Die Irrationalität der Trauer

Mitleid, schreibt der Nietzscheaner Adorno, ist ungerecht: Es ist immer zu wenig. Würde man das Mitleid, das alle Menschen verdienten gerecht zuteilen, so fürchtete Nietzsche, dann würde man auf der Stelle verrückt werden und seines Geistes verlustig. Ebenso verhält es sich mit der Trauer. Sie ist ungerecht, weil nicht um alle Menschen gleichermaßen getrauert werden kann, die das vielleicht verdient hätten.

Auf diesen Universalismus berufen sich beleidigte Feulletonisten: Starben nicht mehr US-Soldaten in Irak und Afghanistan als bei 9/11, ganz zu schweigen von den Millionen anderen, die der Islamismus und diktatorische Regimes in den letzten zehn Jahren vor allem im eigenen Hoheitsgebiet ermordeten. Ist Trauer nicht obszön, wenn sie diese 3000 im World-Trade-Center betrauert, die anderen aber exkludiert.

Eine solche utilitaristische Trauerpraxis, wäre sie ernst gemeint, ist keine. Wer Trauer nach dem Tauschprinzip zurichtet, fügt sie in ein verwaltetes System ein, in dem zugeteilt wird, wem gebührt. Doch es geht den Beleidigten nicht einmal um Gerechtigkeit, die so häufig gegen die Freiheit ausgespielt wird. Wer so stänkert, neidet Individuen ihre intimsten Gefühle und zeigt sich eben unfähig zu trauern – unter der Berufung auf jene, deren vergessenes Leid von ihm zum Argument seiner Gefühlskälte instrumentalisiert wird.

Diese Äquidistanz kultiviert Judith Butler in ihrem Heftchen „Gefährdetes Leben“. Als in Pakistan der Journalist Daniel Pearl von Islamisten vor der Kamera geköpft wurde und diese Tat international Entsetzen auslöste, fragte sie empört und borniert: Wieso man gefälligst medial nicht in gleichem Maße um Palästinenser trauere, die von israelischen Soldaten getötet wurden. Sie fragt aber nicht jene Palästinenser, warum sie auf ihren Straßen Freudentänze aufführten oder zumindest duldeten, als die WTC-Türme einstürzten oder warum einige vor lauter gar nicht klammheimlicher Freude Bonbons an Kinder verteilten, nachdem Djihadisten in einer Siedlerwohnung einbrachen und nach den Eltern der dreimonatigen Hadas Vogel die Kehle durchschnitten weil sie jüdisch war.

Der Adressat von Butlers Kritik sind die USA und ihr Feindbild Israel – die ersteren hält sie demnach für veränderbar und kritisierbar, während sie Israelis zu Nazis erklärt und für die im Bann des Islamismus Wütenden nichts als Affirmation bereit hält. Den Trikont schließt sie vom propagierten Nutzen ihrer Kritik aus und erklärt ihn implizit für unfähig zur Veränderung – vielmehr soll er so anders bleiben, wie er ist, damit der Westen sich in seiner Toleranz diesem Dritten gegenüber gefallen kann.

Ihre Kritik führt in der Konsequenz nicht zu mehr Trauer sondern sie streicht diese durch und verfällt eben in jene Rolle, die der Gegenseite vorgeworfen wird: Menschenleben aufzurechnen nach der bloßen Kategorie des nach dem Tauschprinzip gleichgemachten Lebens. Verdunkelt wird die Qualität des Todes und des Verbrechens und vor allem: der moralischen und intellektuellen Nähe zu den Toten. Liebe, die alle meint, ist keine, lautet eine Kritik von Grunberger/Dessuant am Christentum. Sie streicht die qualitativen Bedingungen, weshalb man liebt, durch und entwertet den Gegenüber zu einer Projektionsfläche eines narzisstischen Spiegelkabinetts.

Die USA mögen ihre guten und schlechten Seiten haben – angegriffen wurden sie ausschließlich wegen ihrer guten, so Hannes Stein. Wenn sich Menschen mit den Opfern dieser Tat identifizieren, ist das nicht Ausdruck der verschleierten Zwecke der „Macht“, wie Butler in ihrem jüngsten Fließbandprodukt unterstellt. Es ist Ausdruck des Universalismus von 9/11. Dessen Trauer ist integrativ, sie meint die damals ermordeten Menschen ungeachtet ihrer Religion oder Hautfarbe oder Nationalität. Sie ist exklusiv, denn sie schließt aus, dass irgend etwas mit jener hasserfüllten Intransigenz des Islamismus geteilt werden kann. Und, im Gegensatz zur vorgeschützten internationalen Solidarität einer Judith Butler – sie ist in erstaunlichem Ausmaße ehrlich, auch wenn sie in Quizzshows mit den variierten und orchestrierten Titeln „“Wo waren sie am 9/11“ aufs Schlimmste ausgebeutet wird.

Die Dialektik von Trauer und Gerechtigkeit gegen beide auszuspielen ist bösartig und nicht philosophisch. Dialektische Kritik hat den menschlichen Impuls zu verteidigen, wo er überhaupt noch aufzutreten wagt, ohne sich dafür entschuldigen zu müssen.

Michael Moore’s Farenheit 9/11 vs. Flight 93

Der Jahrestag des 9/11 sorgt für Umsätze. Web.de wärmt in hübsch objektiver Berichterstattung Verschwörungstheorien auf, Kabel 1 bringt Michael Moores Fahrenheit 9/11, während gleichzeitig auf dem öffentlich-rechtlichen eine deutsche Synchro-Fassung von Flight 93 läuft. Da ich letzteren gekauft hatte, musste ich mich nicht lange entscheiden und sah mir Michael Moores Streifen an.

Michael Moores selektiver und propagandistischer Blick springt einem halbwegs kritischen Betrachter sofort ins Auge. Moore ist der eifrigste Nutznießer des Prinzips, das er anzugreifen vorgibt. Während er den Republikanern vorwirft, 9/11 zur Manipulation der Bürger zu missbrauchen, gibt er offen zu, mit seinem Film in den Wahlkampf eingreifen zu wollen. Während er der Bush-Regierung vorwirft, systematisch Angst zu schüren, sät er paranoische Ängste vor der Macht saudischen Kapitals, vor Firmen und Regierung. Und wo er diesen Zynismus vorwirft, scheut er sich wie die Sender nicht, verbrannte Leichen zu zeigen und hilflose Verwundete zu filmen, deren Aussagen er zusammenzuschneidet, bis sie in sein propagandistisches Konzept passen. Carlyle, einer Waffenfirma unter Mitarbeit von George Bush, wirft er vor, durch ihren Börsengang 6 Wochen nach 9/11 231 Mio. Dollar Gewinn abgeschöpft zu haben. Michael Moore fährt mit Fahrenheit 9/11 bis 2006 dagegen nur schlappe 222 Mio. Dollar ein. Wo er Bush vorwirft, ein gleichgültiger, machtbesessener Tyrann zu sein, filmt er Saddam Hussein in fröhlicher Runde herumhopsend als harmlosen Kerl. Den Irakkrieg leitet er mit fröhlich spielenden, gutgekleideten Kindern ein. Die Sequenzen werden gefolgt von Bomben und weinenden Müttern. Wer vorher unter Saddam und Udai Hussein litt, ist ihm egal, weil es ihm nicht in seinen Wahn passt. Ebenso verzichtet er auf irgendeine Erwähnung der Giftgasbestände Saddam Husseins, der Konflikte um verhinderte Waffeninspektionen, der gescheiterten Sanktionen unter denen zehntausende Kinder starben. Für Moore ist 9/11 nur ein Mittel zum Zweck, sein eigenes Programm zu forcieren. Seine penetrante Leugnung des Terrorismus gibt noch jenen recht, die im Gefolge des 9/11 unablässig die Gefahr des Terrorismus zur Hauptbedrohung stilisierten und somit unverhältnismäßige Ängste schürten.

Flight 93 ist ein gutes Kontrastprogramm zur Marktschreierei Moores. Auf die Einführung von oskarträchtigen Hauptrollen wird verzichtet. Nicht einmal die Terroristen werden besonders stereotyp inszeniert. Sie erscheinen als angreifbare Individuen ohne spezifische Zeichen des Wahnsinns, fast mitleiderregend. Die polyphone Erzählweise verläuft in einer technisierten Sprache, die positivistisch den Fall „Hijack“ einplant, aber seine Besonderheit weder adäquat erkennen, noch auf sie reagieren kann. Die Vermitteltheit von Kommunikation zwischen zuständigen Stellen der Luftaufsichtsbehörde, zwischen Passagieren und Terroristen wird als Problem wie als Lösung gleichzeitig benannt. Flight 93 ist eine Fundgrube für postmoderne Theorien über Zeichen, Deutung und Kommunikation. Mehr als das ist der Film trotz der starken Suspense-Lastigkeit eine realistische und zurückhaltende Darstellung des Geschehens. Durch diesen fühlbaren Respekt den Opfern gegenüber wird Empathie befördert, wo vorher kein Bewusstsein über die Realität dieser Ereignisse bestand.