Neoliberale Ideologie verkleidet sich gern als Klassenkampf von unten. So war es eine Zeitlang schick, Studiengebühren für sozial zu erklären, weil die Reichen von kostenfreier Bildung am meisten profitieren würden. Diese Ideologie abzuwehren, hat zehntausende streikende Studierende mehrere Semester gekostet.
Aktuell wollen ausgerechnet Stimmen aus SPD und von links kostenpflichtige Corona-Tests für Urlauber aus Risikogebieten. Peter Tschentscher findet es vertretbar, „wenn es die bezahlen, die ganz bewusst diese Reisen in Risikogebiete machen. Man kann auch woanders Urlaub machen.“
Lars Klingbeil sieht ein „Gerechtigkeitsproblem damit, dass man in die Risikogebiete fährt und dann auch noch den Test vom Staat bezahlt bekommt.“
Die einfache Gleichung, dass Tests eine Ausbreitung von Herden verhindern, und daher vor allen politischen Debatten von Staats wegen durchzuführen sind, ist offenbar nicht ins Bewusstsein gerückt. Hier wird ganz bewusst ein verquerer klassenkämpferischer Impuls auf eine kleine Gruppe kanalisiert, dadurch vermutlich domestiziert und dann aber auch noch in den Dienst neoliberaler Ideologie gestellt mit ihrem Mantra: Gesundheitssystem, Bildung und andere lästigen Staatsleistungen wie Sozialhilfe seien ungerecht, weil sie die einfachen arbeitenden Leute benachteiligen.
Eine einzige Frage stellt sich bei den Coronatests: Ist es eine notwendige Aufgabe des Gesundheitssystems Pandemien zu verhindern oder einzudämmen? Ja, natürlich ist sie das, Seuchenbekämpfung ist sogar die historisch vermutlich allererste Aufgabe eines Staates, und leider diskutieren wir in Deutschland im Monat acht der Pandemie noch immer über die Finanzierbarkeit von Tests!
Fordern, dass irgendeine Leistung des Gesundheitssystems privatisiert werden solle, also Rückkehrer zahlen müssten, ist zunächst einmal kein Klassenkampf, sondern die Forderung nach privatisierter Medizin. Die Reichen können zahlen – gemeint ist: der Staat soll nicht dafür zuständig sein, Gesundheitsvorsorge zu tragen.
Es mischt sich aber noch ein üblerer Ton hinein. Tatsächlich machen die meisten Besucher der Risikogebiete nicht aus purem Spaß dort Urlaub. Rückkehrere kommen derzeit vor allem aus Rumänien, Bulgarien, dem Kosovo und aus der Türkei.
Sie kehren von Saisonarbeit in Deutschland zurück, besuchen sterbende oder alte Verwandte, nutzen ihren Urlaub, um den Olivenhain in Schuss zu bringen, feiern Familienfeiern, Hochzeiten, Taufen, leider auch Beschneidungen und verhalten sich aber insgesamt eher wie familiensolidarische, kosmopolitische Proletarier*innen denn als elitäre Kreuzfahrer oder Luxusurlauber, die sich Isolation leisten können.
Es sind, kurzum, Albaner*innen, Roma, Türk*innen, die Diskussionen um kostenpflichtige Rückkehrertests treffen werden.
Es ist eigentlich Regierungsversagen, dass noch keine Massentests durchgeführt werden und dass tatsächlich inmitten des Wiederanschwellens der Infektionsraten erneut um Basisbanalitäten wie ordentlich ausgestattete Gesundheitsämter und die Verfügbarkeit von Tests diskutiert wird und nicht darüber, wie man Ländern in Afrika oder Südamerika helfen kann. Tunlichst gebotene Reichensteuern konnten lange genug unabhängig von Corona verhandelt werden. Dass auch diese nicht längst da sind, dass die Einkommensschere immer weiter auseinanderklafft, dass die oberen 10 % in Deutschland weiter in unglaublichem Tempo Reichtum und Macht akkumulieren, Corona hin oder her, dass bald halb Deutschland SUV fährt, während die Wälder im August schon aussehen wie im Herbst, das ist ebenfalls Ausdruck des allgemeinen Staatsversagens, das bürgerliche Ideologie letztlich im Sinn hat: Das Auseinanderdriften des wie auch immer widersprüchlichen ideellen Gesamtkapitalisten unter dem ideologischen Druck der konkreten bürgerlich egoistischen Einzelkapitalien. Das Gesundheitssystem hat diese Tendenz für die ganze Gesellschaft vorgezeigt. Privatisierung führt in konkurrierende Konzerne, die Arbeit an Subunternehmer auslagern, intensivieren, rationalisieren, Kosten vergesellschaften und Gewinne privatisieren.
Wer darunter leiden wird, sind die Armen, nicht die Reichen.
Staatliche Corona-Tests sind das Mindeste, was man von einem halbwegs funktionsfähigen Staat erwarten kann. Wenn ein Staat das inmitten des exorbitanten Reichtums der deutschen Gesellschaft nicht leisten kann, ist er ein failed state.