Vorzugsbehandlung und Erpressung

Asylsuchende hatten das harmonistische Bayern schon vor einiger Zeit verstört, als sie ihre Münder zunähten. Wer den Stellenwert des Essens in dieser Region kennt, weiß, welche unbewussten Ängste und Aggressionen das auslösen muss. Das gemeinsame Mahl wird in der Psychoanalyse als eine der ältesten Institutionen zur Unterdrückung von Aggressionen bewertet. Dagegen zu verstoßen – zum Beispiel aufgrund anderer Speisegebote – fördert archaische Aggressionen zu Tage.

Die Empörung, mit der Hungerstreiks in Deutschland bedacht werden, verweist auf diese unbewusste Gemengelage. In Berlin und in Würzburg (Welt) gab es bereits Hungerstreiks von Flüchtlingen. Gestern wurde der Hungerstreik in München abgebrochen. Mit Fürsorglichkeit wird auf einmal nicht gegeizt:

„Dass eine schwangere Frau in den Hungerstreik geht und damit ihr Ungeborenes gefährdet, muss sofort beendet werden, hier sollten sich alle einig sein“, forderte Haderthauer. „Es ist keine schwangere Frau an dem Hungerstreik beteiligt“, erklärte anschließend einer der Unterstützer.“ (Welt)

„Ude ließ keinen Zweifel, dass der Krisenstab von Stadt und Staatsregierung Tote in München verhindern will: „Der absolute Vorrang gebührt dem Schutz von Leib und Leben“, sagte er.“ (taz)

Dabei wird verschwiegen, dass Ärzte nach der bindenden „Declaration of Tokio“ der „World Medical Association“ gar keine Zwangsernährung vornehmen dürfen. Dort heißt es in Artikel 6:

„Where a prisoner refuses nourishment and is considered by the physician as capable of forming an unimpaired and rational judgment concerning the consequences of such a voluntary refusal of nourishment, he or she shall not be fed artificially. The decision as to the capacity of the prisoner to form such a judgment should be confirmed by at least one other independent physician. The consequences of the refusal of nourishment shall be explained by the physician to the prisoner.“

Und in der Declaration of Malta on Hunger Strikers steht:

„Physicians need to satisfy themselves that food or treatment refusal is the individual’s voluntary choice. Hunger strikers should be protected from coercion. […] Physicians or other health care personnel may not apply undue pressure of any sort on the hunger striker to suspend the strike. Treatment or care of the hunger striker must not be conditional upon suspension of the hunger strike.“

Allemal verschoben wird die Aggression der Asylpolitik, die Flüchtlinge vom prall gefüllten gemeinsamen Tisch mit billigsten Essenspaketen und drakonischen Strafen auf Verletzung der Residenzpflicht wegdrängt. Wenn deutsche Behörden traumatisierte Flüchtlinge, die in Gefängnissen gefoltert wurden, hier wieder in trostlose Gefängnisse stecken, dann ist das angesichts des aktuellen Standes der Traumaforschung mehr als nachlässig, es ist der mehr oder weniger systematische Versuch, Menschen in Selbstmorde zu treiben oder, was offener artikuliert wird, mit aller Gewalt und unter Billigung der regelmäßigen Suizide wegzuekelen. Während in allen europäischen Staaten menschenleere Peripherien entstanden sind, beispielsweise aus Ostdeutschland umso mehr Leute wegziehen, je mehr man dort glaubt, dass das Boot voll sei, währenddessen sperren Deutsche Flüchtlinge in Baracken und belegen sie mit Berufsverbot und Gefängniskost. Diese Aggression wird zur Wohltätigkeit noch umgelogen in den deutschen Köpfen. Der absolute Vorrang gebührt in der mörderischen Flüchtlingspolitik gewiss nicht dem Schutz von Leib und Leben.

Altväterlich versuchen Mitverantwortliche für diese Situation, die Aktion zu psychiatrisieren und zu verniedlichen. „Ude und Herrmann äußerten starke Zweifel, ob sich alle von ihnen darüber klar gewesen seien und ob sie nicht instrumentalisiert worden seien.“ (Zeit)

Sehr klar war auch der SPD, wen und was sie instrumentalisierte mit ihrer Flüchtlingspolitik. Ausgerechnet die Achse des Guten schwadroniert aber von spezifisch deutscher Übersensibilität: „Die Organisatoren des Hungerstreiks wissen um die Dialektik im Herzen der deutschen Bestie: Die Hebelwirkung der moralischen Erpressung ist umso größer, Trauma und Schuld sei Dank.“

Natürlich stürzen sich die Konservativen sofort auf linke Prosa: „Schon beim Hungerstreik von Asylbewerbern vorm Brandenburger Tor in Berlin war schnell klar geworden, dass sogenannte deutsche „Unterstützer“ ein Aktions-Drehbuch in der Tasche hatten.“ (AchGut)

Mit solcher Marktschreierei kann man wahrscheinlich FAZ-Leser darüber hinwegtäuschen, dass Flüchtlinge nun einmal keine anderen Unterstützer gefunden haben in Deutschland und dass, wie berechtigt ein Anliegen auch sein mag, gewiss kein Konservativer oder Liberaler irgend ein „Aktions-Drehbuch“ in der Tasche hat, zumindest keines, in dem die Flüchtlinge gut weg kommen.

Die Unterstützer und Organisatoren der Aktion hätten sich natürlich besser Louis Lecoin zum Vorbild genommen, dessen Hungerstreik in Frankreich zur Legalisierung der Kriegsdienstverweigerung führte. Oder jenen großen Hungerstreik von Häftlingen, der 2008 in 39 deutschen Gefängnissen durchgeführt wurde. (Telepolis)

Haderthauer und ihre Klientel hätte das aber auch nicht gekümmert: „Hierzulande ist Politik nicht erpressbar, wir leben in einem Rechtsstaat, wo man sich nicht durch Hungerstreiks eine Vorzugsbehandlung erzwingen kann.“ (SPON)

Für Behördengänge gibt es aber auch in Deutschland allemal Interventions- und Beschleunigungsmöglichkeiten, zu denen auch die vergessene Form der Petition zählt. Man hätte sich weniger Erpressbarkeit gewünscht, als vor 20 Jahren nach Pogromen und Terror von Neonazis das Recht auf Asyl abgeschafft wurde. (Das Erste) Wenn in Italien Flüchtlinge ihre Baracken anzünden, dann hat man dafür schon deshalb kein Verständnis, weil das Anzünden von Flüchtlingsbaracken in Europa ausschließlich durch Neonazis zu erfolgen hat.

Die deutsche Gesellschaft hat unterm Primat des Harmonismus jegliche ernstere Konflikte abgeschafft. Daher wünscht man sich in allen globalen Konflikten auch nichts mehr als „Verhandlungslösungen“, jeder Unternehmer gibt sich routiniert beleidigt über Streikende, die „Verhandlungsangebote“ ausgeschlagen hätten. Selbst Abschiebungen werden noch zum Wohl des Flüchtlings mit Handschlag und „Alles Gute in der Heimat“ vom berufsmäßig mitfühlenden Abschiebebegleiter abgeschlossen. Und wohl nur aus Fürsorge wurde ein recht deutscher Witz von der Berliner Polizei sehr ernst genommen: Keiner soll hungern, ohne zu frieren.

In dieser Kultur der zensierten, passiven oder kollektiv sanktionierten Aggression erscheint es überbordend und deplaziert, wenn mit dem Leben bedrohte Flüchtlinge ein so radikales Mittel wie den Hungerstreik wählen. Dass sie sich nicht an der Kasse vordrängeln möchten, sondern um den Unterschied zwischen vegetieren und leben, fressen und essen, Gefangenschaft und Freiheit, Asyl und Tod kämpfen, das können saturierte Bayern niemals verstehen. Daher ist die zynische Rede von der „Vorzugsbehandlung“ primär projiziertes Unbehagen über die eigene privilegierte Position und Abstiegsangst. Die wird in den Flüchtlingen ohnehin bekämpft, gerade die Dimension des Hungers aber versetzt die zu beispiellosem Wohlstand gekommenen Bauern in den Großstädten in Angst und Schrecken.

Die letzte Tapferkeit

Es verwundert immer noch mehr: Sarrazin musste Amt und Würden hinter sich lassen. Menschen, die intellektuell Lichtjahre hinter seinem verquasten Kork zurückbleiben, bleiben Parteivorsitzender, Ministerin, Parteisekretär. Seehofer, Gabriel und Schröder wuchteten sich zuletzt prominent und ungeniert ins Licht der Öffentlichkeit. Alle drei gerieren sich gerne als sozialer Flügel der jeweiligen Partei. Aus den in Wirklichkeit von den liberalen Grünen angefressenen Parteien SPD und CDU/CSU war wiederholt Angst vor einer „rechten“ Konkurrenz zu vernehmen.

Die in letzter Zeit häufiger geäußerte Drohung, die CDU würde keine Partei rechts von der CDU erlauben, gibt allen Grund zur Unruhe. Rechts und links sind untaugliche Spielmarken, die dringlichst durch ihr jeweils gemeintes – faschistisch, konservativ-demokratisch, liberal, kommunistisch, stalinistisch, sozialdemokratisch, etc.  – ersetzt werden sollten. Tatsächlich lässt sich in allen Parteien ein staatsmonopolistischer und ein liberaler, ein antisemitischer und ein proisraelischer, ein völkischer und ein weltbürgerlicher, ein faschistischer und ein demokratischer Flügel finden. Die Unreinheit der Begriffe links und rechts lässt jedoch gerade Rückschlüsse auf das zu, was die CDU als rechts von sich befindlich ansieht und aufzufangen plant: die nationalsozialistische Position. Diese ist es, die Seehofer einnimmt, wenn er im Jargon Goebbels zur „letzten Tapferkeit“ im Kampf gegen vermeintliche Müßiggänger aufruft, denen das Existenzgeld und wohl noch die letzte Garantie, die sie noch haben, die Nahrungsmittelgutscheine zu streichen sind –  die also im industriellen Stande der paradiesischen Überproduktion ausgehungert werden sollen. Der Schlag nach unten passt zum Schlag nach außen. Wenn er über unverträgliche Kulturkreise spricht, meint er nicht die Troglodyten in bayrischen Vororten, die immer noch gern ihren Kaiser oder den Adolf wieder hätten. Seehofer attackiert einen diffusen Raum, der nicht das Extrem des Fremden ist, sondern den Beginn des Fremden, das eigentlich Verwandte markiert – der Orient. Im Prinzip vollzieht er das, was Sarrazin vorgeworfen wird: Rassismus. Die Herkunft aus einem Kulturkreis ersetzt rhetorisch das Gen und aus dieser Herkunft soll die Ausgrenzung geschlossen werden. Schröder wiederum nutzt die Gunst der Stunde und plätschert gegen „Deutschenfeindlichkeit“ in Schulen – ein ähnlich strukturiertes Konstrukt wie die „Islamphobie“. Eine winzige Sparte des Mobbings in der Schule, das sich an Akzidentiellem aufreibt und strukturell eher homophob als rassistisch ist, wird zum neuen Popanz eines drohenden Untergang des Deutschtums.

Die Maßnahmen sehen sich jeweils gleich: staatliche Zwangsmaßnahmen am Rande des Totalitären  (Kindergartenpflicht – als würde dort Aufklärung garantiert), Abschiebung, Einwanderungsstop.

Dringend nötig ist es, gegen die medial zurechtkastrierten Drei-Sekunden-Kommentare der Opposition, die Fakten zu klären. Einwanderung aus Nicht-EU-Staaten ist bei genauerer Betrachtung so gut wie unmöglich. Niemand kann aus dem sogenannten „arabischen Kulturkreis“ einfach so mit Sack und Pack einwandern und Deutscher werden. Flüchtlinge werden weitgehend durch die Dritt-Staaten-Regelung abgefangen. Eine Aufenthaltserlaubnis gilt ohnehin nur noch sechs Monate. Bleibt die Niederlassungserlaubnis. Die erhalten nur Menschen mit Arbeit, Wohnsitz, Deutschkenntnissen, Integrationstests und einem mehr als fünfjährigen Aufenthaltsowie einer langjährigen Beschäftigung in Deutschland. Was also von Seehofer eingefordert wird, ist ohnehin längst Gesetz: Es gibt keine effektive Einwanderung. Es gibt  lediglich ein marodes Asylrecht, das noch dazu durch Auslegungen untergraben wird. Und es gibt die für die Türkei nicht unbedingt randständige Möglichkeit, Menschen aus Nicht-EU-Staaten zu ehelichen und nach Prüfungen und Bewährungsauflagen dieser Person den deutschen Pass zu ermöglichen. Was für die Troglodyten aus Unterfranken noch lange nicht heißt, dass die Person nun Deutscher oder Deutsche sei.

Die Zahlen für Visa-Anträge konterkarieren Seehofer bereits im Ansatz. Von den erteilten Visa dürfte der allerkleinste Teil zu einer Niederlassungserlaubnis führen. Der Löwenanteil entfällt eher auf sehr wohlhabende Touristen und Geschäftsleute, die noch dazu mehrfach in den Zahlen auftauchen, wenn sie für Geschäftsreisen mehrere Visa benötigen.

Für Ankara hat sich die Zahl der jährlichen Visa seit 2000 konstant halbiert (von 73695 auf 38723) während die Ablehnungen bei um die 15 000 stagnieren. In Istanbul und Izmir gilt der gleiche Abfall. Ähnlich verhält es sich mit  Algier (10984 auf 5472 bei konstant um die 1500 Ablehnungen) und Tunis (18255 auf 7133).

Dubai hat zwar seit 2000 eine Verdoppelung von 21010 auf 41329 erfahren, seit 2007 stagnieren die Zahlen allerdings, gegenüber 2009 ist eine Abnahme zu verzeichnen. Das gleiche gilt für Abu Dhabi mit 6869 im Vergleich zu 12548.

Die insgesamt erteilte Visa-Zahl an allen Botschaften ist seit 2000 um etwa eine Million von 2607012 auf 1649392 gesunken, gegenüber einem leichten Anstieg der Ablehnungen von 167038 auf 177207.

(Quelle: Bundestag)

Ein Drittel weniger Menschen wollten überhaupt Deutschland besuchen, dem verbleibenden Rest steht man aber nicht weniger misstrauisch gegenüber. Und wer trotzdem noch in Deutschland verweilt, wird ausgeschafft: 2009 wurden 7289 Menschen aus Deutschland mit dem Flugzeug abgeschoben – auch in Diktaturen wie China, Irak,  Weissrussland, Vietnam oder Afghanistan. 536 weitere wurden über den Landweg und 5 mit dem Schiff weggeschafft. Sehr tapfer, das. (Quelle: Bundestag)

Das sind im Vergleich zu anderen, multiethnischen Staaten lächerliche Zahlen. In Ghana ist es selbstverständlich, dass 70 verschiedene Sprachen und Dialekte gesprochen werden und Nomaden im Norden wie auch Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten sich ansiedeln. Bei Fluchtbewegungen im Kongo-Krieg sind Hunderttausende auf der Flucht über die Grenzen in die Nachbarstaaten. Deutschland besitzt also die in Seehofer, Gabriel und Schröder kristallisierte Arroganz, zum einen nichts Effizientes gegen irgendeinen jüngeren Genozid oder Massenkrieg auf der Welt unternommen zu haben und zum Anderen sich taub und dumm zu stellen, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Es profitiert in unverschämter Weise von Diktaturen, etwa in Iran, und weist dann auch noch den Opfern dieser Dikaturen die Tür. Es diskutiert über die Schimäre „Einwanderung“ während noch nicht einmal ein Asylrecht errichtet und verteidigt wurde, das diesen Namen verdient. Seehofers Vorstoß zur letzten Tapferkeit ist nicht der letzte, den man erwarten darf. Solche sogenannten „Tabubrüche“ sind antidemokratisches Gift, das Fortbestehen des Nationalsozialismus in der Demokratie. Es wird bedrohlich bleiben, solange keine Opposition sich offen für ein Asylrecht im Wortsinne und eine Einwanderungsgesellschaft im weltbürgerlichen Sinne mit einer klaren Garantie der Auflösung des deutschen Volksfetischs hin zu einer weltbürgerlichen, demokratischen Gesellschaft einzusetzen wagt.