Gewiß! Ist die Zensur einmal eine Notwendigkeit, so ist die freimütige, die liberale Zensur noch notwendiger. (Karl Marx, MEW 1: 2)
Eine eigentümliche Ironie der Geschichte zwang das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED die Marx-Engels-Werke mit einem Artikel von Karl Marx zu beginnen, der den Titel trug: „Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion.“
Das Vorwort der KpdSU fühlte sich zum Verweis darauf verpflichtet, dass es sich hier um die „reaktionäre preußische Zensur“ handelte. (MEW 1: XXVI) Die Leserschaft meiner noch mit eingeklebten Porträtzeichnungen von Marx/Engels versehenen Ausgabe von 1958 sollte nicht die Errungenschaft der revolutionären Zensur der Sowjetunion mit der überkommenen, „reaktionären“ der Preußen verwechseln. Nicht also aus frivoler, bourgeoiser Libertinage oder reaktionärem Preußentum blieben daher die Marx-Engels-Werke unverändert, sondern weil sie ein auserlesenes Kulturgut von nationalem Interesse seien:
„Der Marxismus ist das kostbarste Kulturgut des deutschen Volkes. Wir sind die rechtmäßigen Erben dieses großen Vermächtnisses; daraus erwächst uns die hohe Pflicht, es sorgsam zu bewahren und rein und unverfälscht unserem Volk zu vermitteln, um es zu befähigen, rasch auf dem Weg vorwärtszuschreiten, den ihm seine größten Söhne gewiesen haben.“ (MEW 1: IX)
Alles, was unterhalb dieser Heiligkeit sich anzusiedeln erfrecht hatte, konnte dagegen mit der gleichen hohen Pflicht verwässert, überwacht, zensiert, vergulagt und weggemordet werden.
Die offene Barbarei der Zensur, die in der McCarthy-Ära selbst die USA infiziert hatte, ist immerhin in den demokratischen Staaten weitgehend Geschichte. Ihr Fortleben in der Demokratie als demokratische, liberale Zensur, überhaupt die Idee ihrer Sinnhaftigkeit, ihres möglichen Gutseins in bestimmten Fällen, bereitet den Boden für radikalere Kastrationen gewohnter Freiheiten wie sie aktuell in einem sich faschisierenden Ungarn stattfinden. Das Einschleichen des Gedankens, die Zensur könnte etwas leisten, was eine freie Presse und die damit wünschenswerterweise auch zu assoziierenden freien Geister nicht zu leisten in der Lage wäre, bedeutet schon die gemütliche Zensur der Kränkung über die eigene Unfähigkeit, etwas Ausformuliertes beizutragen. „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“ – diese anmaßende Lösung des Theorie-Praxis-Problems wurde zum bequemen Argument, sich aufs Faustrecht zurückzuziehen, dem man immer nur solange huldigt, als man der Stärkere zu sein glaubt.
Der Film „Das Tal der Wölfe – Palästina“ sollte zunächst indiziert werden und läuft nun doch mit dem FSK 18 in vielen Kinos an. Ein Film, der Judenvernichtung propagiert und Geschichte fälscht, genießt jetzt sowohl die Atmosphäre des Verruchten, Subversiven als auch den Bonus der weitgehenden Unbedenklichkeitsprüfung. Eine derartige Aufwertung konterkariert das Werbeverbot, das bei indizierten Filmen stattfindet und „Tal der Wölfe-Palästina“ zugedacht war. Konsumiert und verbreitet werden Filme heute ohnehin durch das Internet. Immerhin wurde durch die Freigabe eine kritische Lektüre des Filmes vereinfacht. Und die ist für alle unabdingbar, die sich eine eigene Meinung machen wollen und dies auch anderen Menschen zutrauen oder die einfach mal über einen schlechten Film lachen wollen.
Der paternalistische Ansatz, nach dem intellektuell oder moralisch nicht gereifte Menschen vor der Ansteckung mit gröbstem Unfug geschützt werden müssten, beschädigt die Autonomie des Individuums. An gerade jenem Unfug, seiner Teilhabe daran und der Reflexion darauf bildet sie sich erst heraus. Die Menschen müssen einer Flut an Unfug standhalten und der Unfug ist systemimmanent. Sie sollen die digitalen Kameras kaufen, die verschwommene, verpixelte, rotäugige Karikaturen einer Fotografie liefern, sie sollen die Messer kaufen, die vom Anschauen stumpf werden, die Wasserkocher, die Wasser lassen, die Wundermittel für die Wunden, die Plakatgesichter der Parteien, aber sie sollen auf keinen Fall einer bösartigen politischen Propaganda ausgesetzt werden. Im wahrscheinlich sogar falschen Glauben an die mediologische Dressur fürchtet man sich vor ihr logischerweise dort, wo sie der Kontrolle enträt. Den Kontrollverlust projiziert man auf die vermeintlich Schutzlosen – die dann sämtlich in der Imago des potentiellen Amokläufers oder Selbstmordattentäters aufgehen. Man will bei der Indizierung „die Jugend“ schützen, als gäbe es nicht genügend gewitzte Jugendliche, die in Sachen Medienkompetenz die gutväterliche Generation weit hinter sich gelassen haben und als wären die regelmäßigen antisemitischen Demonstrationen in Deutschland Kinderkreuzzüge.
Unter dem Etikett des Jugendschutzes klopfen auch Forderungen nach einer Zensur des Internets an die Türe. Zwei Schülerinnen werden von einem staatlich finanzierten und parteilich kontrollierten Nachrichtendienst interviewt und bezeugen, auf einem Forum im Internet anonym beschimpft worden zu sein. Man sei doch sonst harmonisch unterwegs an der Schule, das schlimmste sei, dass man nicht wisse, wer da geschrieben habe. Den Zwang zur Harmonie mit solchen verdrückten, sadistischen Aggressionen zusammenzudenken ist in Deutschland fremd. Ähnlich verdrückt wird der alles „erklärende“ Kommentar eingeflochten: „Deutschland hat keine Internetzensur“. Schlimmer noch: Die Läster-Seiten seien in den USA angemeldet. Was für fürchterbare Blüten die von der Leine gelassene Meinungsfreiheit dort zu treiben weiß, ist dem notorisch adstringierten deutschen Volksmund allgemein bekannt. Man redet dort sogar schlecht über fremde Staatsoberhäupter. In Deutschland verkneift man sich den Ärger oder die Lust und sprüht nachts auf eine Hauswand: „XY ist eine Nutte/bläst jedem/ist schwul!“ liest man an jedem Bushaltehäuschen und die sind beileibe nicht in den USA angemeldet. Die Mentalität gleicht sich den Klotüren an. Hygiene – das heißt Zensur, Verbot und Abschiebung – scheint als einzige Maßnahme denkbar. Die Alternative, die Immunisierung durch Aufklärung, ist selbst den Aufklärern bisweilen zu anstrengend – sie lassen sich von der eigenen Ohnmacht dumm machen.
Aufklärung ist in Deutschland in der Tat schwach auf der Brust – das macht allerdings die Zensur von „Tal der Wölfe-Palästina“ um so fragwürdiger. Warum soll ein Film verboten werden, mit dessen Kernaussage weite Teile der Parteienlandschaft und Journalisten d’accord gehen? Geschichtsfälschung hat sich durchgesetzt: Der Angriff der militanten Gruppe an Bord der Mavi Marmara auf Israel wird durchweg als Angriff Israels auf ein harmloses Schiff bezeichnet. Dass der Filmheld das Existenzrecht Israels mit einem flotten Spruch negiert und ihnen ein Land unter der Erde als versprochenes ankündigt trifft sich mit dem Tenor jener Linken, die Israel sein eigentümliches Beharren auf Nationalstaatlichkeit als Romantizismus in Zeiten des so universalen Völkerrechts vorhalten.
Ein schlechter, antisemitischer Film entfaltet keine bombastische Wirkung aufgrund irgendwelcher magischer unbewusster Bild-Inhalt-Codes, sondern weil jenseits der deutschen und europäischen Borniertheit in Bezug auf Israel beachtliche Teile der türkischen Meinung inklusive der AKP bereits Antisemiten sind und diesen Film produziert haben. Hätte er eine so gigantische Wirkung, es wäre ein leichtes, nach dem gleichen Prinzip einen ähnlich wirksamen Film gegen den Antisemitismus und den Antiamerikanismus zu produzieren. Bis dahin bleibt als einziges, auf die Parodien auf Youtube zu warten.
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Ich vermute, dass Zensurversuche gegen allzu offensichtlich rechtradikale oder antisemitische Medienerzeugnisse in Deutschland nicht rein paternalistisch motiviert sind. Da ist wahrscheinlich auch ein Moment von nationaler Imagepflege dabei — daher die Aufregung von irgendwelchen Abgeordneten über den „Tal der Wölfe“ Kinostart *augerechnet* am 27. Januar.
Und natürlich lässt Empörung über türkischen Brachialantisemitismus die eigene, manierliche Israelkritik umso mehr glänzen.
Thy für den Link, Linde und totally agree slakenbergius!