Rechtsantideutsch – Zur Genese eines Phänomens

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Die „antideutsche“ Haltung war zunächst eine recht diffuse Gegnerschaft zum wiedervereinigten Deutschland. Bis heute finden sich im individuellen Sediment Fossilien dieser Zeit:
Der Hass auf die Revolution gegen das totalitäre DDR-Regime, die in einer Fehllektüre der bürgerlichen Parole „Wir sind das Volk“ als „völkische“ identifiziert wird; die Glorifizierung der roten Armee als antifaschistische Institution, deren nicht erst unter Stalin erzwungene faschistische Prägung zugunsten des Rauschs der Fahne ausgeblendet wurde; eine generalisierende Fehlinterpretation von postkommunistischer Weltpolitik als Ausgreifen eines wiedererwachten deutschen Nationalsozialismus, darunter zuvörderst die Theorie, die den Jugoslawienkrieg ausschließlich als deutsche Verschwörung gegen die letzte sozialistische Macht in Europa deutete. Das sind jeweils Erbschaften antiimperialistischer Welterklärung durch Reduktionismus und Identitätspolitik, gegen die kritische Theorie sich schon in den 1930ern imprägnierte.

Diese Ursprünge führten dazu, dass unter anderem Jürgen Elsässer Mitherausgeber der Zeitschrift „Bahamas“ wurde, dem Organ jener Minderheitsfraktion der Gruppe K, die nicht mit der PDS zusammengehen wollte. Unter dem Einfluß der „Initiative sozialistisches Forum“ in Freiburg schärfte die Zeitschrift ihr Profil und rückte den israelbezogenen Antisemitismus ins Zentrum. Das provozierte polemische, hasserfüllte Reaktionen aus der traditionellen Linken, für die „antideutsch“ zunächst zum Synonym von Verrätertum wurde, bei nicht wenigen aber seriell zu Reaktionsbildungen und euphorischer Identifikation mit dem Label führte. Die Zeitschrift Bahamas warb noch in dem Maße um die Linke, wie sie diese kritisierte, die „Antideutschen“ waren in aller Regel ehemalige Linke und Marxisten.

Inhaltlich häufig von präziser Korrektheit, war die Polemik vieler Bahamas-Texte früh von jenem enttäuschten, abgewehrten Begehren geprägt, in dem Psychoanalyse die Intensität des Ekels begründet sieht. Es ist ein Begehren, das sich nur in der Verachtung artikulieren kann und letztlich sein Objekt zerstören muss, wo es sich der durch Schmähungen vorgetragenen „Werbung“ verweigert.

„Fangen wir doch einfach mal mit den Äußerlichkeiten an“ war die Parole von Justus Wertmüller nach den Demonstrationen von Heiligendamm 2007. Der Kommentar des Blogs „Psychosputnik“ greift diese „Äußerlichkeiten“ in einer Fußnote begeistert auf: „Mit diesem einfachen Wort rekurriert Wertmüller auf Adornos geniale Entdeckung, daß ohne Berücksichtigung der ästhetischen Empfindung das ganze Denken des Mensch blind wie frischgeborene Kätzchen ist.“

Einem geschichtsphilosophisch geschulten Herangehen hätte der Rekurs auf die frühneuzeitliche Ästhetik, in der die Konkurrenten Pietismus und Aufklärung zunächst von Form auf Inhalt, vom schönen Äußeren auf den schönen Geist und letztlich von der schwarzen Hautfarbe auf den fehlenden Intellekt schließen wollten, (wie George L. Mosse in seinem Standardwerk zur Geschichte des Rassismus nachweist) bekannt sein müssen. In der Szene wurde solche Skepsis von einer populären Faszination mit der angeblichen Rückbezüglichkeit von „Form und Inhalt“ überlagert. Daran schließt Wertmüller mit seinem „rant“ an:

„Immer noch trägt man diese schrecklichen Dreadlock-Wursthaare, immer noch ist man auf dem veganen Trip, immer noch ist man auf dem Kreativtrip, obwohl man zu nichts in der Lage ist, weder in der Kunst noch im Schreiben noch im Reden noch in der Beziehung. Immer noch hält man sich für etwas Besseres, obwohl aus einem das psychische und physische Elend grinst. So gesehen ist natürlich die radikale Linke, also alles jenes, was sich autonom, antifa, nehmen wir mal diese beiden Dinge oder ExK-Grüppler oder was es da noch so gibt, die Antirassisten und Antisexisten, natürlich nicht zu vergessen, die von ganz besonderer Hässlichkeit sind, etwas Abstoßendes und schon deswegen eigentlich ein Personenkreis, zu dem man auf Abstand gehen sollte.“

Das „physische Elend“ Anderer zu verurteilen war Wertmüller und nicht wenigen seiner Anhänger vor fast zehn Jahren probates Mittel, das sich nicht selbst der Identitätspolitik („ich sehe gut aus, also bin ich gut“) verdächtig wurde. Auf dem Titelbild der Ausgabe 55 (2008) fanden sich dann die „hässlichen Elendsgestalten“ mit Überbiss karikiert. Solche Ästhetik bildete einen Meilenstein auf dem Weg dahin, das bisherige Rekrutierungsfeld nicht mehr zu kritisieren, sondern von sich zu werfen.

An die Stelle dessen, was Psychoanalyse als reife Reaktion auf Verlust und Impotenz vorschlägt – Trauer – traten Wut, Hohn und Spott. Im Gegensatz zur feministischen Sache, die trotz der Gegnerschaft zum „Antisexismus“ noch lange von Autoren der Bahamas vertreten wurde, haben vor allem Clemens Nachtmann und Sören Pünjer den Antirassismus nicht nur als Bewegung sondern auch als Gegenstand gründlich entsorgt und damit den weiteren Wegverlauf vorbereitet.

„Seien wir doch ehrlich, Rassismus, der wirklich noch Rassismus genannt werden kann, also nicht die Verrücktheiten der Antira-Szene, die jede staatliche Regulierung von Zuwanderung als Rassismus geißelt, oder jeden, der das Wort Neger in den Mund nimmt, standrechtlich zusammenschlagen will, hat doch nicht wirklich eine Zukunft. Die Zukunft gehört der Ideologie des Antirassismus als menschenverachtendem globalem Massenbewußtsein, also als Fusion aus Multikulturalismus und Ethnopluralismus, zusammengehalten von einem politisch korrekten Antisemitismus.“ (Sören Pünjer)

Das knüpfte an eine ältere Tradition an. Bereits 1994 hielt Manfred Dahlmann einem durch und durch grotesken und in der „konkret“ sowohl abgedruckten als auch gründlichst kritisierten Referat von Christoph Türcke zugute, er habe der zu Unrecht empörten Linken lediglich „die Botschaft überbracht“,  dass wenn „der deutsche Staat sie mal vor die Alternative stellen sollte, entweder die ‚Flüchtlingsfrage‘ mit ihm gemeinsam zu ‚lösen‘ oder die soziale Sicherung entzogen zu bekommen, ihre Entscheidung eindeutig sein wird.“ Gemeint ist, dass die Linke sich wie der vernünftige Staat, den Türcke unterstellte, für die „soziale Sicherung“ und entscheiden würde, die durch die Jugoslawienflüchtlinge damals bedroht schien. Bei Pünjer wird im gleichen Duktus aus der humanistischen Kritik der immer weiter eskalierenden Dezimierung von Flüchtlingen durch Hürden, die sie in den Kriegsgebieten halten sollen, schon ein „Geißeln“ „jeder staatlicher Regulierung von Zuwanderung“.

Das ist der Jargon der Rechten, die aus der verzweifelten Flucht von etwa 50 Millionen Menschen weltweit eine gemütliche „Zuwanderung“ zu machen sucht, die dann nur „reguliert“ würde. Dass dieser „Regulierung“ zehntausende von Menschen zum Opfer fallen, die verdursten oder ertrinken, weitere Millionen zwangsweise in elenden Lagern gehaltene Flüchtlinge systematisch der Ausbeutung durch Organhandel, Zwangsehen, Zwangsprostitution und Sklaverei zugeführt werden, kann stets mit der bürgerlich-egoistischen Rationalität des Notstandes legitimiert werden: alles Andere seien Hirngespinste, Träumereien, Selbstschädigung und mancher auf der antideutschen Straße wusste bereits, dass „no border“ eigentlich nichts anderes sei als der „Antinationalismus“ des Islamischen Staates.

Wie gründlich die Redaktion Bahamas mit dem Humanismus abgeschlossen hat, und wie tief der Reflexionsausfall reichte, zeigte das Editorial der Ausgabe 73.

„Deutschland ist das Land der Durchhalter. Es brach 1914 einen fürchterlichen Krieg vom Zaun, den es, obwohl er schon nach drei Monaten verloren war, weitere vier Jahre fortsetzte, nur um sich nach der Niederlage als moralischer Sieger zu präsentieren und gegenüber dem Rest der Welt durchaus aggressiv den Beleidigten zu geben. Eine verwandte Aggressivität spricht seit dem Frühjahr 2016, als nicht mehr zu bestreiten war, dass sie ihren Kampf um die Hegemonie in Europa verloren hatten, aus den Deutschen. Aus Geiz und Gier, die exemplarisch in der Griechenland-Politik zum Ausdruck kommen, genauso wie aus dem narzisstischen Bedürfnis heraus, die anderen auch in moralischer Hinsicht ins Hintertreffen zu bringen, wofür die vollends wahnsinnige Flüchtlingspolitik seit dem Frühjahr 2015 steht, ist das Projekt Europäische Union maßgeblich von Deutschland zum Scheitern gebracht worden. Seither wird wieder durchgehalten.“

Die Aufnahme von einer Million Flüchtlinge wird hier mit dem ersten Weltkrieg gleichgesetzt (vor dem zweiten als Parallele schreckte man vorerst noch zurück).

„Wie vor hundert Jahren ist es die Intelligenz, die die so dringend gebotene Selbstkritik empört zurückweist und stattdessen zum Entlastungsangriff auf inzwischen alle europäischen Nationen bläst. Man sieht sich einer bösen Welt ausgesetzt, die von nationalistischen Kleingeistern, rechtspopulistischen, gar faschistischen Unmenschen, feigen und ehrlosen Umfallern und interventionistischen Bellizisten bevölkert zu sein scheint.“

Gegen diesen „Schein“ sollte man sich die Realität vergegenwärtigen: In Ungarn ist die antisemitische Nazipartei „Jobbik“ seit 2010 drittstärkste und seit 2014 zweitstärkste Kraft. In Österreich ist die FPÖ wieder Regierungspartei. In Deutschland hat die AFD alles zwischen rechtem Flügel der CDU/CSU und linkem Flügel der NPD abgeräumt. In Frankreich agitiert der Front National gegen Europa und Flüchtlinge und zwischen Polen und Großbritannien will man die „Islamisierung Europas“ stoppen, während die reale Islamisierung der Türkei, Indonesiens, Bangladeschs, Malaysias und des subsaharischen Afrikas von den jeweiligen Rechten als ethnopluralistische Kuriosität ignoriert wird, wo die Parteien nicht gleich mit islamistischen Regimes kollaborieren.

Den Gegner sieht die Redaktion Bahamas aber in den „guten Deutschen“, deren „kollekive Wiederholungstat“ darin besteht, Flüchtlinge aufzunehmen.

„Den brutalen Überlegenheitsdünkel und die unerträgliche Selbstgerechtigkeit der deutschen Intelligenz hat kürzlich der Schriftsteller Pascal Bruckner in Gestalt des ihn interviewenden Journalisten Georg Blume zu spüren bekommen. In einem Interview das am 14.4.2016 in der Zeit erschienen ist. Im Ergebnis geriet die intendierte Entlarvung des prinzipienlosen französischen „Parade-Intellektuellen“ durch einen Vertreter der „guten Deutschen“ zum Protokoll über einen kollektiven Wiederholungstäter, dessen Hang zu Sonderwegen Europa einmal mehr ängstigt.“

Dieses Interview wird im Editorial 73 der „Bahamas“ in langen Auszügen abgedruckt. Bruckners Argumentation ist im Wesentlichen die der neuen Rechten: Aus Vernunft hätte man den Millionen Flüchtlingen aus Syrien den Weg nach Saudi-Arabien zeigen sollen, den nach Europa aber versperren, weil Europa keine Schuld am Syrienkrieg trage. Bruckner beklagt:

„Man kann doch nicht von einem Tag auf den anderen, im Hauruckverfahren, eine Million Leute, die nur Diktatur, Krieg, Folter und Bomben kennen und aus einer Kultur kommen, in der die Frau ein zweitrangiges Wesen ist, in eine freie Gesellschaft verpflanzen.“

Auch hier wird wieder aus der Flucht eine Aktivität der Europäer, ein „Verpflanzen“. Die verräterische   Floskel verniedlicht die mörderische Flucht zu einem gärtnerisch-fürsorglichen Akt. Kritisiert wird nicht, dass CDU und SPD zu wenige, sondern dass sie zu viele Flüchtlinge aufgenommen hätten. Das wird von Bruckner psychologisiert:

„Ebenso uneingeschränkt und impulsiv war die Reaktion der Kanzlerin auf die Flüchtlinge: eine Million willkommen heißen, jetzt, sofort! Ohne Absprache mit uns anderen Europäern. Man begegnete in Merkel einem Narzissmus des Mitgefühls. Wie jeder Narzissmus war auch dieser grenzenlos und ein Alleingang.“

Hier steht alles schief. Merkels Weigerung, auf die Flüchtlinge schießen zu lassen, wird als Mitgefühl fehlverstanden, dieses dann pathologisiert[1] und nicht als zivilisatorischer Mindeststandard gewürdigt, der freilich wenige Wochen später mit Stacheldraht in Ungarn, auf dem Balkan und mit der Mauer in der Türkei unterlaufen wurde. Die nach wenigen Wochen beendete Phase entstand aus dem Problem, dass unter anderem Italien sich weigerte, die ökonomisch und humanitär aufwändige Drecksarbeit für Deutschlands repressive Flüchtlingspolitik zu erledigen und Flüchtlinge ohne Registrierung nach Deutschland weiterreisen ließ. Schengen stand auf dem Spiel und damit ein Instrument, mit dem vor allem Deutschland eine repressive Flüchtlingspolitik auf Kosten der Anrainerstaaten lösen wollte. Es ist schlichtweg eine Verdrehung, aus der Aufnahme von Flüchtlingen ein „deutsches Projekt“ zu machen. Seit den Brandanschlägen und Pogromen der 1990er war die deutsche Maxime, Europa zu nutzen um Flüchtlinge aus Deutschland herauszuhalten. Das kurze Intermezzo 2015 war ein komplexes Zusammenspiel von Syrienkrieg, Europapolitik und internationaler Entrüstung über die Behandlung von Flüchtlingen, der sich Deutschland zuletzt nicht mehr entgegenstellen konnte. Auch 70% der polnischen Bevölkerung waren damals für die Aufnahme von mehr Flüchtlingen.

Die Redaktion Bahamas bekundet hingegen:

 

„Die Redaktion Bahamas, die Bruckners Argumente vorbehaltlos teilt, befindet sich in der ungemütlichen Situation, dass Herr und Frau Durchhalter in deutschen Redaktionen, Studentenvertretungen und selbst sich israelsolidarisch nennenden Initiativen auf jeden kritischen Hinweis über deutsche Alleingänge wie die Flüchtlings- und Türkeipolitik der Regierung Merkel nicht nur mit Diffamierungen reagieren, auf die wir schon zu antworten wissen.“

Mit „Durchhalter“ wird explizit wieder die Parallele zwischen 1. und 2. WK und Flüchtlingsaufnahme gezogen und so der Notstand legitimiert, in dem man auf Realitätsprüfungen verzichten kann:

„Merkel-Deutschland, das man sich als ein nicht nur in Leipzig tätiges „Netzwerk gegen Islamophobie und Rassismus“ vorstellen muss, ist, seit es als Durchhalter-Gemeinschaft gegen Europa mit dem Rücken zur Wand steht, im Kampf gegen den inneren Feind noch Manches zuzutrauen.“

Diese Verkehrungen finden sich als Detritus in der Szene wieder, die sich inmitten der bürgerlichen Eiszeit ihrer ideologischen Obdachlosigkeit schämt und Nestwärme bei der gesellschaftlich hegemonialen Vernunft sucht: Flüchtlinge eben draußen zu halten, in Bruckners Jargon zu „filtern“, wegen dem Islamismus und weil man ja nicht alle aufnehmen kann. Die Idee, die europarechtlich verregelte Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen ausgerechnet mit dem Nationalsozialismus zu identifizieren ist offenbar so überzeugend, dass Paulette Gensler sie aufgreift und in einem Kommentar als „Biopolitik“ bezeichnet:

„Eben dieser Bezug auf Polen, wie Martin [Stobbe] ihn hier skizzierte, ist mir nämlich auch aufgestoßen. Denn auch ohne Bahamaslektüre, aber nach einem kurzen Blick in ein durchschnittliches Geschichtsbuch wäre doch zu erkennen, dass es eventuell Gründe gibt, aus denen sowohl die polnische Regierung als auch Bevölkerung etwas sensibel auf deutsche Biopolitik auf polnischem Boden reagiert.“

Die europaweit vereinbarte Verteilung von 120,000 Flüchtlingen sollte primär Italien und Griechenland entlasten. Wirtschaftliche Ausgleichsregelungen sind vorgesehen. Daraus ein „deutsches“ Projekt, gar „Biopolitik“ zu machen, zeugt vom Realitätsverlust ebenso wie von der Aufgabe von Aufklärung als Möglichkeit.

 

Der Abschied der Redaktion Bahamas vom Humanismus ebenso wie vom Realitätsprinzip ließe sich an weiteren Texten exemplarisch belegen. Er bleibt vorerst partiell und wird gelegentlich widerrufen in bestem Judith-Butler-Stil: Man habe das nicht so gesagt, was man eben gesagt hat. Und sicher wird man in der Bahamas weiterhin Texte finden, mit der sich andere Texte in der Bahamas kritisieren lassen. Aber die in die Welt gerufenen Ideologeme wie der Identifizierung der Aufnahme von Flüchtlingen mit dem ersten und zweiten Weltkrieg, von Antirassismus und Nationalismuskritik mit dem Islamismus, vom ästhetischen Elend der „Linken“, vom Untergang des Rassismus, diese Ideologeme werden weiter gedeihen, weil sie sehr einfache, identitätspolitische Lösungen für komplexe Probleme anbieten.

 

[1] Der Zusammenhang von inszeniertem Mitleid und Narzissmus wurde von Nietzsche durchaus richtig erkannt. Tatsächlich ist der pathologische Narzissmus aber zum echten Mitgefühl geradewegs unfähig und muss es an Anderen als Schwäche oder Perversion abwerten.

Wurzelgemüse – eine küchenphilosophische Kritik an Habermas

Jürgen Habermas kann man eigentlich nicht nachsagen, die „Dialektik der Aufklärung“ nicht verstanden zu haben. In einem 1985 gelieferten Nachwort der Fischer-Ausgabe sieht er im Schlusswort Versuche, das Werk auf einen Satz zu reduzieren: Aufklärung sei totalitär. Gegen diese „neoromantische Seelenmetaphysik“ lässt er noch Adorno selbst antreten.

„Wem Freiheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit nichts als ein Schwindel sind, den sich die Schwachen zum Schutz vor den Starken ausgedacht haben […], der vermag recht wohl, als Anwalt der Starken, auf den Widerspruch zu deuten, der zwischen jenen vorweg schon verkümmerten Ideen und der Realität gilt. Die Kritik an den Ideologien überschlägt sich. […] Spengler und seinesgleichen sind weniger die Propheten des Zuges, den der Weltgeist nimmt, als seine beflissenen Agenten.“ (Nachwort, DdA: 294)

Habermas wurde mit dem halbierten John W. Kluge-Preis gerade um 0,65 Millionen Euro reicher. Als antiaufklärerische, bürgerliche Ideologie von Wissenschaft ließe sich entlarven, dass solche Preise grundsätzlich an bereits gemachte Männer (meist sind es noch solche) gehen und damit wie in der Exzellenzinitiative den Erfolgreichen weiter belohnen, anstatt Aufklärung in der Masse zu betreiben. Die Heraufwürdigung eines mehr durch Glück als durch Verstand nach oben Gekommenen, bedeutet immer zugleich die Legitimierung aller nach oben Gekommenen als Verständige und die Abwertung aller jener „ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen“ (Marx), die es nicht geschafft haben. Ein solches Ritual stärkt die Suggestion, dass es am Ende doch gerecht zugehe.

Da solche Preise auch Investitionsempfehlungen sind, wo Wissenschaft ausschließlich ein Markt wurde, will ein Interview mit Habermas anlässlich des Preises natürlich den Gebrauchswert seiner Philosophie erkunden. Da wird Habermas gefragt:

Die EU ist in der Flüchtlingskrise gespalten wie lange nicht. Droht die Erosion der Werte und Überzeugungen, die auch Sie in der EU sehen?

Und Habermas antwortet:

„Was passiert, ist die Trennung zwischen Großbritannien sowie einigen osteuropäischen Ländern und dem Kern der Währungsunion. Dieser Konflikt ist zu erwarten. Er hat mit dem Datum des Eintritts zu tun. Die vielen neuen Beitrittsländer aus dem Osten, abgesehen von den großen ökonomischen Unterschieden, die weiterhin bestehen, hatten nicht hinreichend Zeit, einen politisch-mentalen Anpassungsprozess zu durchlaufen, für den wir (in Deutschland) 40 Jahre – 1949 bis 1989 – Zeit hatten. Bei uns hat es lange genug gedauert.

Deutschland und Frankreich, die längst eine viel aktivere Europapolitik mit Perspektive machen müssten, sollten jetzt die Initiative ergreifen und eine Europapolitik entwickeln, in deren Rahmen wir auch Kooperation in der Flüchtlingsfrage erwarten müssen! Man hat die Krise verschlafen. Eines muss ich dazu aber auch sagen: Ich bin seit vielen Jahren nicht so zufrieden gewesen mit unserer Regierung wie seit Ende September. Frau Merkels Satz, „Wenn wir uns jetzt auch noch entschuldigen sollen, wenn wir ein freundliches Gesicht zeigen gegenüber denen, die unsere Hilfe brauchen, dann ist das nicht mehr mein Land „, hat mich ebenso überrascht, wie ich ihn respektabel finde.“

Aufklärung wird zur „politisch-mentalen Anpassung“. Nun ist der Modus gesellschaftlicher Veränderungen eher der der Eruption, der abrupten Revolutionen, die so gar nichts mit schleichender Anpassung zu tun haben, aber dafür sehr viel mit Individuen, die einen Kampf aufnehmen und sich organisieren – gegen die Angepassten.
Habermas‘ Position gegenüber den nicht so ganz Mitgekommenen ist die der paternalistischen Großzügigkeit: Man „hat verschlafen“, es „hat gedauert“, man „hatte nicht hinreichend Zeit“. In diesen Euphemismen wird nicht nur die passiv-aggressive Rolle verleugnet, die Europa gegenüber den Zehntausenden einnimmt, die an seinen Grenzen zugrunde gehen oder in Folter und Sklaverei geraten, sondern es wird auch Europas sehr aktive, sadistische Verfolgung und Diskriminierung von Roma verharmlost, die aus europäischen Ländern des Ostens fliehen müssen, weil sie dort von den „Verwurzelten“ mit einer Mischung aus infernalischen Hass und zynischer Lässigkeit verfolgt werden. Dort ist man sehr gut angepasst an eine Kontinuität des Antiziganismus, den Frankreich und Deutschland seit 1990 genauso verschärften wie Ungarn. Was Merkel als ihr „freundliches Gesicht“ eigenlobt, ist die von ihr seit über zehn Jahren organisierte und verantwortete demozidale Politik der Dezimierung und zynischer Vergrämung von Flüchtlingen. Merkel ist das Gegenteil jener Helfenden, die an den EU-Grenzen in Lampedusa, Kreta, Lesbos, Mellila den Flüchtlingen beistehen, die dafür noch vom Staat mit Schleuserparagraphen und von Faschisten mit Gewalt bedroht werden.

Eine zweite Frage an Habermas verdeutlicht, dass er nicht nur mit dem schlecht getarnten christlichen Rassismus in Europas Mitte seinen Frieden gemacht hat, sondern auch dem Djihadismus das Wort redet.

Peter Scholl-Latour prognostizierte nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001, die großen Konflikte der Zukunft würden religiöser Natur sein. Die Geschichte scheint ihm Recht zu geben, allein wenn man an extremistische Strömungen des Islam denkt. Wie muss man dem begegnen?

„Dies sind im Wesentlichen keine Religionskonflikte, sondern die politischen Konflikte sind religiös definiert. Religiöser Fundamentalismus ist die Reaktion auf Entwurzelungsphänomene, die überhaupt erst in der Moderne induziert worden sind, durch Kolonialismus und post-koloniale Politiken. Infolgedessen ist es etwas naiv zu sagen, das seien Religionskonflikte.“

Die Propaganda des Djihadismus ist der Hass auf jene Moderne, die den koranischen Chauvinismus kränkt. Solcher antimoderne Fundamentalismus reicht zurück bis zu den Almohaden, die der urbanen Hochkultur von Al-Andalus misstrauten. Das djihadistische Propagandem zu affirmieren hieße in dieser Logik auch, die Bürgerrechtsbewegung und den Feminismus für die „Entwurzelung“ der Rassisten und Sexisten in den USA haftbar zu machen. Der imperialistische Djihadismus ist wie bereits der westliche Faschismus eine Kraft, die Menschen in die Flucht treibt, die sie aktiv vor die Wahl zwischen Moderne und Sklaverei stellt.

Religionskritik, die am Material differenzieren gelernt hat, würde sich bereits weigern, von religiösem Fundamentalismus als Kategorie zu sprechen, als seien der hinduistischen Suprematismus, der islamische Chauvinismus und die jüdische Orthodoxie als gemeinsame Schublade zu verhandeln und nicht jeweils am konkreten Gegenstand. Spezifische Religion erfordert spezifische,  sowohl textimmanente als auch mit den Paradoxien des Materials angereicherte Kritik. Kolonialismus ist eine ebenso untaugliche Kategorie. Wenig verbindet die belgische Kautschukbarbarei mit der forcierten Abschaffung der islamischen und indigenen Sklaverei durch die britischen Kolonialherren. Und wenig verbindet noch die naive Sympathie Habermas für Merkel, seine neoromantische Entwurzelungsmetaphysik, mit dem, was er 1985 über die Dialektik der Aufklärung (und Moderne) schrieb.

 

Zum Um-Weltsouverän

Die Stilblüten antideutscher Versuche, sich die Kritik der je konkreten Verhältnisse durch einen marxistischen Strukturalismus zu ersparen, der schon immer weiß, was der Systemzwang ist und dass es vor ihm kein Entrinnen, also auch keinen Reformismus geben kann, bringen surrealistische Praktiken hervor. An verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten kamen Menschen auf die Idee, es sei ein antifaschistischer Akt, bei McDonalds zu essen und dann die Tüte – im heroischen Widerstand gegen deutschen Ordnungssinn – ostentativ auf die Straße oder in Wiesen zu werfen. Andere haben zu nämlichem Ordnungssinn und Stammtisch direkt zurückgefunden: sie wettern gegen „Wursthaare“ und nehmen den „Grotesksong“ der „Ärzte“ unsatirisch zum Ideal ihrer Feindbilder, naturverliebter Hippies, Robbenschützer und Antisemiten. Die Popband Egotronic hat den Slogan „Die Natur ist dein Feind“ zur T-Shirt Parole erhoben, die in einigen Foren auf erschütternd maoistische Weise ernst genommen wird.

Der Naturschutz hat freilich seine Geschichte. Absolutistische Fürsten entzogen ihre Jagdreviere den Wilderern und Bauern, während sie die barocken Gärten in analer Zwanghaftigkeit organisieren ließen. In der Reaktion auf die dystopischen Prozesse der Industrialisierung hat die Romantik intellektualisierte Ästhetisierungen hervorgebracht, die durchaus noch offen für Ambivalenzen waren. Zum Zeitpunkt der heute nicht mehr kenntlichen, fast vollständigen Entwaldung in Mitteleuropa war die Waldflucht der romantischen Städter in die letzten Wälder mehr als nachvollziehbar und Adornos Tod beim ganz romantischen Wandern in den Bergen ist ein Nachhall dieser Flucht.
Zu der reaktionären Tendenz, nicht nur in Natur zu fliehen, sondern sie zum Ideal von Gesellschaft zu definieren, (siehe dazu etwa die Heinz Maus‘ Arbeiten über Comté) existieren hinlänglich ausgearbeitete Kritiken wie die von Radkau/Uekötter („Naturschutz und Nationalsozialismus“) oder Oliver Gedens „Rechte Ökologie“.
Letzterer wurde gerade in der Jugendumweltbewegung der 90-er lebhaft diskutiert. Die fundiertesten Kritiken reaktionärer Ökologie kommen meist aus der Ökologie selbst und in diese Tradition fällt auch, wenngleich auf höherem philosophischen Niveau, die Kritische Theorie, deren Paradigma schließlich heißt:

„Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur umso tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen.“

Gegen Tendenzen, Kritische Theorie unter Zugabe überhitzten Agitprops zum stumpfen, genussgerechten Modernismus zu karamellisieren, der in Natur nur das Überkommene und zu Bekämpfende sieht wandte sich mein Text „Vom Walöl zum Palmöl“, in dem Gerhard Scheit aufgrund der journalistischen Begrenzungen eine seinem Gesamttext etwas ungerechte Rolle einnahm mit seinem gegen Marcuse gerichteten Zitat:

»Die ökologischen Vorstöße indessen sind nur Vorstöße gegen den Restbestand politischer Vernunft.«

Gerhard Scheit wendete dann in einer kurzen Kritik gegen meine Verteidigung ökologischer Praxis ein:

„Zuzustimmen ist ihm, wo er Konkretheit und die Beurteilung jeder einzelnen, geforderten oder durchgeführten Maßnahme einklagt; zu widersprechen aber, wo er um der Konkretheit willen verfährt, als existierte der allem aufgenötigte Identitätszwang nicht, als könne man ihn wegdenken. Auf die vom Kapital gesetzte Begrenztheit jener Maßnahmen unabdingbar zu reflektieren, ist kein Maximalismus, sondern Kritik gesellschaftlicher Totalität. Die Problematik spitzt sich nicht zufällig an der Frage des Staats zu.
Im Fall der Nashörner und des Klimawandels pflichtet Riedel meiner Kritik bei, dass der Weltsouverän ein Wahn ist; im Fall der Wale und eines künftigen Aufforstungsprogramms sieht er indessen selbst einen solchen (Um-)Weltsouverän am Werk. Wer allerdings annimmt, dass es so einfach möglich sei, ein Gewaltmonopol herzustellen, das Raubbau verhindere und das Kapital wie ein ‚Tischlein deck dich‘ der Natur arbeiten lässt, hat die Rechnung ohne den Souverän gemacht: Verdrängt wird, dass die Staaten ihrem Wesen nach uneins sind; ihr Monopol auf Gewalt gerade in den Gewaltverhältnissen zwischen ihnen (und den ‚Unstaaten‘) gründet; sie sich also immer nur auf eine clausula rebus sic stantibus, nicht aber auf ein Gewaltmonopol im Sinn von pacta sunt servanda einigen können.“ (Gerhard Scheit 2015: Zur Kritik des Umweltsouveräns)

Gegenstand der Kritik war mein Textabschnitt:
„Entwaldung etwa ist mit Satelliten messbar, die Folgen sind seit der Antike bekannt, die Gegenmaßnahmen simpel: Man trennt Ackerbau, Viehzucht, Försterei und Naturreservate räumlich und stellt ein Gewaltmonopol her, das Raubbau verhindert. In einfachen Kausalketten führt die Aufforstung von Mangrovenwäldern zu Fischreichtum und stabilisierten Küsten, Bergwälder bremsen warme Aufwinde und erhalten Gletscher, degradierter tropischer Laterit-Boden lässt sich mit Forsten vor weiterer Verwitterung und Erosion sichern. Solche Maßnahmen werden nur dort vollzogen, wo Menschen die Kausalketten verstehen. „

Diese kurzgeschnittene historische Perspektive auf die Entwicklung in den Industriestaaten führte Scheit zur Bewertung als „Tischlein-deck-dich“. In der historischen Perspektive ist seit der Antike der Feudalismus ebenso gemeint wie Roosevelts Naturpark-Projekte oder die Erfindung des Stacheldrahtes in den USA. Prinzipiell funktionierte und funktioniert es so, daher das Präsens. Das Bewusstsein, dass dieselben Maßnahmen heute in völlig anderen Bedingungen stattfinden müssten und unendlich schwer zu organisieren wären, ging womöglich unter. Selbstverständlich fordere ich nicht, dass ein Weltsouverän mit aktuell verfassten Staaten (China, Russland, Iran, etc.) irgendeine Rolle bei der Etablierung eines Gewaltmonopols etwa in der Sahel-Zone spielen sollte. Wenn aber ein Staat wie Indien seine Tiger schützen möchte, bedarf er theoretisch in den von Wilderei betroffenen Gebieten eines Gewaltmonopols.

Beim Schutz der Wale waren internationale, staatliche Abkommen erst die Folge eines jahrzehntelangen Abnutzungskampfes von NGO’s wie Greenpeace gegen die Vernichtung der letzten Wale. Ebenso könnte Aufforstung in den Ländern mit massivem Waldverlust von den freigesetzten Massen im eigenen Interesse selbstorganisiert stattfinden, „wo Menschen die Kausalketten verstehen“. Dafür gibt es reale Vorbilder in der israelischen Tradition des Tu BiShvat, die Telefonfirmen auch in Ghana verankern wollen, oder in den Aufforstungsbemühungen kenianischer NGO’s. Gerade in den Trikont-Staaten ist das Vertrauen in Staatlichkeit bisweilen sehr gering und Ökologie wird häufig zum demokratischen Kampf gegen Staatsterror. Ironischerweise sind aber gerade in den Peripherien prozentual mehr Flächen unter Naturschutz gestellt als in den Industrieländern und darunter insbesondere Deutschland. Wo Rackets zwischen Peripherie und Industriestaaten pendeln, Gewaltmonopole heute die Ausbeutung von Ressourcen unter dem Druck der allseitigen Konkurrenz der Nationalökonomien eher vorantreiben und organisieren, bleibt Ökologie eine gewerkschaftliche Angelegenheit – das Gewaltmonopol ist strukturell und historisch ein Mittel gegen die Wilderei und wurde hier als Faktor mit aufgelistet, eine Forderung für sich kann es, und darin stimme ich Scheit zu, heute kaum darstellen.

Ökologische Initiativen werden heute in aller Regel zuerst demokratisch, von unten praktiziert, als Interessensverteidigung. Nur allmählich verwandeln sie sich in gesellschaftliche Übereinkunft und – meist sehr widersprüchliche, schwache oder kontraproduktive – Gesetze. Großprojekte wie der Serengeti-Nationalpark oder die Rettung der Berggorillas oder auch die Rettung des irakischen mesopotamischen Deltas waren das Werk von vergleichsweise wenigen, engagierten Einzelpersonen. Hier sind Begriffe wie „Wahn“ oder „Weltsouverän“ unangebracht. Die internationalen Organisationen und Netzwerke haben bei den nördlichen weißen Nashörnern versagt – aber nicht notwendig. Ein paar mehr Ranger in Waffen hätten genügt.

Der Klimawandel hingegen ist nicht nur ökonomisch und technologisch kaum global zu regeln, sondern der Klimaschutz bietet hier gerade weil der Weltsouverän kein Wahn ist, sondern Realität, den darin organisierten nationalökonomischen Rackets die Möglichkeit, Palmöl als nachwachsenden Rohstoff zu behaupten und die Auslöschung von Regenwald zu forcieren – im Zeichen des Klimaschutzes. Auch dies ist kein notwendiger Prozess – schließlich können sich die gleichen Institutionen auch auf größere Meeresschutzgebiete einigen wo sie dazu gedrängt werden. Clausula rebus sic stantibus bedarf der Duldung unaufgeklärter oder ideologisch gegen die Natur aufgehetzter Massen. Dementsprechend ist auch die jüngste Ankündigung der G7, bis 2100 global auf fossile Brennstoffe zu verzichten, vorerst nichts anderes als die Ankündigung, noch den letzten Fetzen Regenwald in eine Ölplantage und jeden Magerrasen in einen Maisacker zu verwandeln. Unter dem Druck einer aufgeklärten Gesellschaft kann sich Ökonomie aber prinzipiell zu Mindeststandards (Abschaffung der Sklaverei, Kinderarbeit) verpflichten lassen. Wäre der Systemzwang absolut, hätten die Revolutionäre eine bequeme Dichotomie der totalen Revolution oder des ungehinderten Weiterwirkens. Der Reformismus der Kritischen Theorie aber kennt solche Dichotomien nicht, ja steht ihnen sogar misstrauisch gegenüber. Der Radikalismus der Theorie, dass das Tauschgesetz und der Akkumulationszwang alles durchwirken, führte nicht dazu, dass man Gewerkschaften und Umweltorganisationen in der Praxis in den Arm fiel, auch wenn absehbar war und ist, dass nationalökonomische gewerkschaftliche oder umweltpolitische Tätigkeit das Kapital zur Verschiebung von Ausbeutung an die Peripherien nötigt. Wird solche Verschiebung reflektiert, kann gewerkschaftliche und ökologische Arbeit (beide sind eng verwandt), sich ebenfalls verschieben. Diesen Schritt nicht zu vollziehen wäre eine wirksame Kritik. Ihn aber als vergeblich zu diskreditieren weil das Kapital ohnehin allmächtig schon ist, führt doch in die Schwierigkeit, diese strukturalistische-teleologische Position von marxistischem, dynamischen Geschichtsbewusstsein abzukoppeln.

Vom Walöl zum Palmöl

„Die Dampfmaschine brachte den Hunger nach den komprimierten Kondensaten der Opfer von Naturgeschichte, die fossilen Energien. Industrialisierung kannte da bereits einen lebendigen, nachwachsenden Energieträger: Wal. Das Fett der Tiere wurde für jenes Nitroglyzerin verwendet, mit dem man Kohleflöze aufsprengte, es wurde in Straßenlaternen und Fabriken verheizt. Die Übernutzung von 10.000 erbeuteten Tieren pro Jahr zu Marx’ Lebzeiten wurde trotz Erdöl im 20. Jahrhundert erweitert.  […] Philosophie, die diesem Aktualitätsdruck nicht Rechnung trägt, kann nur als versäumte stattfinden. Auffällig an der jüngeren Wiederaufnahme von Positionen der Kritischen Theorie zur Ökologie3 ist der Drang zum klinisch sterilen Abstraktum »Natur«. Die bloße Erwähnung konkreter ökologischer Probleme riecht nach Essentialismus, nach Romantik, nach Kitsch. Die Frustration über das Ökologieproblem, die Frage nach dem »einzelnen Wesen«, dem beizustehen wäre, beantwortet Gerhard Scheit mit einer Praxisfeindschaft, die kritischer Theorie abhold war: Mit Amery kritisiert er Marcuse für dessen sozialdemokratischen Versuch, im »Rahmen« kapitalistischer Vergesellschaftung schon »den Umweltschutz« vorzubereiten. »Die ökologischen Vorstöße indessen sind nur Vorstöße gegen den Restbestand politischer Vernunft.«4″

Lesen unter:

http://versorgerin.stwst.at/artikel/jun-8-2015-1334/vom-wal%C3%B6l-zum-palm%C3%B6l