Man kann darüber streiten, wie vergeblich die Mühe ist, Beiträge in Zeitschriften zu kritisieren, die wie ihre Tante „Bahamas“ alles, aber keine Diskussionsforen sind, und die im Zuge dessen auch keineswegs Kritische Theorie machen, sondern Publizistik.
Zur Beschneidungsdebatte, deren politisches Fazit jeden Säkularismus in Deutschland wie auch in den mit Argusaugen auf den Westen blickenden arabischen neuen Staaten auf Jahre hinweg kalt gestellt hat, muss man eigentlich nichts mehr schreiben. Gleich vier Autoren sehen sich trotzdem ein Jahr, nachdem kritische Positionierung relevant und riskant gewesen wäre, dazu gezwungen, irgendwas Äquidistantes, materialistisch angehauchtes über Recht, Staat und Nation zusammenzuzimmern. Das alles kann man selbst nachlesen, wenn man es noch der Bedeutung verdächtigt. Hier geht es nur kurz um das gröbste Missverständnis, das jenseits der Beschneidungsdebatte relevant ist, weil es einen grundfalschen Begriff von Psychoanalyse voraussetzt:
Dies geschah ungeachtet des Umstands, dass der Islam im Verlauf der Diskussion auch von den Beschneidungsgegnern immer wieder dafür gelobt wurde, dass die Beschneidung hier relativ spät vorgenommen wird und man sie vielleicht nur noch ein paar Jährchen weiter zu verschieben bräuchte, damit sie der Forderung genüge trage, die Beschneidung in einem Alter freier Entscheidungsfähigkeit durchzuführen.
Dass allerdings eine bereits entwickelte Reflexionsfähigkeit und gemachte Schmerzerfahrungen eine Beschneidung in höherem Alter verglichen mit einer im Säuglingsalter durchgeführten ungleich angstvoller und damit auch schmerzhafter machen, liegt jedoch auf der Hand (5).
Anders als bei der jüdischen Beschneidung des Säuglings dürfte die Beschneidung nach dem einmal entfachten ödipalen Konflikt ihrerseits direkt durch die dann mit einer Beschneidung unvermeidlich einhergehende Kastrationsdrohung motiviert sein. Bei der Säuglingsbeschneidung müsste die Kastrationsangst allerdings ausbleiben. (Leo Elser, Polemos #5)
In der Fußnote heißt es:
Nicht bestritten ist damit, dass auch Säuglinge Schmerzen empfinden können. Schmerzen sind aber ihrerseits immer auch durch Individualität und Erfahrung vermittelt, weshalb sich die Qualität des Schmerzes nicht rein empirisch (z.B. durch Beobachtungen der Gehirnströme o.ä.) feststellen lässt.
Wir wissen nicht, welche Säuglingsforschung Elser hier einbezieht, und müssen uns wie er auf das Moor der Einfühlung, der Introspektion und Logik wagen. Elsers Herleitung lautet:
Kastrationskomplex plus Beschneidung ist gravierender als Oralität plus Beschneidung. Warum? Weil „mehr Individuum“, „mehr Reflexion“ möglich sei, also „mehr Angst“, bzw. qualitativ anderer Schmerz.
Das beinhaltet eine Verkehrung der psychoanalytischen Befunde, dass alle Erfahrungen auf früheren aufruhen, durch diese hindurch gefiltert werden. Der Säugling ist nicht einfach weniger erfahrungsfähig als das Kleinkind, sondern die Erfahrungen des Säuglings sind essentieller Grundstein der Erfahrungswelt des Kleinkindes, Störungen in der oralen Phase wirken auf das Gelingen beispielsweise der Triangulierung zurück. Wenn ein Säugling am 8. Tag seines Lebens unsägliche Schmerzen erleidet, die ihn in die Schockstarre zwingen, dann hat er nach diesem Tag bereits ein Achtel seines postnatalen Lebens Schmerzen erlitten und kann noch nicht einordnen, ob diese jemals wieder aufhören werden, er muss auch befürchten, diese jederzeit wieder zu erleiden. Erst im Lauf der Zeit lernt der Säugling, Versagungen zu tolerieren und Triebregungen aufzuschieben oder zu sublimieren. Das junge Kind kann bereits symbolisieren, er kann einordnen und er kann auch getröstet werden durch Sublimierungen und die Versicherung, dass es nun eben vorbei sei. Das bedeutet: Die Beschneidung im Säuglingsalter ist keineswegs weniger angsterzeugend als die im Knabenalter.
Noch falscher ist, durch die frühe Beschneidung nicht den Kastrationskomplex aktualisiert zu sehen oder wie Niklaas Machunsky in islamische Beschneidung als Inzestverbot und jüdische Beschneidung als Unterwerfung unter ein Gesetz zu trennen. Würde man diese doch sehr naive Auffassung wirklich zu Ende denken, wäre zuerst einmal der gesamte Kastrationskomplex des Mädchens hinfällig. Das ist bekanntlich gar nicht kastriert, missversteht sich aber genau so und beschuldigt die Mutter für den vermeintlichen Defekt oder vermutet eine Strafe für eine unbekannte Tat.
Der beschnittene Junge wird jedoch darüber hinaus immer ein Bewusstsein davon haben, dass er tatsächlich eine Narbe trägt, dass er in einer grauen Vorzeit für irgendein ihm unbekanntes Vergehen kastriert wurde. Spätestens bei der Beschneidung von Brüdern, Söhnen oder anderen Verwandten wird diese Frage akut. Nicht zu wissen, wer dieser unbekannte Kastrator war, wofür man bestraft wurde, das dürfte dann doch ungleich angsterzeugender sein, als eine Konkretion der Ängste vor sich zu sehen, die man wenigstens Zeit seines Lebens hassen darf. Die Konkretion von Ängsten wurde übrigens in der psychoanalytischen Märchenforschung Bettelheims respektabel, unter der logischen Voraussetzung, dass sie im Märchen auch bleibt.
Auch die jüdische Beschneidung ist gegen den Inzest gerichtete Kastrationsdrohung. Gesetz als psychologische Instanz, als gesellschaftlich sanktioniertes Über-Ich ist gemeinhin in der Psychoanalyse gar nicht denkbar ohne die Internalisierung der kastrierenden Vater-Instanz.
Das Judentum als religiöser Kanon beinhaltet immerhin einige Regelungen, die zumindest nahelegen, die aggressiven Aspekte des Rituals weitgehend in den Schein der Zärtlichkeit, der Integration und der Homoerotik zu kleiden. Das entspricht der Doppelgestalt aller Beschneidungsinitiationen, wie sie Theodor Reik beschreibt: homoerotische Zärtlichkeit und Aggression/Kastration. Es bleibt aber intendiert als aggressiver Akt, als verstümmelnde Kastration, die sich spätestens dann als Traumatisierung ausweist, wenn sie um jeden Preis am eigenen Kind wiederholt werden muss. Dem wirklich komplizierten Sachverhalt stellen sich alle Autoren nicht oder allenfalls als Illustrationsmaterial elegischer Staatstheorien: Dass die Beschneidung nun einmal archaisch und barbarisch ist, obwohl genau das die Antisemiten den Juden als Wesenszug anlasten – natürlich nur, um im zweiten Atemzug die modernsten Errungenschaften wie gerade den bürgerlichen Rechtsstaat als jüdische Erfindung zu verdammen und sich mit Tradition und Barbarei zu identifizieren.
Jan Huiskens begründet in der Prodomo mit viel Adorno, Marx und Schmalz, „warum außerdem die Juden mitsamt ihren Bräuchen gegenüber allen „Kinderschützern“ und sonstigen Staatsfetischisten verteidigt werden müssen.“ Das ist martialischer Heroismus, der hohl klingt, weil er längst mit dem staatlichen Konsens konform geht. Die selbsterklärte Avantgarde der Kritischen Theorie folgt damit den poststrukturalistischen Beschneidungsverharmlosern, sie gibt sich lediglich etwas mehr Mühe, Adorno selektiv zu lesen und Staat raffiniert, aber ganz undialektisch von Gesellschaft zu trennen, was ihnen darauf hinausläuft, im Recht des Kindes gegen das Kollektiv den Volksstaat der Nationalsozialisten zu bestimmen. Das setzt zwar ganz hahnebüchene Relativierungen und Kategorienfehler voraus, weist aber ebensowenig Empathie für jüdische oder muslimische Kinder auf wie die Gesetzgeber.
Jan Gerber hat in seinem eigenwilligen Beitrag leider auch nicht viel Bereicherndes hinzuzufügen, er wiederholt eigentlich das prüde Ressentiment gegen das historisch vermutlich erste, wenngleich reichlich verkrampfte gesellschaftliche Gespräch über die Verwundbarkeit männlicher Genitalien:
Aller Rhetorik vom Wohl der Kinder, den „Lehren aus der Geschichte“ oder dem säkularen Staat zum Trotz war die Beschneidungsdebatte damit vor allem eins: die publizistische Variante eines traditionellen Schwanzvergleichs. (Jan Gerber, Polemos #5)
Man fragt sich, warum er trotz dieser Einsicht daran teilnimmt.
„Es [das Ritual] bleibt aber INTENDIERT als aggressiver Akt, als verstümmelnde Kastration […].“
Die Juden wollen also ihre Kinder verstümmeln und kastrieren.
Dir jedenfalls stellen sich Juden nur als Einheit dar, die als „die Juden“ mit Religion und diese mit Beschneidung identifiziert wird. Das führt in Kulturalismus über. Das Judentum als orthodoxes Regelwerk intendiert wie einige Dutzend anderer Religionen auch mit der Beschneidung die Kastrationsdrohung an seine Teilnehmer, das Christentum macht etwas sehr ähnliches mit der omnipräsenten Kreuzigung, die als Bild auch die Kastrationsdrohung enthält. Und, das hast du ganz richtig verstanden, die Beschneidung ist Genitalverstümmelung. Die Frage ist doch eher: Was daran wehrst du ab? Wirst du, sobald du die Kritik zulässt, eben doch zum Antisemit, weil deine „aufklärerische“ Patina auf die Idealisierung der jüdischen Religion und des jüdischen Ritus angewiesen ist?
1. Dass die große Mehrheit der Juden weltweit die Söhne beschneiden lässt, um sich zur Einheit des Sinai- wie des Moriabundes zu bekennen, habe ich mir nicht ausgedacht: das ist eine Tatsache.
2. Deine Definition des Judentums als „orthodoxes Regelwerk“ ist, das muss man Dir lassen, echt kantianisch. Nur begreifst Du offenbar genau wie dieser nicht im Geringsten, was das jüdische Gesetz ist.
3. Das Judentum intendiert keine Kastrationsdrohung, das hast Du Dir, aus welchen Motiven heraus auch immer, bloß ausgedacht. Sonst bring bitte mal zum Beleg auch nur eine halachische Stelle!
4. Dass Du mich fernfuchtlerisch therapieren willst, zeigt erneut, dass Du von Psychoanalyse jedenfalls nicht den blassesten Schimmer hast.
5. Im Gegensatz zu Dir muss ich mir kein „emanzipatorisches“ Judentum zurecht basteln, um es gegen antijüdische Angriffe zu verteidigen.
„Kastrationskomplex plus Beschneidung ist gravierender als Oralität plus Beschneidung. Warum? Weil “mehr Individuum”, “mehr Reflexion” möglich sei, also “mehr Angst”, bzw. qualitativ anderer Schmerz.“
Dieser erneute Versuch zu relativieren soll doch nur von dem Trugschluss ablenken, es gebe nur eine Wahl zwischen diesen beiden Alternativen.
Dass ein Verzicht auf diesen Anachronismus zum Nachteil kleiner Menschen die einzig humane Entscheidung sein müsste, kommt diesen Fanatikern wohl erst gar nicht in den Sinn.
Vielleicht sollten mal allgemein gültige Grundsätze für die Relevanz von Religionen und ähnlichen gesellschaftlichen Konstrukten, die als Hilfs- und Druckmittel für die Herrschenden gerne Verwendung finden, aufgestellt werden, die dem jeweiligen Bewusstseinsstand betroffener Individuen auch entsprechen, und nicht willkürlich und fremdbestimmt über irreversible Eingriffe entschieden wird.
Dazu gehört, dass bei Grundrechten niemals relativiert werden darf.
Ergänzung: man darf gespannt sein, wann die Vorhautbeschneidung der Klitoris bei Mädchen und Frauen als die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird. Erste Startversuche soll es ja schon gegeben haben.
Unbestritten dürfte sein, dass ….
„Die Vorhaut oder Klitorisvorhaut der Frau ist ein zur männlichen Vorhaut homologes Organ (welches deshalb auch Vorhaut genannt wird). Folglich ist die Entfernung der Vorhaut- der Penis- oder der Klitorisvorhaut, biologisch vergleichbar.“ http://goo.gl/FXZuu
Darin sollte man sich auch nicht durch die vehementen Proteste beirren lassen, die gerade von Frauen, welche die männliche Beschneidung befürworten, die „Verstümmelung“ von Mädchen aber als nicht vergleichbar vehement ablehnen,
Dabei ist FGM Typ I sehr wohl mit der männlichen „Verstümmelung“ vergleichbar.
Nur um es gesagt zu haben: ich lehne beides grundsätzlich ab.
Einzige Ausnahme ist die medizinische Indikation, die aber auch nicht als Vorwand missbraucht werden darf.
„Zur Beschneidungsdebatte, deren politisches Fazit jeden Säkularismus in Deutschland wie auch in den daran orientierten arabischen Schwellenländern auf Jahre hinweg kalt gestellt hat, muss man eigentlich nichts mehr schreiben.“
Die deutsche Debatte und ihr Fazit sind also verantwortlich für die Misere in den arabischen Ländern.
Sie sind in einem Verhältnis befindlich. Man diskutierte gleichzeitig darüber, wie stark die Scharia ins Recht des libyschen, des tunesischen und des ägyptischen Staates Eingang erhalten darf. Und dann kommt einer der fortschrittlichsten Staaten und sagt: Bestimmte Religionen haben das Recht auf Genitalverstümmelung ihrer Kinder, Grundsätze des Rechtsstaates gelten nicht, wenn sie aus religiösen Gründen verletzt werden. Auf das Beschneidungsgesetz haben Islamisten klar Bezug genommen, Vertreter der jeweiligen Rechtsschulen haben es als Argument genommen, um FGM zu rehabilitieren. Dass Deutschland ein klein fein Ländelein sei, das niemanden interessiert, ist schon Teil der deutschen Ideologie. Deutschland ist das mächtigste Land Europas und was hier geschieht, hat durchaus Modellcharakter für sich entwickelnde Demokratien.
Auf einer Meta-Ebene war das Beschneidungsgesetz auch paradigmatisch für die Strategie, die Deutschland gegenüber Islamisten einnimmt und einnehmen wird: Appeasement. Das Beschneidungsgesetz ist nicht „ursächlich“, aber in jedem Fall deutlicher Ausdruck und Botschaft einer grundsätzlichen Haltung der westlichen Welt zu Wissenschaft, Säkularisierung und Religion. Man hat schlichtweg nicht den Mut besessen zu sagen: Wissenschaftlich betrachtet ist die Beschneidung Genitalverstümmelung. Allein für das Judentum machen wir eine Ausnahme, weil wir bislang versagt haben im Kampf gegen den Antisemitismus und weil die Debatte im Judentum lebhaft geführt wird. Nein. Man sagt, die Beschneidung ist nicht Genitalverstümmelung, also ist sie legal. Das ist der Skandal, dass Genitalverstümmelung nicht als solche zählen soll, und das wissenschaftlichen Anstrich erhält, weil man zu feige ist, über die politisch-moralischen Probleme, zuallererst die Bekämpfung des Antisemitismus, zu diskutieren.
Your articles are for when it abutlsoely, positively, needs to be understood overnight.
„Man kann darüber streiten, wie vergeblich die Mühe ist, Beiträge in Zeitschriften zu kritisieren, die wie ihre Tante “Bahamas” alles, aber keine Diskussionsforen sind“ […]
Mal davon abgesehen, dass das, bezogen auf die Prodomo, noch nicht einmal stimmt, kann man diesen Satz wohl getrost mit „Buhuu, keiner beachtet mich“ übersetzen. Und nur, weil diese Zeitschriften nicht auf deine Blogbeiträge antworten, heißt das noch lange nicht, dass sie keine Kritische Theorie betreiben. Mann, was bist du nur für ein Wicht…
Kritische Theorie setzte die Diskussion voraus, auch den Konflikt, der in diesen Zeitschriften nicht geführt wird. Da gibt es keine Diskussion mit zeitgenössischen Gegnern, wie in den kritisch-theoretischen Schriften, in denen Adorno Marcuse widerspricht oder Reich und seine Gegner wie Karl Mannheim oder Lazarsfeld ernst nimmt. Präsentiert werden die Beiträge in aller Regel affirmativ, zur Versicherung über Positionen, wissenschaftliche Standards werden fast immer unterboten, man arbeitet an relativ bequemen Skandal-Gegnern sich ab. In einer nicht unerheblichen Zahl von Artikeln wird selektiv gelesen, identitär. Das sind in etwa die allgemeineren Kritikpunkte, gegen politische Invektiven habe ich die Bahamas aber noch stets verteidigt ebenso wie ich einzelne Autoren schätze. Wenn ich mir allerdings die Mühe mache und eine Kritik ausformuliere, was wahrlich selten ist im Like-Hate-Betrieb, und das dann wiederholt ignoriert wird, und die Autoren weiter hartnäckig auf Irrtümern beharren, dann frustriert das, da hast du recht. Das war im Falle von Natascha Wiltings unterirdischer Psychoanalyse des Islam so, die sie vermutlich immer noch in etwa so vorträgt, das war im Zusammenhang mit dieser Raucherdebatte so, von der man nicht einen Funken an Kritik mitnehmen wollte, und das war auch in dieser überaus merkwürdigen Pädophilie-Debatte so, die ganz obskure Blüten trieb, aber völlig ohne Nachhall blieb. Und das war bei Pünjers Artikel so, der danach noch einmal verteidigt wurde, natürlich ohne das Argument aufzugreifen oder konkret auf meine Kritik einzugehen. Das ist keine Arbeit am Begriff. Die wird auch in diesen Organen geleistet, keine Frage, aber die Autoren unterscheiden sich doch sehr. Was Blogs generell betrifft, wurde ja in besagten Medien eine ideologische Abwehr gegen ungedruckte Texte doch ausformuliert was aber offenbar auch nicht ausschließt, dass man sich gern mal bedient.
Was man allerdings für eine eigene psychologische Disposition mit sich bringen muss, um einen „Wicht“ als solchen dann auch noch bezeichnen zu müssen, das kannst du dir ja selbst beantworten.
Also, was die Prodomo betrifft, erinnere ich nur an die Marxismus-Mystizismus-Debatte. Oder an der Auseinandersetzung zwischen Niklaas Machunsky und Thomas Maul und der Gruppe Morgenthau. Oder an die Sartre-Debatte, die sich nun schon über mehrere Ausgaben zieht. Und in dem Beschneidungsartikel, um den es in deinem Beitrag auch geht, kritisiert Machunski ja schon auch die Bahamas, und zwar ziemlich heftig. Dein Vorwurf, dass die Autoren dieser Zeitschrift keine Diskussionen führen und den Konflikt scheuen, ist also schlicht und ergreifend falsch.
Oh, da haben sich ein paar Fehler eingeschlichen. So ist’s richtig:
Also, was die Prodomo betrifft, erinnere ich nur an die Marxismus-Mystizismus-Debatte. Oder an die Auseinandersetzung zwischen Niklaas Machunsky und Thomas Maul und der Gruppe Morgenthau. Oder an die Sartre-Debatte, die sich nun schon über mehrere Ausgaben zieht. Und in dem Beschneidungsartikel, um den es in deinem Beitrag auch geht, kritisiert Machunsky ja schon auch die Bahamas, und zwar ziemlich heftig. Dein Vorwurf, dass die Autoren dieser Zeitschrift keine Diskussionen führen und den Konflikt scheuen würden, ist also schlicht und ergreifend unhaltbar.
Kritik und hinter bereits geleistete Kritik zurückfallen ist doch ein erheblicher Unterschied. Man konnte die Bahamas nicht ganz so ignorieren wie die auf diesem Blog geleistete Arbeit zum Thema, aber man war auch weit davon entfernt, zum Thema wirklich zu arbeiten. Deshalb verbreiten die Autoren aller Beiträge auch nochmal die Mythologie, die die Bahamas auch nicht ganz ausgeräumt hat, nämlich die Ideologie des Säuglings, die ich ja konkret aufgreife. Mit der Verharmlosung der Beschneidung fällt auch der ganze Wust an aufgesetzten Theorieübungen – das immerhin hat die Bahamas schon begriffen und ich sehe nicht, wo da irgendwas von dieser Substanz vorgetragen wurde von den jüngsten Beiträgen.
Es mag sein, dass die Promdomo inzwischen auch an anspruchsvollerer Theoriebildung interessiert ist. Das war nicht immer so, einst wollte man erst von einem unerfahrenen Jungblogger einen Text haben, dann setzte der aber noch zuviel Bibelkunde und Freud voraus: http://nichtidentisches.myblog.de/nichtidentisches/art/4593137/Die-Apotheose-Jostein-Gaarders
Ich schätze diese Organe als Institution, sie sind ein Versuch gesellschaftlicher Praxis, der wenigstens nicht komplett verratzt ist. Ich mag irgendwo auch die Phase 2, auch wenn sie mir einen wirklich dilletantischen Rechtschreibfehler reinkorrigiert hat („es ist ein [!] Anathema“), ich mag die Bahamas, auch wenn sie bisweilen ein ziemliches Kraut strickt. Am konkreten Beispiel wird aber einfach nicht annähernd gearbeitet, und das hat einfach schlimme Folgen, weil es über den tatsächlichen Begriff vom Antisemitismus Bände spricht. Was da zum Beispiel Osten-Sacken in der Prodomo nachgetragen wird, ist einfach grotesk und er ist wirklich jemand, der seine Positionen sehr klar und unmissverständlich ausformuliert hat. Das ist gewolltes Missverständnis, man manipuliert das Material nach dem Ergebnis, das man haben will. Und das ist genau das Gegenteil von Kritischer Theorie.
So, und nun nehme ich das zurück, dass nicht diskutiert werde in diesen Heftchen, es wird diskutiert, meinetwegen, aber dilletantisch und, da hast du recht, nicht auf Grundlage dessen, was ich bereits dazu erarbeitet habe. Unwichtiges Blog hin oder her, man könnte nach zweimal googeln auch auf einen der mittlerweile 8 Texte gestoßen sein, die ich zum Thema veröffentlicht habe.
Die Verharmlosung der frühkindlichen Beschneidung scheint mir auch auf einer hochproblematischen – also eigentlich unhaltbaren, im Grunde erzpositivistischen – Gleichsetzung von Schmerzerfahrung und Schmerzbewusstsein bzw. deren logischer und chronologischer Verkehrung zu beruhen – so als ob ein bestimmtes Maß an Erfahrungssättigung, erworbener Erfahrungsfähigkeit oder Ich-Bildung im Bewusstsein eines Individuums, die es ermöglicht, über erlittenen physischen Schmerz zu reflektieren und diese Reflexion zu artikulieren, Voraussetzung für Schmerzbewusstsein wäre. Das – um es in (genau hier zuständiger) existenzphilosophischer Diktion auszudrücken – Weltwusstsein im Allgemeinen und Schmerzbewusstsein im Speziellen ist aber noch vor jeder Erfahrung einfach da und das Kritierium dafür, es bei einem (menschlichen) Individuum vorauszusetzen kann nicht eine nur extern bestimmbare Entwicklungsstufe oder ein bestimmtes Alter sein. Anders gesagt: Wenn die Würde des Menschen darauf beruht, mehr als ein Bündel medizinisch, soziologisch oder psychologisch analysierbarer Faktoren, also mehr als das, was sich empirisch ausmachen lässt, zu sein, kann man auch an das Neugeborene nicht andere Maßstäbe als an die übrigen Individuen anlegen – wie differenziert auch immer man bei dem Versuch, es doch zu tun, zu argumentieren sich bemüht, er ist ohne Biologismus oder Kulturalismus, allgemein: ohne Willkür nicht zu haben (In präzise diesem Sinn behalten, ob es einem gefällt oder nicht, auch Abtreibungsgegner Recht, indem sie die Zurückweisung dieser Willkür zuspitzen: Sie weigern sich – wenn auch in die unscharfe, propagandistische Formel vom „Schutz ungeborenen Lebens“ gekleidet – die Unterstellung von Bewusstsein „in“ einem Menschen von organischen und sonstigen empirischen, kurz, von qualitativ und quantitativ bestimmbaren Indikatoren abhängig zu machen.)
„[…] qualitativ und quantitativ bestimmbaren Indikatoren […]“
ja, von welchen Indikatoren soll man es denn abhängig machen?
Gar nicht von Indikatoren, sondern von der moralischen, mitunter nur somatisch verspürbaren Vernunft, die einen daran erinnert, dass das hochproblematisch ist, unabhängig von dem, was sich als positiver Datensatz belegen lässt. Betrifft auch die Gehirntod-Debatte. Sich auf Indikatoren zurückzuziehen bestätigt schon die erfolgte Trennung vom Objekt, gaukelt Souveränität vor, bedeutet den Abriss von Reflexion.
Wie komplex der Sachverhalt ist, den Dieter hier anspricht, kann man vielleicht an der Übertragung von Schmerz erörtern, die im Zuge eines postabortiven Traumas stattfindet. Auch wenn der abgetriebene Fötus keinen Schmerz „empfinden“ konnte, so empfindet doch die „Mutter“ eventuell Schmerz oder leidet an einer Leere, es ist also Schmerz entstanden, der nur aus dem Verhältnis von Individuen, aus dem gesellschaftlichen sich begreifen lässt.
Folgendes nicht als Beitrag zur Beschneidungsdebatte sondern zu den Missverständnissen über die Psychoanalyse.
1. Laut Freud befindet sich ein acht Tage alter Säugling noch nicht in der oralen Phase, da er noch keine Objektbeziehung (und auch -wahrnehmung) entwickeln kann. Sein Zustand ist vielmehr der des Autoerotismus, also ein völliges Insich-Ruhen der Libido. Wohlgemerkt handelt es sich dabei nicht um eine Form des Narzissmus, beim dem das Ich das geliebte Objekt darstellt, und mit Libido aktiv besetzt ist. Der autoerotische, objektlose Zustand wird durch Störungen (Hunger, Kälte …), mit denen sich die Außenwelt dem Säugling aufdrängt, gestört und letztlich beendet. Dieses Einbrechen der Außenwelt ist sicherlich traumatisch genug, ob mit oder ohne Beschneidung.
2. Meine frühesten Kindheitserinnerung betreffen Arztbesuche zum Zweck der Impfung und die dabei gespürte Angst. Ich weiß von anderen Kindern, dass sie sich panisch vor Friseurbesuchen fürchteten. Die Kastrationsangst und -lust sind omnipräsent. Ob es tatsächlich zu einer Verletzung des Glieds kommt
ist nicht entscheidend.
3. Freud beschreibt das selbst bestrafende Verhalten vieler Neurotiker. Die tun dies mal um einer, eventuell schlimmeren, Bestrafung, also der Kastration, zuvorzukommen, mal aus Identifikation mit der strafenden Instanz, also dem Über-Ich. Diese Menschen sehen es als Erleichterung, wenn sie tatsächlich ein Unglück ereilt. Das bedeutet sicherlich noch nicht, das die Beschneidung der Kastrationsdrohung die Schärfe nehmen würde.
4. In den Spätwerken von Freud und dann fortgeführt von Anna Freud, wird herausgearbeitet, dass Angst eine Eigenschaft des Ichs ist, nämlich eine Reaktion auf Gefahren aus dem Es oder der (internalisierten) Außenwelt. Von einem Ich kann man bei einem acht Tage alten Säugling sicher noch nicht sprechen.
…und das muntere Relativieren geht weiter.
Dabei sind das doch alles nur Spekulationen:
nach wievielen Tagen/Monaten/Jahren endet denn diese freudsche Spekulation zum ES, und wann kann von einem ICH gesprochen werden, mit dem man nicht mehr ungefragt jeden Unsinn anstellen kann.
Wichtig auch, ist dieser Zeitpunkt verifizierbar, sodass er für alle Menschen Gültigkeit hat?
Fehlende Erinnerungen als Beleg für derartige Spekulationen anzuführen ist einfach zu billig.
Schon sehr seltsam, wenn sogar von Gesetzeshütern den „in vitro“ befruchteten Eizellen ein schützenswerterer Zustand bescheinigt wird als einem acht Tage alten Säugling.
Also da hilft die Psychoanalyse wohl nicht wirklich weiter.
….. sind also all die schweren Traumata, an deren Auslöser die Traumatisierten keine „Erinnerung“ haben. nicht ernst zu nehmen?
Ich finde, auch hier sollte gelten, im Zweifel für das Neugeborene…….
(aktuell: „Spiegel“ ohne Führung, da darf doch munter spekuliert werden)
Danke für den Gedanken zum Autoerotismus. Im Phasenmodell taucht keine „vor“-orale Phase auf, daher habe ich diesen Begriff eher als zeitliche Beschreibung, nicht als qualitative verwendet. Soweit ich weiß, ist Autoerotismus auch im weiteren Verlauf ein Merkmal der oralen Phase, wo wird diese Trennung vorgenommen?
Angst eine Eigenschaft des Ichs… Nun, ob man es Angst nennt oder nicht, eine auf Monate hinweg erhöhte Stresshormonausschüttung, wie sie nach der Säuglingsbeschneidung auftritt, ist zumindest Anzeichen für ein starkes Unwohlbefinden, das sich an dieses Ereignis heftet. Ob man das Angst nennt oder wie das abzugrenzen ist… Der Säugling hat tatsächlich vor so ziemlich gar nichts Angst im Sinne einer Gefahrenanalyse, er fasst an Flammen und stürzt sich zu Tode. Aber eine gewisse Todesangst oder -Wut dürfte wohl schon in dem Schreien beim Hunger liegen und sich auch bei Verwundungen als Hilfeschreien äußern. Gerne dazu mehr Fachliches, mir fehlt momentan die Zeit, das nochmal aufzuarbeiten.
Also in den Abhandlungen zur Sexualtheorie scheint der Autoerotismus tatsächlich die orale Phase zu begleiteten.
In der „Einführung des Narzismus“, die 10 Jahre später erschienen ist, werden die „autoerotischen Triebe“ als „uranfänglich“ beschrieben, bzw. der Autoerotismus als „Frühzustand der Libido“. [Studienausgabe Bd. 3. S. 44].
Einen Beleg für eine distinkte „autoerotische Phase“ kann ich auf die schnelle nicht auftreiben, kann auch sein, dass ich da etwas zu voreilig war. Entscheidend ist aber, dass der Autoerotismus das wesentliche Merkmal der
Libidoorganisation des Neugeborenen ist, und damit die Objektlosigkeit.
Ich denke zum Thema der Angst und Ich hat Anna Freud das meiste beigetragen, oder zumindest die Arbeit ihres Vaters entscheidend weiterentwickelt (siehe „Das Ich und die Abwehrmechanismen“). Sigmund Freud hat erst in den „Neuen Folgen der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ eine substantielle Theorie zur Angst entwickelt. Leider kenne ich von Anna Freud noch recht wenig. Das möchte ich aber schon länger ändern. Sie ist auch eine Expertin zum Thema der Kinderanalyse. Wäre also auf jeden Fall auch zum Problem der Beschneidung zu Rate zu ziehen.
@ForenBoy
Was sind Spekulationen? Die Freud’sche Psychoanalyse? Was ist denn das spekulative daran? Auf Basis solcher pseudo fundamental Kritik lässt sich keine Diskussion führen.
[…]
Freud ist 1939 gestorben, alle seine Spekulationen wären damit bereits beendet. Meintest du dieses mit „nach wievielen Tagen … endet …“.
[…]
Die Beschneidung mag archaisch und grausam sein, sie ist aber kein „Unsinn“.
[…]
Und seit wann gilt der Psychoanalyse „Fehlende Erinnerung als Beleg“ für die Abwesenheit/Nichtexistenz von irgendwas, konkret, der eines abgekränzten, mit Libido besetzten Ich?
[…]
Warum, bei was, hilft die Psychoanalyse „nicht wirklich weiter“?
[…]
Und es sind gerade die Traumata, Erlebnisse und vor allem Phantasien an die man „keine ‚Erinnerung'“ hat, die pathologisch wirken, mithin ernst zu nehmen wären.
[…]
Wo gilt denn noch „im Zweifel für das Neugeborene“. Achso, war eine Metapher, Justiz und so.
„Und es sind gerade die Traumata, Erlebnisse und vor allem Phantasien an die man “keine ‘Erinnerung’” hat, die pathologisch wirken, mithin ernst zu nehmen wären.“
Genau das wollte ich damit sagen, deshalb „im Zweifel für das Neugeborene“.
Aber wem sage ich das?
Wenn ich mir den Fragenkatalog ansehe, kommt mir auch der Gedanke, dass sich auf Basis solcher pseudo fundamentaler Kritik keine Diskussion führen lässt.
Wird in der Psychoanalyse eigentlich irgendwo die Geburt selbst als Trauma behandelt?
Verglichen mit allem was da passiert, Einbruch von Licht , Kälte und Schall, Umstellung des Kreislaufs und natürlich das extremste körperliche Ereignis selbst ist doch der Schmerz bei der Beschneidung fast (!) schon vernachlässigbar. Trotzdem wird es wenig Lobby für ein Verbot der natürlichen Geburt und Kaiserschnittpflicht geben. Letztlich aus irrationalen, traditionellen Gründen.
Otto Rank, ein Schüler Freuds, hat das Trauma der Geburt in seinem gleichnamigen Buch als Ursache sämtlicher Psychopathologien und letztlich als Schlüssel zum Verständnis menschlichen Verhaltens behauptet. Dies wurde von Freud aufs schärfste verneint und führte zum Bruch mit Rank.
Rank zufolge ist menschliches Verhalten von der Sehnsucht nach dem Uterus der Mutter bestimmt. Wie andere Ableger der Psychoanalyse (Jung, Adler …) ist auch Ranks Version ein Versuch, das Sexuelle und den Konflikt aus der Psychoanalyse zu verdrängen. Wobei Verdrängung ruhig im psychoanalytischen Sinn verstanden werden kann. Die nicht zu verleugnende Sehnsucht nach der Mutter wird so zur Sehnsucht nach ihrem Uterus, und damit von allen inzestuösen Tendenzen gereinigt. Der Vater spielt in diesen Theorien überhaupt keine Rolle mehr, was sowohl als Verdrängung als auch als Rache verstanden werden kann.
Welche Blüten die Anwendung Ranks Thesen auf aktuelle Phänomene treiben kann, kann man an diesem Beispiel sehen: http://www.amazon.de/Die-dritte-Haut-Psychoanalyse-Wohnens/dp/3898065529/ref=sr_1_4?ie=UTF8&qid=1366475568&sr=8-4&keywords=psychologie+des+wohnens
Freud selbst, hat in einer Arbeit der Geburt zugesprochen, der Ursprung des Angstaffekts, wohlgemerkt nicht der Angst selber, zu sein. Also der Ursprung dessen, in dem sich die Angst fühlbar macht.
Nachtrag:
Der Vater verliert seine Bedeutung, die Mutter wird entindividualisiert und zur bloßen Rolle der biologischen Trägerin des Uterus (der überall der gleiche ist) erniedrigt.
Vergleiche dazu Kapitel „Rasenbank“ aus der Minima Moralia von T.W. Adorno
Frank/Felix: Anna Freud dazu: „The surgeon’s action, from minor surgery to major operations, is interpreted by the child in terms of his level of instinct development, or in regressive terms. What the experience means in his life, therefore does not depend on the type or seriousness of the operation but on the type and depth of the fantasies aroused by it. If, for example, the child’s fantasies are concerned with his aggression against the mother projected on to her person, the operation is experienced as a retaliatory attack made by the mother on the inside of the child’s body (Melanie Klein); or the operation may be used to represent the child’s sadistic conception of what takes place between the parents in intercourse, with the child in the role of the passive sexual partner; or the operation is experienced as a mutilation, i. e., as punishment for exhibitionistic desires, for aggressive penis envy, above all for masturbatory practices and oedipal jealousies.“ – Und nun der Satz explizit zur Beschneidung: „If the operation is actually carried out on the penis (circumcision, if not carried out shortly after birth) [!], castration fears are aroused whatever the state of libidinal development [!]. In the phallic stage, on the other hand, whatever part of the body is operated on will take over by displacement the role of an injured genital part.7 The actual experience of the operation lends a feeling of reality to the repressed fantasies, thereby multiplying the anxieties connected with them. Apart from the threatening situation in the outer world, this increase in anxiety presents an internal danger which the child’s ego has to face. Where the defense mechanisms available at the time are strong enough to master these anxieties, all is well; where they have to be overstrained to integrate the experience, the child reacts to the operation with neurotic outbreaks; where the ego is unable to cope with the anxiety released, the operation becomes a trauma for the child.“ (http://bit.ly/11lfa0a) – Mehr psychologisches Material in folgender Subsektion der Seite: http://www.cirp.org/library/psych/
Die Einschränkung „if not carried out shortly after birth“ scheint mir hier Franks These zu stützen dahingehend zu stützen, daß eine mögliche „Primär“-Traumatisierung durch die Beschneidung vor dem Hintergrund der Objektlosigkeit diskutiert werden müsste, was wiederum eine „Sekundär“-Traumatisierung durch Ansichtigwerden und Interpretation des beschnittenen Penis seitens des Knaben als evtl. bereits (teil-)verwirklichte Kastration nicht ausschließt.
(- zu stützen)
ForenBoy: Die Psychoanalyse ist neben der positiv-medizinischen (Bildgebung, Endokrinologie usw.) Erforschung nun einmal die einzig taugliche Heuristik. Die positiv-medizinischen Erkenntnisse (Felix hat den erhöhten Cortisolspiegel angesprochen) sagen für sich nun einmal wenig aus und müssen mithin unter Zuhilfenahme eines einigermaßen ausgearbeiteten psychologischen Entwicklungstheorie interpretiert werden. Das ist keine müßige Spekulation, sondern wohl der einzige gangbare Weg. „Im Zweifel…“ – die Phrase, getätigt VOR jeder Diskussion, drückt schon eine gewisse Unlust an der Klärung des Problems aus.
Dem würde ich zustimmen. Allerdings ist unbedingt festzuhalten, dass die Freud’sche Psychoanalyse eben nicht nur eine „taugliche Heuristik“ für die Ergebnisse der durch und durch positivistischen Hirnforschung liefert und auch nicht nur eine von vielen Therapieformen ist. Die Psychoanalyse Freuds liefert den Ansatz zum Verständnis menschlichen Verhaltens und der Entwicklung von Kultur und Gesellschaft. Als solche ist sie ohne Wahrheits- und Universalitätsanspruch nicht zu haben. Dies dürfte ihr heutzutage mindestens genauso viel Widerstände einbringen wie die Sexualverdrängung.
Danke für die Ergänzungen und die Bestätigung meines nur fragmentären Halbwissens über Rank/Freud. Rank wird hier als Wiederentdeckung gefeiert: „Rank erweitert das Freudsche Konzept der „Heilung durch Bewußtwerdung“ durch den Gedanken, daß der Mensch dann „seelisches Heil“ erlangt, wenn er „seine volle Schöpferkraft dem Leben und der Lebensgestaltung zuzuwenden vermag“, wenn er also „das volle Glück der Persönlichkeitsschöpfung“ (Rank) erreicht.“ http://www.buchhandel.de/detailansicht.aspx?isbn=9783898060233
Und das von Psychosozial – man hat diesen Leuten noch den letzten Marx und den kritischen Nerv Freuds ausgetrieben, den Parin zumindest noch intus hatte.
Unabhängig davon gibt es ja zwei Herangehensweisen an die Beschneidung: Zu untersuchen, welche Beeinträchtigungen sich für das Kind in welchem Alter ergeben. Vor der Kommunikation bleiben da eben nur vage Anhaltspunkte wie Grimasse und Cortisol-Spiegel. Und, immer wieder verachtet: Die tatsächlichen Folgen von Pfusch und Fehlen der schützenden Vorhaut am Penis. Es gibt eben Erscheinungen von (teilweisem) Penisverlust durch Nekrosen, Fisteln, Entfernung von zu viel Haut, und umstritten: Todesfälle. Das ist der positiv nachweisbare Teil, der heruntergespielt werden muss insbesondere in der amerikanischen Gesellschaft, in der Ärzte an Beschneidungen operieren lernen.
Dann die Untersuchung, was für Impulse die Beschneidung auf Seiten der Eltern hat. Und die sollten in der Psychoanalyse für Bauchgrimmen sorgen. Diese heiter vollzogene Aggressivität, dieses Abspalten im Namen des Traditionellen, häufig noch nicht einmal aus einem Glauben an ein göttliches Gebot heraus – also wirklich Verletzung des Säuglings oder Kleinkindes aus Konformismus und Wiederholungszwang, verschobenen Aggressionen. Dahinter die Kastrationslust des Vaters (und der Mutter) aufzudecken, dürfte in der Psychoanalyse nicht schwer fallen.
Zur säkularen instant-circumcision, also direkt nach der Geburt, wie in den USA üblich: Die Geburt mag ein Trauma sein, sie ist aber nur bedingt schmerzhaft. Das Zusammendrücken des Schädels im Geburtskanal wird durch die Weichheit der Schädelplatten befördert, der Schmerz der Geburt ist vor allem jener der Mutter, die dann auch genug Endorphine für das Kind mit ausschüttet. Paradoxerweise bedeutet das: Je weniger Schmerzen die Mutter hat (PDA), desto mehr hat das Kind, weil weniger Endorphine. Das Schreien nach Luft ist ein notwendiger Vorgang zur Lungenentfaltung, der Schmerz wohl kaum vergleichbar mit der Beschneidung. Die nun mal, und darauf kommt es wesentlich an, anders als der Geburtsschmerz einfach vollkommen überflüssig ist.
Eine Psychoanalyse der kulturellen Funktion der Beschneidung, sowohl historisch, in Anlehnung an Totem und Tabu, als auch aktuell, z.B. als identitätsstiftende Besonderheit, sollte tatsächlich nicht schwerfallen.
Über den hygenischen Nutzen der Beschneidung gibt es widersprechende Befunde. Dass sie aber als archaisches Ritual heute unnötig ist, ist auch selbstverständlich. Ich denke aber, dass es dennoch gute Argumente dafür gibt, die Beschneidung von männlichen Säuglingen für relativ harmlos zu halten. Maximal würde ich ihr zugestehen, einer von vielen Aspekten einer Ätiologie zu sein. Deshalb habe ich die „Beschneidungsdebatte“ nur am Rande verfolgt.
Die hier vorgebrachte Kritik an den Artikeln in der Bahamas (die anderen kenne ich nicht) ist sicher berechtigt. Zumindest die Artikel in der Bahamas haben aber auch die gesellschaftliche Rezeption der „Debatte“ zum Gegenstand, was hier übersehen wird. Unabhängig davon, was man von der Beschneidung hält und wie man sie versteht, ist diese Rezeption durchaus interessant. Besonders der Aspekt, dass man sofort zwanghaft auf die Juden kam, obwohl es am Anfang nur um die islamische Beschneidungspraxis ging, ist einiger Aufmerksamkeit wert. Jüdische und islamische Beschneidungspraxis unterscheiden sich nämlich durchaus fundamental, sodass selbst auf ein Verbot der einen, nicht zwangsläufig ein Verbot der anderen folgen müsste.
Mich hat das alles irgendwie an die Debatte um den Einsatz deutscher Soldaten im Rahmen der UNFIL UN-Mission nach dem Libanonkrieg 2006 erinnert. Die UNFIL hatte den klaren Auftrag, Waffenlieferungen an die Hisbollah und deren Rückkehr in den Südlibanon zu verhindern. Trotzdem ging es in den deutschen Medien vor allem darum, ob deutsche Soldaten auf Juden schießen dürften.
Man schützt quasi die Juden vor einer Gefahr, die der eigenen projektiven Wahrnehmung entstammt. Das wäre alles halb so schlimm, wenn man die realen Gefahren, für Juden im allgemeinen und für Israel im besonderen, nicht gleichzeitig ignorieren bis vermehren würde.
Bist du derselbe Frank? Merkwürdig. Als hätte ich den Artikel nicht geschrieben, so schreibst du über die Harmlosigkeit der Beschneidung, über die angeblich „fundamentalen Unterschiede“.
Dass du den Artikel geschrieben hast, ist noch kein Beweis dafür, dass die Beschneidung schwerwiegende Schäden verursachst oder das es keine fundamentalen Unterschiede zwischen jüdischer oder islamischer Beschneidung gibt. Aber das weist du sicher selbst.
Ich habe in meinem Beitrag vom 9. April versucht ein paar weitere Argumente oder Ergänzungen dafür zu liefern, dass es 1. tatsächlich einen Unterschied macht, wann man Beschnitten wird und 2. die Beschneidung für den Säugling vielleicht doch nicht so ein außergewöhnlich traumatisches, pathologisches Ereignis ist. Beides habe ich im letzten Kommentar nochmal wiederholt (ohne Argumentation).
Der schwerwiegendste Schaden ist der Verlust der Vorhaut, 60 cm“ Haut, die als Sexualorgan und als Schleimhaut fungierte. Willst du sagen, dass die Beschneidung nicht diesen Verlust verursacht? Ich verweise nochmal auf die anderen Beiträge auf diesem Blog zur Thematik. http://nichtidentisches.wordpress.com/?s=beschneidung
Naja, ich bin es gewohnt, dass man in dieser Debatte selektiv verfährt und dann im Kreis tanzt, von einem Scheinargument zum nächsten.
Wie kommst du denn auf ’60 cm“[sic!]‘? Wir reden hier über Säuglinge, soviel Haut haben die überhaupt nicht. War wohl ein Verschreiber. Über dessen Motivation kannst du dir bei Gelegenheit mal Gedanken machen.
Nein, kein Verschreiber. Die Haut wird dem Säugling entfernt und fehlt dem Erwachsenen um diese Größe herum drastisch variierend: Penisumfang erigiert x Eichellänge plus 1cm x 2 (weil beidseitig Haut ist). Das ist der Verlust – wenn keine weiteren Komplikationen auftreten, die zum Verlust von weiteren Penisteilen führen können.
Mir geht es doch gar nicht darum die Beschneidung zu verteidigen. Und an „Debatten“ beteilige ich mich schon gar nicht. Woran ich in diesem Fall interessiert bin, ist ein Austausch über psychoanalytische Probleme, was auf diesem Blog hin und wieder möglich ist.
Wie sieht es eigentlich mit der Kastrationsangst der Noch-Nicht-Beschnittenen (Kastrierten) aus und deren Übertragung auf die zu schützenden Säuglinge?
Übertragung ist hier im psychoanalytischen Sinne zu verstehen. Also als Übertragung und Wiederholung eines unbewussten, infantilen Konflikts auf bzw. an einer aktuellen Situation. Also das, was die klassische psychoanalytische Therapie erst möglich macht und mit dem Freud die „Übertragungsneurosen“ kennzeichnet.
Kastrationsangst ist nicht an sich irrational. Da es sich um eine Real“kastration“ handelt, ist sie in dem Fall eine Realangst, die allerdings beträchtlich durch individuelle Psychopathologie erweitert werden kann, also durch eigene mitgebrachte Kastrationsängste. Kastrationsangst kann ebensogut abgewehrt (nicht so schlimm, Kinkalitzchen) werden, wie auch übertragen (Kastrationsdrohungen an Beschneidungsgegner, auf Facebook besonders beliebt sind sonderbarerweise Backsteine), wie auch durch Abwertung entschärft (kleines Häutchen, stinkender Atavismus). Kastrationsangst im Beschneidungskomplex wird ja nicht durch die erlittene Kastration aufgehoben, sondern verschärft, die Ambivalenz ins Unerträgliche gesteigert, was Abspaltungen begünstigt. Die derzeit populärste Abspaltung ist die Projektion der aggressiven Bestandteile des Rituals auf Beschneidungsgegner, die man als kastrierende Nazis imaginiert.
Merkwürdig, wie hier zur neuen Bahamas geschwiegen wird, die doch sonst zu Deinen Lieblingsgegnerinnen zählt und du zu neuen Ausgaben wie in diesem Beitrag zu Prodomo und Polemos kurz nach Erscheinen komplette Texte aus der Schublade zauberst. Dabei gäbe es doch diesmal wirklich etwas an dem Gebaren der Redaktion zu bemängeln, wie mit vormaligen Genossen umgesprungen wird, nur weil sich diese wagten, in der Beschneidungsfrage vom Kurs abzuweichen. Ähnlich wie mit „Wien“ soll hier wohl ein Bruch provoziert werden, statt einen Streit um die Sache zu führen. Augenscheinlich im Text von Wertmüller, der sich in persönlichen Angriffen ergeht, die Überschrift von Elsers Text interessiert missdeutet und dessen Kritik des Rechtspositivismus in der Beschneidungsdebatte völlig ignoriert, wie Du übrigens auch. Auch erwähnst du nicht Wertmüllers Unterscheidung zwischen Säuglings- und Knabenbeschneidung in der vorigen Bahamas, wo er in diesem Punkt ganz ähnlich wie Elser argumentierte. Stiftet hier womöglich die gemeinsame Einschätzung der Debatte zwischen Dir und der Bahamas einen Bund, der Dich zur Zurückhaltung von Kritik nötigt, Du gar auf Rehabilitierung seitens der Redaktion Deiner Person hoffst, um die Lücken der rarer werdenden früherem Autoren zu füllen? Ein erster Erfolg in diese Richtung ist durch Deine Erwähnung in einer Fußnote von Osten-Sacken schon zu verbuchen.
Offensichtlich geht es diesem Götz vor allem darum, am Gebahren der Redaktion Bahamas herumzunörgeln (von Kritik möchte ich bei diesem Geraune ausdrücklich nicht sprechen), wofür der Autor dieses Blogs ihm vernünftig klingende Argumente liefern soll. Dass so einer die Unverschämtheit besitzt, anderen zu unterstellen, sie hielten sich mit Kritik zurück, um Seiten in einer Zeitschrift füllen zu dürfen, verwundert nicht.
Elsers „Kritik des Rechtspositivismus“ muss derzeit leider hinter einigen anderen Projekten zurückstehen. Und irgendwo habe ich mich glaube ich durchaus deutlich über diese Knaben-Säuglingsbeschneidung geäußert. War es sogar in diesem Text? Es bleibt wohl ein wirklich gut verstecktes Osterei für gründlichere LeserInnen als Götz. Mit Verlaub, der bequeme in-den-Raum-gesagt-haben-Woller kann ja seine Kritik an den neuesten Texten selbst ausformulieren, anstatt ausgerechnet mir Strafarbeiten für nichtgemachte Hausaufgaben im Thema Beschneidungsstreit zu erteilen.