiten gibt, so sind freie Antisemiten mit Frauenwahlrecht und wechselnden Regierungen allemal das kleinere Übel. Es geht für Israel längst nicht mehr darum, dass es geliebt oder nicht gehasst wird. Golda Meir hat das heute noch gültige Diktum geprägt, nach dem an jenem Tag Frieden herrschen wird, an dem die Araber ihre Kinder mehr lieben als sie die Juden hassen. Die relevante Frage ist, ob sie bis dahin eine militärische Bedrohung Israels darstellen können.
Mubarak erhielt jedes Jahr 1,5 Milliarden amerikanischer Militärhilfe, die Ägypter durften den M1Abrams-Panzer unter Lizenz bauen, während Israel zentrale Militärtechnologie noch immer verweigert wird. Sollten die Muslimbrüder diese stärkste Armee Afrikas mitsamt über 200 F-16 eines Tages demokratisch in die Hände bekommen, werden sie amerikanische, italienische und britische Waffen gegen Israel wenden. Wären diese Milliarden an Israel gegangen, es hätte nichts zu befürchten und könnte sich alle erforderliche Hochtechnologie, eine komplette Grenzmauer und eine Söldnerarmee leisten, die die gesamte Grenze überwacht und im Zweifelsfall auch Millionen von angreifenden Muslimbrüdern abwehren, sprich töten, könnte. Auch hier ist es besser, einen klaren Schnitt zu fordern. Wenn der Westen Israel unterstützt, so soll er das direkt tun und nicht über antisemitische Diktatoren mit Restvernunft.
Eine staatliche, offizielle Armee hat überdies kaum die Möglichkeiten der islamistischen Terrorbrigaden. Sie wäre verschiedensten Instanzen verantwortbar und ein klares Ziel für das israelische Militär. Ägypten hat kein Öl, es hat allein Menschen. Seine Kriege konnte es nur mit den immensen Waffenlieferungen aus der Sowjetunion und den USA führen und es hat alle verloren. Terrorismus bedarf einer kostspieligen Ökonomie und er bedarf staatlicher Förderer. Der Trick der Hamas ist, nicht genug Regierung darzustellen um internationale Konsequenzen für den Terror zu tragen.
Die Bedingungen, die der Westen an Mubarak stellt, kann er ebensogut an eine demokratische oder islamistische Regierung stellen – sie waren Mubarak und zuvor Sadat von der militärischen Übermacht aufgezwungen und nicht aus einer Einsicht über den Antisemitismus heraus angenommen worden. Ägypten hängt anders als Iran am Tropf. Es ist nicht Iran, es kann nie die Bedeutung Irans erhalten, nicht einmal für einen Guerillakrieg taugt das flache Land. Der Suezkanal ist nicht die Straße von Hormus. Ägypten verdient an ihm. Und es wäre ein leichtes für Europa und die USA, diesen Kanal zu sichern. Das hat sogar Israel geschafft.
Es läuft also sehr deutlich darauf hinaus, dass das, wovor Israel sich wirklich fürchten muss die mangelnde Solidarität aus dem Westen ist. Die Angst vor einem zweiten Iran verdeckt die Unfähigkeit, etwas gegen den ersten zu unternehmen, in dem keine Protestbewegung mehr an den Folterern und Mördern vorbeikommt. Iran wäre längst kein Problem mehr, wenn nicht deutsche, österreichische, chinesische und russische Unternehmen den Ajatollahs die Devisen und die Technologie zum Waffenbau und zum Terror gegen Juden und die Bürger in Iran frei Haus liefern würden, wenn ein europäischer Konsens in der Verdammung dieser Diktatur hergestellt werden könnte. Nur 8 % wollen in Iran die Scharia. Warum stützt man Ahmadinedschad und seine Bassidschi? Wegen der Straße von Hormus sagen die einen, wegen des Ölpreises die anderen. Warum stützt man Mubarak? Wegen des Suezkanals, wegen des Ölpreises. Nicht wegen der Juden oder wegen der Scharia oder wegen großartiger Verhandlungserfolge oder der Beteiligung Ägyptens am ersten Golfkrieg.
Längst ist unklar, ob Europa nicht auf der Seite der Palästinenser in einen Krieg gegen Israel ziehen würde. Europas liberale Politiker folgten Israel allenfalls aus political correctness, niemals im Argument. Das Argument der Muslimbrüder führen die Europäer unisono in ihren Medien im Munde. Sie sind sich alle einig, dass der „Kindermörder Israel“ am besten nach Uganda oder ins Meer oder nach Schleswig-Holstein verpflanzt werden solle, und vorher die gesamte „rechtsextreme“ israelische Regierung wegen „Kriegsverbrechen“ nach Den Haag überstellt werden müsste. Jeder Verteidigungsschlag Israels hatte mahnende Worte aus Europa zur Folge und mehr Sympathien für Hamas und Co. Jeder Verteidigungsschlag Israels gegen Ägypten müsste Europas Agitation mehr fürchten als die amerikanischen Panzer der Ägypter. Nicht allein die überschätzten Muslimbrüder sind das bedenkliche an Ägyptens Revolution, sondern Europa und seine antiisraelische Presse. Es hat der antisemitischen Meinung der Ägypter nichts entgegenzusetzen. Niemand sagt den unter einer von Mubarak staatlich kontrollierten Presse herangezüchteten Antisemiten, was man wirklich von ihrer Meinung hält und warum man ihre Feindschaft zu Israel im Argument und in der Sache für falsch hält. Man überwies einfach Geld an Mubarak, der davon afrikanische Flüchtlinge in der Wüste erschießen ließ, der die demokratische Opposition und hier vor allem Blogger gewiss nicht wegen deren Antisemitismus terrorisiert und der die ägyptische Gesellschaft in die Armut treibt. Wenn der Westen Mubarak stützt, so soll er es laut sagen, dass dies allein wegen des Hasses der Ägypter auf Israel geschieht, dass und warum dieser Hass falsch ist und dass sobald dieser Hass aufhört auch die Diktatur aufhören wird. Aber das wäre, abgesehen von Israel, gelogen. Die Macht der Europäer war selten so groß wie heute. Sie untertreiben das, aber sie wissen es. Insofern ist es scheinheilig, wenn Westerwelle den Kameras versichert, auf der Seite der Protestierenden zu stehen und damit aber insgeheim schon die Muslimbrüder meint. Fälliger wären konkrete Zusicherungen an Israel, an die demokratische Opposition und eine Entschuldigung für die Borniertheit der Vergangenheit.
Das sind die Gründe, warum ich Mubarak lieber heute als morgen von den Revolten gestürzt sehen will. Ein Clean Cut wäre so wünschenswert wie utopisch: Dass mit den Diktatoren gebrochen wird, dass man nicht nur mit ihnen bricht, sondern sie dann auch konsequent angreift, sie schwächt, die demokratische Opposition stärkt, sie nach allen Regeln der Polemik gebührend kritisiert. An der Elfenbeinküste zeigt sich die Stabilität, die für Ägypten zu befürchten ist. Der korrupte Premierminister Gbabo hatte dort die Zentralbank überfallen, um mit den Millionen einen weiteren Monat seine Schlägertruppen zu bezahlen und sich die Armee warm zu halten. Sein vermutlich nicht minder korrumpierbarer Konkurrent, Qattara, ruft derweil den Generalstreik aus, der die Gesellschaft aushungert, die nach einem Tag ohne Lohn und Umsatz nichts zu essen hat. In Tunesien konnte Leila Ben Ali ungehindert die Bank ausrauben und einen gigantischen Goldschatz außer Landes fliegen. Derweil fliegt ein anderer Diktator, Baby Doc Duvalier, zurück in das Land, das er einst terrorisierte und plünderte. Er blieb ungestraft und verprasste die Beute derart schnell, dass er nun in Haiti auf Auszahlung seiner letzten gebunkerten, in der Schweiz gesperrten Millionen hofft. Der Westen hat allen Grund, die Muslimbrüder zu fürchten, die er militärisch und ökonomisch mit dem kleinen Zeh auslöschen könnte, wenn sie wirklich eine ernsthafte Bedrohung werden sollten. Sie sind sein schlechtes Gewissen. Erst wenn die Altlasten beseitigt sind, wäre ein radikaler Liberalismus vorstellbar, der anderen Staaten mit gutem Gewissen die Mindeststandards freies Wahlrecht und Frauenrechte abnötigen kann. Im Moment allerdings kann niemand behaupten, dass die Muslimbrüder Frauenwahlrechte und freie Wahlen verhindern. Das besorgt der Westen und seine Diktatoren.
————————————————————–
Siehe auch:
Tunis und die Kälte auf Nichtidentisches.
Erdbeben im Nahen Osten auf Lizas Welt
Nieder mit der Diktatur – Hoch… ja was? auf Spirit of Entebbe
Das Ägyptische Dilemma: 1979 oder ein neuer Anfang? auf Spirit of Entebbe
Pro-Mubarak rioters hurl Molotov Cocktails at Opposition auf Jerusalem Post
Der letzte Sieg von „1979“ auf Wadi-Blog
Ägypten ist nicht Gaza in der Jungle World
Und natürlich das Grundlagenwerk mit Informationen über Sadats Versuche, die Muslimbruderschaften zu instrumentalisieren und deren gezielte Förderung durch die „Panarabisten“:
Matthias Küntzel: Djihad und Judenhaß. Über den neuen antijüdischen Krieg.