Zwangsneurose, Tourette-Syndrom und Anorexie werden in „Vincent will Meer“ zusammengeführt. Der unterstellte Anspruch, nicht in Publikumsbelustigung zu verfallen schlägt fehl. Im zahlreichen Publikum flackert zu oft und an zu programmierten Stellen ungutes Gelächter auf. Das Beängstigende an allen Krankheiten rückt ins Behagliche, kein Bruch lässt etwas zu nahe kommen, alles ist berechenbar oder irgendwie niedlich. Der Zwangsneurotiker ist erstaunlich kompromissbereit – was echte Zwangsneurotiker und das Leiden derer, die von ihren Neurosen wie etwa der Waschzwang terrorisiert werden verharmlost. Der Tourettiker kommt so jungdynamisch daher, dass man mit ihm über ihn lachen darf – die Gewalt, die ein heftiges Tourette-Syndrom hat, bleibt unbesprochen im berechtigten Versuch, Akzeptanz für ein mildes Tourette-Syndrom einzuwerben. Mir begegnete einmal im Zug ein vollständig verwahrloster Mann, der von einem schrecklichen Zwang getrieben stets den gleichen, nur gering variierten Fluch vor sich hinbrüllen zu müssen – ohne Pause und stundenlang. Ein Film über einen solchen Menschen wäre ein Melodram und ein solches ist außerhalb Afrikas allenfalls für die Sparte der pseudointellektuellen Dramen vorgesehen.
Am glaubhaftesten und interessantesten kreist der Film um die Figur der Anorektikerin. Hier leistet der Film Aufklärungsarbeit an einem sehr entscheidenden Punkt: Die Protagonistin lehnt das Essen ab nicht weil ihr jemand wie in der Modebranche befiehlt zu hungern, sondern im Gegenteil: Weil ihr jemand befiehlt zu essen.
Lookism-AktivistInnen finden in Plakatwerbungen eine Quelle für Anorexie und machen so aus den Leidenden passive, von patriarchalen Blick-Regimes gelenkte Objekte, die man vor der Manipulation schützen müsse. „Vincent will Meer“ lenkt den Blick auf die hochnarzisstischen Aspekte, denen eine Magersucht folgen kann. Der Ekel, den die Filmfigur vor dem Essen hat, wird zu einem vor der körperlichen Abhängigkeit der „Anderen“ erklärt, die „das Essen so in sich hineinstopfen“. Die Kontrollen des Pflegers und der Heimleiterin erregen nur zwangsläufig Trotz. Wahnhafte Autonomie wird mit Selbstverletzung erkauft.
Und noch ein zweiter Aspekt ist möglich – im Verzicht auf das Essen wird narzisstische Libido erhalten. Wer auf die Verlockungen der mit kulinarischen Köstlichkeiten mehr denn je gesegneten westlichen Welt mit Ablehnung reagiert, muss eine andere, innere Quelle für diese Lust haben. Dass man von Luft und Liebe leben könne ist nicht nur ein Sprichwort – die Anorektikerin im Film scheint Selbstliebe nur behaupten zu können, indem sie vorgibt, sich selbst genug zu sein und somit in sich selbst einen adäquaten Ersatz für das Essen gefunden zu haben. Der Ekel vor sich selbst kann dann als einer auf das Essen und „die Anderen“, die die Einzigartigkeit in Frage stellen, artikuliert werden. Fatalerweise führt dieser Komplex dann auch in den Kollaps und die tödlichste der Krankheiten bleibt auch im Film ungeheilt. Während Vincent seine Wunschprojektion auf das Meer, ein Fremdes und im Film zugleich die Mutter repräsentierendes, richtet, bricht die Anorektikerin beim Anblick desselben zusammen. Die Liebe der Anderen ist kein Heilmittel, solange nicht der Narzissmus einen anderen Weg zur Selbsterhaltung gefunden hat als über den eigenen Körper und in Akzeptanz der eigenen Verwundbarkeit und Sterblichkeit. Die verleugnete Suizidalität auf Raten sucht im Film Komplizen – was allein der expressive Zwangsneurotiker erkennen kann, der seinen Narzissmus vollständig an der Außenwelt ausagiert und nicht gnostisch nach innen richtet. Ihm wiederum wirft die Anorektikerin vor, „nichts zu sein“ ohne seine überkontrollierte Außenwelt.
Im antipsychiatrischen Gestus spekuliert die Geschichte auf die heilsame Kraft eines Ausbruchs. Diejenigen, die darunter leiden müssen, werden zu verschrobenen Figuren verkitscht, denen es halt an Anpassungsfähigkeit mangelt. Dass es dem Tankwart überhaupt keinen Spaß macht, überfallen zu werden und somit seinen Arbeitsalltag auf lange Sicht von zusätzlichen Stressoren begleitet sehen muss, ist ihm in seinem ungastliches Äußeren aberkannt. Das Publikum soll mit dem Extralegalen als prozessual Erlaubtem im Liminalen sympathisieren dürfen, das ist das Gesetz eines jeden Roadmovies von den drogenschmuggelnden Easy-Riders über die RäuberInnen Bonny & Clyde und Thelma & Louise bis hin zu Baise moi. Da die angedeutete Heilung zweier Charaktere am Ende des Filmes stattfindet, wird das Leiden der Bystanders als notwendiges Übel oder schlimmer noch als gerechtes Exempel definiert, das Strafe ist für die generelle Inkompetenz der Gesellschaft im Umgang mit psycho-affinen Störungen. Die Geschichte braucht die Schrulle des asexuellen Tankwartes, der nur durch politischen Druck eingeschüchtert werden kann, mehr als ihr bewusst ist. Nur so kann sie den Übertritt angemessen inszenieren, den das Publikum sich mehr wünscht als echte Zwangsneurotiker und Tourettiker. Leiden wird subversiv und zugleich Krankheit relativ. Eine solche pubertäre Subversivität ist eine Unterstellung für langjährige Leidende. Dennoch, und darin ist der Film wiederum gut: Die Adoleszenzkrise wird als eigene Dimension hinter den Symptomen verhandelt. Heilung bedeutet für den Tourettiker primär Autonomie von der Diktatur des Vaters und das Trennen des Syndroms von den damit assoziierten Komplexen der Umwelt. Somit folgt der Film als gegen die Verhaltenstherapie gerichteter implizit dem psychoanalytischen Paradigma: Eigene und fremde Anteile am Leiden zu trennen und somit die fremdverursachten Probleme und gesellschaftlichen Konfliktebenen besser konfrontieren zu können.
Früheres zu Anorexie:
„Pro-Ana: Eine Erweckungsbewegung?„
„Die Abwehr des Genießens in der H&M-Werbung und der Hartz IV-Debatte.„
Danke für diese Rezension. Ich wollte mir den Film ansehen, bin bisher jedoch nicht dazu gekommen. Nun kann ich mir das noch einmal genauer überlegen.
Oh, wirklich unamüsant ist der nicht, die schauspielerische Leistung ist gut. Durchaus mal ansehen, aber auch nicht allzu sehr wundern. Fernsehen reicht. Muss aber wirklich nicht, setzt keine Maßstäbe.