Besetzt und zugenäht

Eine Eigentümlichkeit kapitalistischer Verhältnisse ist, dass auch ihre Gegner ihren Zwängen nicht entraten können. Als einst Arbeiter begannen, die Maschinen zu zerstören, die ihre einzige Ware, die Arbeitskraft, dem Preisverfall auslieferten, handelten sie vernünftig und wahnsinnig zugleich. Vernünftig, denn sie konnten nicht darauf hoffen, dass ihnen durch die krisenhafte Fortentwicklung auf einer höheren Stufe und mit höheren Bildungsstandards wieder ein Auskommen zugeteilt würde.

Sie durchschauten die Konkurrenz, die ihnen Maschinen bedeuteten, die wussten instinktiv, dass bald die ersten unter ihnen verhungern würden, obwohl die Maschinen doch ein Mehrfaches produzierten und doch ihre Körper und die ihrer Kinder nur in härteren, barbarischeren Schichten zugrunde richteten.

Unvernünftig, weil diese Maschinen ihre Befreiung von der barbarisch harten Körperarbeit bedeuten konnten und ihre kurzfristige Zerstörung mitnichten die Arbeiter befreite.  Heute gelten die Maschinenstürmer als Exponate naiver, verkürzter und lächerlicher Kapitalismuskritik schlechthin, obwohl sie im falschen Ganzen doch auch nicht wesentlich unvernünftiger oder wahnsinniger handelten, als beispielsweise Gewerkschafter, Banker, Schnäppchenjäger oder Hausbesetzer. Sie alle suchen den bestimmten Vorteil und setzten damit nur allgemeine Zwänge fort oder geben sie nach dem Recht des Stärkeren an Schwächere weiter.

Als Prinzen und Gräfinnen den Bauern Englands den Boden unter den Füßen wegbesetzten, weil sie darauf Schafwolle zu produzieren gedachten, kümmerten sie traditionelle Rechtsbestände ebenso wenig wie die Hausbesetzer des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Legitimationsbasis war das Recht des Stärkeren verbrämt mit Modernismus: das Objekt produzierte nicht auf der Höhe der Zeit. Provozierend war die Privatnutzung des Landes für die Subsistenz der Kleinbauern, wo doch die Welt nach Schafwolle verlangte; Skandal für die Hausbesetzer ist der Leerstand noch halbwegs bewohnbaren Materials bei bester Marktlage.

Sie handeln gewieft wie nur ein Immobilienmakler, wenn sie Schwachstellen im Immobilienmarkt aufspüren, ihr eigenes Potential prüfen, das Marktrisiko, den Mietpreis, die Zahl der Mitinvestoren – und dann zum kollektiven Raub des Objektes sich entscheiden. Allein ihre Masse und die Wertlosigkeit des Objekts können in bestimmten ökonomischen, lokalen und gesellschaftlichen Konstellationen bewirken, dass ihr Raub folgenlos bleibt, sogar honoriert wird als ursprüngliche Akkumulation.

Ursprüngliche Akkumulation war von je her rasch vergessen, wenn das Kapital sich bestimmungsgerecht vermehrte. Niemand käme heute noch auf die Idee, Nachfahren von Adel und Klerus zu enteignen. Diebstahl war demnach nie ein eindeutig verurteilter Akt. Als dauernde Aneignung von in Waren geronnener Lebenszeit durch die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ist sie Grundbestand der Produktionsweise. Diese systematische Nähe bürgerlicher Produktionsweise zum Raub, den Diebstahl im Eigentum, ahnen Hausbesetzer und sie versuchen, das Risiko einer Ahndung ihrer Tat ökonomisch zu erhöhen, um ihren Diebstahl nachträglich zu legalisieren – sie haben die geschichtliche Erfahrung verinnerlicht, dass das gehen kann. Entglasungen, Brandstiftungen und Krankenhausrechnungen von Polizisten müssen nur teurer sein als der Gewinn, der aus der Räumung gezogen werden kann.

Hausbesetzungen haben in Krisenzeiten eine rationale Funktion als mehr oder weniger unpolitischer Mundraub – aus der Zeit der Wirtschaftskrise der Weimarer Republik ist das Bild der besetzten Häuser in Berlin bekannt, auf dem Naziflaggen und rote Fahnen nebeneinander wehen. In Deutschland ist dieser Notstand zwar wieder etwas öfter gegeben, wie etwa in der Berliner Eisfabrik, aber von Linken werden oder bleiben Häuser in aller Regel nicht mehr besetzt, weil man sonst erfrieren würde. Ginge es nur um Wohnungsnot oder Antifaschismus, man könnte in Bernburg oder Neustadt/Sachsen jedes dritte Haus für einen Bruchteil der Prozesskosten der jüngsten Ausschreitungen erstehen, es sich in herrlicher Landschaft recht gemütlich machen, und die Nazis quasi schon dort konfrontieren, wo sie wohnen.

Die Glorifizierung des Hausbesetzertums als allgemein subversive Strategie fordert letztlich eben jene Ellenbogenmentalität ein, die am Kapitalverhältnis kritisiert wird. Die hypothetische Situation eines totalen Sieges der Hausbesetzerbewegung impliziert nicht die Aufhebung von Eigentumsverhältnissen, sondern des Rechtsstaates, die Niederlage der Schwächsten, die fortan in den elendesten Außenbezirken und Plattenbauten wohnen müssen, weil die stärksten Autonomen die Bestlagen erobert haben. Die Aneignung von Häusern ist die Affirmation, nicht die Abschaffung des Eigentums, wie es die Besetzer so häufig  behaupten.

Dass sie ihr Stück vom Kuchen, mitunter auch die ganze Bäckerei haben wollen, sei ihnen gegönnt. Aber nur mit einiger Weltfremdheit könnte man die besetzten Häuser als Keimzellen definieren, an denen etwa die vom Marxismus vorgeschlagene aufgeklärte Expropriation der Expropriateure in den Fabriken vorbereitet und geübt wird. Sobald das Eigenheim erobert ist, kommen notwendig die Sorgen, die jeder Bausparer und Ratenzahler und jeder Immobilieninvestor mit seinem Häuschen hat: Wie hält man diesen in den 50-ern oder noch früher verbrochenen Klumpatsch nur instand, wie drückt man die Energiekosten ohne zuviel zu investieren? Wer versetzt die Heizkörper, schafft neue an, isoliert die Heizkörpernischen und Rolladenkästen, setzt neue Fenster ein, isoliert die Fassade oder Innenräume fachgerecht, tauscht uralte Wasser- und Stromleitungen aus, isoliert das Dach oder wenigstens die Geschossdecke, beseitigt die Wärmebrücken, regelt die Brandschutzversicherung und befüllt die neue Scheitbefeuerungsanlage oder den Grundofen? Und wie drückt man aus eigenem Interesse die Löhne der Handwerker, der Ingenieure, die Solarkollektoren entwerfen, der Arbeiter, die die Türklinken aus gebürstetem Edelstahl herstellen?

An solchen Folgekosten scheiterte so mancher Hauskauf und so manche Hausbesetzung. Die Renovierungsbedarf ganzer verelendeter Stadtteile – man denke an die fachbewerkten denkmalgeschützten Studentenslums der Marburger Oberstadt – werden in der Ideologie von der Gentrifizierung einfach veredelt zur Kultur, die Investitionskosten wegretuschiert. Tatsächlich sind die Renovierungskosten eines Hauses in Stadt, Speckgürtel und Land weitgehend identisch, während die Mieten und Grundstückspreise exorbitant divergieren. In beiden Fällen lohnt es sich kaum noch, irgendetwas in Häuser zu investieren, wenn nicht eine lückenlose Vermietung das Risiko zumindest berechenbar macht. Das Zielobjekt zahlloser Rentner und ihre prospektiven jugendlichen Erben ist die Mietwohnung in der westdeutschen Großstadt, eine halbwegs bezahlbare Einheit mit beherrschbaren Folgekosten und bleibendem Gebrauchswert für Familienmitglieder. In der Gentrifizierungsideologie werden solche Marktmechanismen in den üblen Willen und böse Absicht von „Spekulanten“ und „Investoren“ personifiziert. Man will nicht an den Mietkosten spüren müssen, wie wenig man in der Produktionssphäre als Äquivalent für seine in Waren transformierte Lebenszeit erhält, und dafür nimmt man dann Abstriche am Komfort und erhebliche Energiekosten in Kauf. Die Form der Verelendung wird zur Rebellion verklärt.

Hausbesetzer haben in Hamburg die Rote Flora in einer historisch günstigen Situation mit dem Recht des Stärkeren gewonnen. Man gönnt ihnen und den anderen Hausbesetzern der Wendezeit ihre expropriierte Bleibe von Herzen. Kritische Theorie weigert sich, jenen Störungen der verkehrten Ordnung in den Arm zu fallen, die selbst zumindest noch ein Bewusstsein von der Verkehrtheit haben oder deren Eigeninteresse in einem ungleichen Klassenkampf rational nachvollziehbar bleibt. Wenn aus den äußerst beschränkten Möglichkeiten aber eine große Ideologie von Freiräumen, Anti-Gentrifizierung und der „Buntheit“ einer womöglichen Revolution in Naherwartung gemacht wird, verdient das Kritik.

Im Fall der Roten Flora kaufte ein Investor in den 1990-ern für 350.000 DM das damals schon besetzte Haus mit zahlreichen Auflagen von der Stadt, darunter die Verpflichtung, alles beim Alten zu lassen. Warum die damaligen Besetzer vorher den Mietvertrag mit der Stadt platzen ließen, warum sie nicht selbst die Summe zusammentrugen und noch etwas drauflegten, ist Gegenstand von Spekulation. Heute jedenfalls wird der Kaufwert der roten Flora laut Eigentümer zwischen 9-20 Millionen Euro veranschlagt, wohl weitere 9 Millionen haben die Besetzer in mehr als 20 Jahren Dauerbetrieb durch Veranstaltungen, tägliche Kundschaft, Mieten eingenommen oder gespart.

Der von den deutschen Linken vorgeschützte Notstand, die moralische Überlegenheit ist vom bürgerlichen Egoismus durchtränkt wie der des Eigentümers auch. Beide spekulierten auf Risiko, beide versuchen nun, ihren Preis in die Höhe zu treiben. Das in Politik maskierte Vorgehen ist von anderen Orten hinlänglich bekannt, routiniert und erprobt. Einem provozierten Eingreifen der Polizei gegen eine Demonstration folgen provozierte Reaktionen oder umgekehrt. Wer auch immer begonnen hat: dass sich die Autonomen überhaupt darauf berufen, nach 40 Jahren Erfahrung im politischen Kampf in eine Straßenschlacht ohne eigenes Zutun und gegen den eigenen Willen hinein „provoziert“ worden zu sein, zeugt von ihrer Lust an der Provokation. Sie machten sich so berechenbar, wie das die Einsatzleiter für ihre opake Strategie schon voraussetzten.

Unabhängig von den jüngsten Unruhen: Wie an zahllosen linken Institutionen, die einmal ihre Vervielfachung und Ausbreitung bedeuteten und dann in Agonie erstarrten, ist auch in der Roten Flora ein linker Nationalismus entstanden. Historische Parallele ist das Ausbleiben der Weltrevolution und die Zwangslage der Sowjets, sich vorerst als Sozialismus in einem Land zu arrangieren. Horkheimer nannte das in seinem Vortrag mit dem harmlosen Titel „Die Zukunft der Ehe“: „linker und rechter, in Wahrheit identischer Nationalismus“.

Der eigene Kiez, ohne den wähnt man sich heimatlos und verloren, weil echter Klassenkampf ausbleibt. Hier wird eigenes Recht durchgesetzt bis in die intimsten Bereiche des Strafrechtes – Vergewaltiger erhalten Hausverbot, aber keine Anzeige, weil man nicht mit der Polizei kooperieren will. Wer mit nacktem Oberkörper Schlagzeug spielt, wer einer Frau einen Drink zuviel spendiert, wer schlechte Polemik schreibt, wer einmal aufgefallen ist ohne den Schutz des Kollektivs, erhält ebenfalls Hausverbot – Exil von der linken Scholle als schlimmste vorstellbare Einheitsstrafe für wiederum alles vom Schwerverbrechen zu Bagatellen der Devianz. In der neugeschaffenen heilen Welt wird das Wohlfühlen zum obersten Prinzip gemacht, wo man einst notorisch unzufrieden sein wollte und in den Räumen lediglich Basen für die weitere Ausbreitung sah. Solche Verhältnisse reproduzieren Kulturindustrie in den linken Räumen: Fun regiert und Miesepeterei oder was über verordnete, zuschauergerechte prüde Sexyness hinausgeht wird ausgeschlossen. Wenn es gar zu langweilig wird, hängt man Schilder auf, dass hier theoretisch dauernd „sexuelle Übergriffe“ (und dazu zählt dann so ziemlich alles, was unter […] definiert sein will) passieren könnten – wohliger Grusel der sexuell Frustrierten über Verbotenes, Tabuiertes, der den Morden und Vergewaltigungen im Feierabendkrimi der Berufstätigen gleichsieht.

Anstelle von Refugien von alternativen Praktiken und Horten der Liberalität entstanden linke Assessment-Center höherer Ordnung, in denen die gewinnen, die erfolgreich durch alle Plena sich quälen und Zwänge und Redeverbote am erfolgreichsten internalisierten.

Zwei Textsammlungen kommen zu ganz ähnlichen Schlüssen und seien ausdrücklich empfohlen:

http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=sw&dig=2008/09/27/a0051&cHash=8c1e824b3c

„So sah das zynischerweise auch der damalige Berliner Kripoleiter Schenk: „Es ist doch prima, wenn die jungen Leute sich dabei handwerklich in sinnvoller Weise betätigen: Da lernen die was – und kommen nicht auf dumme Gedanken.““

http://www.squatter.w3brigade.de/content/geschichte/die-hausbesetzerbewegung-ost-berlin-teil1

„Politniks aus Autono­men und Antiimpkreisen profilierten sich großmäulig und propagierten den Revolutionä­ren Häuserkampf gegen den Imperialismus.“