Die Hagiographie für Oevermann aus der Hand Hans-Josef Wagners feiert den Begründer der „Objektiven Hermeneutik“ als neuen Adorno:
„Keine andere Position als die Oevermanns ist näher an dem, was Adorno als Ziel seiner »Negativen Dialektik« ansah und als »Utopie der Erkenntnis« bezeichnete, nämlich: »das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen«.“
Es stellt sich allerdings die Frage, warum eben jener neue Adorno sich auf einer Methodentagung strikt von der Kritischen Theorie abgrenzte. Mehr noch warf er dieser vor, die Wertfreiheit der Wissenschaft zu überstrapazieren. Ein Wissenschaftler solle im Dienste des Steuerzahlers keine Ideologiekritik betreiben. Das nimmt nicht weiter Wunder, folgt die objektive Hermeneutik doch allzu offen einer Angleichung an naturwissenschaftliche Methodik.
„Die objektive Hermeneutik ist nicht eine Methode des Verstehens im Sinne eines Nachvollzugs subjektiver Dispositionen oder der Übernahme von subjektiven Perspektiven des Untersuchungsgegenstandes, erst recht nicht eine Methode des Sich-Einfühlens, sondern eine strikt analytische, in sich objektive Methode der lückenlosen Erschließung und Rekonstruktion von objektiven Sinn- und Bedeutungsstrukturen.“ (Oevermann)
Die Sequenzanalyse in der Gruppe mag unterhaltsam sein und durchaus Aufschlüsse bringen. Interessant auch die These, dass Rupturen in den Protokollen durch Krisen ausgelöst werden. Wie allerdings die Objektivität zum Fetisch gerinnt und in positivistische Ideologie umschlägt, wird in der Trennung von Erfahrungswissen und objektivem Wissen offenbar. Das geht erfahrungsgemäß schief, denn wo Verhaltensforschung und Gehirnforschung zitiert wird, ist man von Biologismus und Strukturalismus nie weit entfernt. So kommt es auch zu strapaziösen Verlautbarungen von Seiten Oevermanns wie jene, dass Burschenschaften einmal progressiv gewesen seien. Zumindest Adorno hätte gewusst, dass eben jene Studenten, die 1817 auf dem Wartburgfest gegen die Kleinstaatlerei ein geeintes Deutschland proklamierten, gleichzeitig den „Code Napoleon“ und die „Germanomanie“ des Saul Aschers verbrannten – auch ein affirmativer Begriff von Progressivität würde sich der Anwendung auf diese Autodafés schämen.
Die objektive Hermeneutig lässt sich durchaus im Sinne kritischer Theorie verwenden. Der Anspruch der Methode ist es doch zu zeigen, welche latent objektiven Strukturen und Sinnzusammenhänge hinter Texten stecken. Genauso will ich die kritische Theorie die gesellschaftlichen Strukturen aufdecken, die beispielsweise hinter der Produktion von Bildern, Filmen etc. stecken. Was Oevermann, selbst von der kritischen Theorie hält ist an dieser Stelle zweitrangig.
Die Behauptung, dass die objektive Hermeneutig positivistisch sei ist einfach falsch. Ziel positivistischer Wissenschaft ist es Kausalhypothesen zu prüfen. Dabei werden die Hypothesen und Katgoriensysteme vor der Datenerhebung aufgestellt. Dieses Verfahren lehnt die objektive Hermeneutig ausdrücklich ab. Hier geht es nicht darum Kausalhypothesen zu prüfen, sondern die latenten Sinnzusammenhänge von Texten zu erfassen. Gleichfalls werden bei der objektiven Hermeneutig die Kategoriensysteme aus den erhobenen Daten gebildet.
Das 50 % der Kärtner Haider wählen legt sicherlich die Vermutung nahe, dass Antisemitismus in der Region sehr verbreitet ist. Hier lässt sich jedoch keine kausale Schlussfolgerung ziehen weil der Einfluss von Drittvariabeln nicht ausgeschlossen werden kann. Das man mit einem Verfahren zur Textanalyse keine Aussagen über die Verbreitung von Antisemitismus trteffen kann ist offensichtlich.
Was Du mit dem letzten Absatz sagen willst müsstest Du noch mal ewas genauer erklären.
Zwischen Text und Gesellschaft ist dann doch noch mal ein erheblicher Unterschied. Das Scheingefecht zwischen Positivismus und Hermeneutik will die objektive Hermeneutik ja geradehin auflösen – das Verlangen nach einer lückenlosen Analyse, das dann noch die eigene gesellschaftliche Praxis von Wissenschaft nicht mitdenkt erscheint mir doch sehr positivistisch. Die Äußerungen Oevermanns lassen zumindest mir darin eine ausgeprägte positivistische Ideologie zu Tage treten.
Dass das Ganze ausgemachte Quatsch ist, zeigt sich schon daran, dass von „Drittvariablen“ gefaselt wird, wo es um Antisemitismus geht – als wäre das ein mathematisch erschließbares Feld.
Noch ein Fehler: Kritische Theorie will nicht Strukturen aufdecken, sondern verändern und begreift sich letztlich als Teil dieser widersprüchlichen Totalität, die die Strukturalisten vergeblich als Struktur begreifen wollen – was einen ausgearbeiteten Begriff von Theorie und Praxis beinhaltet. Davon erkenne ich beim rein erkenntnistheoretischen Interesse der objektiven Hermeneutik wenig.
Und warum „objektiv“ als Wert gesetzt werden soll… das Wort ist doch schon verräterisch, weil es sein Gegenteil versucht auszuschließen.
Laut der kritischen Theorie ist das Denken gesellschaftlichen Ursprungs. Daher werden Texte und Bilder nicht im gesellschaftlichen Vakuum produziert. In ihren empirischen Arbeiten wollten Horkheimer und Adorno zeigen, welche sozialen Mechanismen beispielsweise bei der Produktion von Horoskopen wirksam sind. Um solche Strukturen aufzudecken ist die Methode der objektiven Hermeneutik nützlich.
Man kann das Wertgesetz als objektive Struktur begreifen, die Denken und die Sprache formt. Diese Struktur wird zwar durch eine gesellschaftliche Praxis hervorgebracht erscheint jedoch als gegeben.
Das man Antisemitismus nicht mathematisch beschreiben kann ist richtig. Trotzdem bleibt der Schluss, dass wenn
50 % der Kärtner einen Antisemiten wählen, diese selbst Antisemiten sind unzulässig.
Die kritische Theorie will zeigen, dass im Prozess der Aufklärung Fortschritt und Regression Hand in Hand gehen. So widersprach der Antisemitismus der Nazis nicht der Aufklärung sondern war deren Produkt. Die Möglichkeit der Veränderung beurteilte vor allem Horkheimer sehr pessimistisch.
Ich habe mich mit Oevermann nie näher auseinandergesetzt, daher eine Frage: Die objektive Hermeneutik ist, so Oevermann, eine „in sich objektive Methode der lückenlosen Erschließung und Rekonstruktion von objektiven Sinn- und Bedeutungsstrukturen.“
Soweit ich weiß, passiert die Erschließungs- und Rekonstruktionsarbeit in Gruppen, um Reflexion und dadurch die Objektivität der Methode zu gewährleisten. Ist das dann nicht letztlich einfach die wissenschaftliche Organisierung des Vorurteils, statt eine „in sich objektive Methode“, oder wie läuft das mit der Objektivität?
Die Gefahr, das empirische Sozialforschung einfach Vorurteile reproduziert ist immer gegeben. Dies soll im Fall der objektiven Hermeneutik dadurch ausgeschlossen werden, dass die Kategorien und Fragen an die Textsequenzen, aus dem Forschungsmaterial gewonnen werden. Dies ist der mehtode der Natur oder -positiven Wissenschaften . Deshal ist der Positivismusvorwurf auch unbegründet.
Unter objektiv versteht die objektive Hermeneutig, dass der Sprache und somit auch Texten objektive, das heisst für jeden verbindliche Strukturen zugrunde liegen. Die der Forscher mit Hilfe dieser Methode erschliessen kann. Die Auswertung erfolgt in Gruppen um an mehr Interpretationsvarianten zu gelangen und zu verhindern, dass nur eine Perspektive in die Auswertung einfließt.
Soll natürlich heissen :
Dies ist der Mehtode der Natur oder -positiven Wissenschaften etgegengesetzt.
Gibt`s hier `ne Korrekturfunktion ?
„Trotzdem bleibt der Schluss, dass wenn
50 % der Kärtner einen Antisemiten wählen, diese selbst Antisemiten sind unzulässig“
Den Schluss ziehe ich gar nicht. Ich sage, Haider wird wegen seiner Äußerungen gewählt. Dass die SPÖ und die ÖVP genauso gerne mit Iran zusammenarbeiten und ihre Anhänger etwas über dem europäischen Durchschnittsantisemitismus zu verorten sind, sollte klar sein.
Für eine Kritik an textorientierten Gesellschaftswissenschaften liest sich Hauschilds „Ritual und Gewalt“ ganz gut.
„Unter objektiv versteht die objektive Hermeneutig, dass der Sprache und somit auch Texten objektive, das heisst für jeden verbindliche Strukturen zugrunde liegen. Die der Forscher mit Hilfe dieser Methode erschliessen kann.“
Dafür gibt es die Linguistik. Das strukturalistische Ansinnen, die Sprachstrukturen auf die gesellschaftswissenschaftliche Ebene zu heben, rechnete schon stets einer obskuren Methode zu, was im besten Falle der Lebenserfahrung und Genialität des Forschers entnommen wurde. So etwa bei Claude Levì-Strauss, der seine durchaus achtenswerte und mitunter genialen Befunde mit einer ziemlich waghalsigen und kaum haltbaren Methode gefunden haben wollte. Objektiv ist das nicht.
Objektiv sein zu wollen kann nur scheitern, weil es schon einen nicht-objektiven Ausschluss der Subjektivität beinhaltet. Nach Differenzierungsvermögen zu streben und über Vergleiche zu verallgemeinerbaren und unter gewissen Rahmenbedingungen falsifizierbaren befunden zu kommen ist nicht Privileg einer „objektiven“ Wissenschaft, sondern der Vernunft.
Wie vermeintliche Objektivität umschlägt in ihr Gegenteil zeigt sich an Oevermanns Aversion gegen Ideologiekritik, zu der er die Wissenschaft an sich nicht legitimiert sieht – aufgrund der Abhängigkeit vom Steuerzahler, dessen Subjektivität er seine Objektivität andient. Dadurch hat der „objektive Hermeneutiker“ schon wieder teil am gesellschaftlichen Prozess der Immunisierung gegen Widersprüche und Emotionen.
Solange die Objektive Hermeneutik sich als Spielzeug zum freien Assoziieren über Textstrukturen versteht, ist das ja überhaupt kein Problem. Problematisch wird es, wo sie sich als fortschrittliche Gesellschaftstheorie behaupten will und ihr Paradigma der Objektivität zu dem der Gesellschaftswissenschaft machen will – oder eben in legitimes und nichtlegitimes Kontextwissen einteilt, was in die Labyrinthe der Diskussion um ontologische Wahrheiten, Biologismen, Verhaltensforschung führt.
„Schon auf den ersten Blick entpuppt sich Oevermanns ‚Objektive Hermeneutik‘ als hartgesottener Positivismus, der mit Kritischer Theorie nichts gemein hat“
Vielleicht wäre es angebracht, neben dem ‚ersten Blick‘ auch noch einen zweiten zu riskieren und (zu allem Überfluss…) auch mal einen Originaltext von Oevermann zu lesen, dann würde hier nicht so ein hanebüchener Unsinn stehen.
a) ‚objektiv‘ hat in dieser Methode nichts mit dem Anspruch objetiv-naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu tun. Vielmehr geht es darum, im Subjektiven (in der Sozialforschung beispielsweise: Protokolle von Gruppendiskussionen, Interviews, Feldbeobachtungen etc.) Gesellschaftliches, Allgemeines wiederzufinden und aufzudecken. ‚Objektiv‘ meint hier, in subjektiven Lebensäußerungen einen nicht mit diesen zusammenfallenden, überindividuellen ‚Sinn‘ von Texten aufzudecken, mit Adorno gesprochen: Auch im Kleinsten noch die Wirkung der gesellschaftlichen Totalität und ihren Zugriff wiederzufinden. Heutzutage z.B. auch noch der Anspruch einiger Vertreter der ‚Politischen Psychologie‘.
Insofern lässt sich durchaus – ganz unabhängig davon, wie Oevermann selbst seine Methode einordnet – in der objektiven Hermeneutik ein Anspruch Kritischer Theorie wiederfinden, umgesetzt in eine konkrete Methode. Ob das methodologisch und methodisch gelungen ist, ist eine andere Frage.
b) Objektive Hermeneutik hat insofern nun wirklich gar nichts mit Positivismus zu tun, als sie der üblichen hypothetiko-deduktiven Vorgehensweise in den Sozialwissenschaften diametral entgegengesetzt ist. Es gibt hier weder einen der Feldforschung vorausgesetzten Operationalisierungsvorgang, es werden vorab keine Kategorien festgelegt, die dann schematisch einem Text übergestülpt werden, und nichts ist hier auf eine Quantifizierung abgestellt.
Vielmehr geht es um die individuelle Rekonstruktion von ‚Einzelfällen‘ und deren ‚objektiver‘ Struktur. Das ist im Übrigen eine Form der Forschung, die große Ähnlichkeiten mit psychoanalytisch orientierter Sozialforschung, so z.B. der nach Alfred Lorenzer folgenden hat. Gleichzeitg wird damit eine handlungstheoretische Verkürzung vermieden, wie sie seit dem ‚interpretativen Paradigma‘ in der qualitativen Forschung üblich ist. Dort wird nämlich nicht das dem individuellen Handeln vorausgesetzte gesellschaftliche Unbewusste erforscht, ganz im Gegensatz zur objektiven Hermeneutik.
c) von ‚Drittvariablen‘ zu reden ist kein ‚ausgemachter Quatsch‘, wie Du sagst. Drittvariablen bezeichnen in der quantitativen Forschung solche Variablen, die einen (vom Forscher möglicherweise nicht berücksichtigten) Einfluss auf eine Korrelation haben. Da Du die nun wirklich lächerliche Behauptung aufstellts, dass ein Kausalzusammenhang zwischen ‚Haider-Wählen‘ und ‚Antisemitismus‘ besteht, kann man ruhig mal sachte darauf hinweisen, was dass für eine groteske Verkürzung von Sozialem ist. Damit will ich im Übrigen nicht behaupten, dass nicht durchaus viele Antisemiten unter den Haider-Wählern sein mögen.
Mit den ‚Studies in Prejudice‘ liegt übrigens (trotz aller methodologischen und methodischen Mängel) ein Beispiel besonnener kritischer Sozialforschung vor, die solche Kausalbeziehungen eben gerade nicht formuliert, weil sie in der Realität nicht vorliegen. Lies mal, kann ich nur weiterempfehlen!
d) @ ‚V‘: Das ist auf jeden Fall eine Gefahr, und ich vermute, dass in der objektiven Hermeneutik damit noch kein Umgang gefunden ist. Letztendlich geht es ja darum, in der Arbeit am Text systematisch aus der Logik des Textes heraus alle anderen Lesarten auszuschließen, sozusagen seine Eigenlogik herauszukristallisieren, welche nicht (unbedingt) mit der bewussten Intention des ‚Textproduzenten‘ zusammenhängt. Die Interpretation in Gruppen soll die Bildung von ‚Blinden Flecken‘, von systematischen Interpretationsfehlern vermeiden. Rekonstruktive Verfahren bergen aber immer die Gefahr, dass dadurch, dass erstmal vorab kein Maßstab der Interpretation ausgewiesen wird, systematisch nicht mitreflektierte Faktoren in die Analyse einfliessen. Die Lösung, in Gruppen zu interpretieren, scheint mir da eher recht unbeholfen zu sein.
e) „Noch ein Fehler: Kritische Theorie will nicht Strukturen aufdecken, sondern verändern“
Ohne sie vorher kritisch-reflexiv zu beleuchten? Da bin ich ja gespannt auf entsprechende Textstellen…
Leseempfehlung: Der kleine schöne Adorno-Text über Marginalien zu Theorie und Praxis.
f) Methoden und Theorie mit dem simplen Schema „Adorno=gut/nicht Adorno=schlecht“ zu beurteilen, wie Du das offenbar tust, ist ausserdem eine Methode einer nicht gehaltserweiternden sozialwissenschaftlichen Forschung, die im Gegenstand immer nur das sehen kann, was sie vorher schon von ihm wusste. Die hast Du offenbar adaptiert, sonst wäre nicht so eine klägliche Oevermann-Kritik dabei herausgekommen. Sicher wäre es gut, sich auch mal auf sich selbst zu wenden und sich zu fragen, warum an so reagiert wenn jemand erklärtermaßen Adorno von seinem ‚Thron‘ stoßen und sich an seine Stelle setzen will.
Zuerst zu f:
Ich unterstelle Oevermann gar nicht, sich an Adornos Stelle setzen zu wollen, das bleibt der verlinkten Hagiographie überlassen. Dieser denkt die Kritische Theorie schon als überholt, indem er einen „neuen Adorno“ sucht, was die Suche nach Autorität, nicht aber nach theoretischer Notwendigkeit auszeichnet.
Das Fragment ist auch keine ausgefeilte Oevermann-Kritik, sondern eine kurze These, die etwas aufspießt. Freut mich, dass ich hier was dazulerne.
Zu e)
eben dadurch, dass sie Theorie selbst als gesellschaftliche Praxis begreift und auch dem eigenen aufklärerischem Projekt noch das Misstrauen entgegenbringt, das sich selbst als möglichen Teil der affirmativen Rationalisierung von gesellschaftlichen Prozessen für möglich hält.
Zu c)
„in der Arbeit am Text systematisch aus der Logik des Textes heraus alle anderen Lesarten auszuschließen“
Ja fein, und dann?
Zu a)
Ohne ins mir nicht ersichtliche Detail gehen zu wollen, wage ich es doch, hier auf Begriffe wie „Vorrang des Objekts“ und das „Denken vom Subjekt“ her hinzuweisen.
Der Strukturalismus will auch objektive Bedingungen aufzeigen. Die Marxisten auch. Ebenso Verhaltensforscher und Kreationisten. Das macht sie noch lange nicht zu kritischen Theoretikern. Zwischen Totalität und Struktur klaffen Welten.
zu b) Positivismus ist mehr eine Ideologie bzw. eine gesellschaftliche Praxis als jenes philosophische Projekt, als das es bisweilen verarmt von den Vertretern desselben präsentiert wird. Insofern behalte ich es mir vor, Oevermann eine lupenreine positivistische Ideologie zu unterstellen. Was die „objektive Hermeneutik“ an angeblichen und tatsächlichen methodischen Unterschieden bereithält, ist dem erstmal untergeordnet. Dazu bald mehr.
Einen Originaltext von Oevermann habe ich übrigens verlinkt und zitiert, was soll ich sonst lesen?
„Es soll
nur in Rechnung gestellt sein, daß methodologisch ein überprüfbarer und erschließbarer
Zugriff auf diese eigenlogische Wirklichkeit von Intentionen bzw. intentionalen Gehalten,
generell: der innerpsychischen Wirklichkeit von Empfindungen, Affekten, Vorstellungen,
Kognitionen und Volitionen, nur vermittelt über Ausdrucksgestalten möglich ist, in denen
sie sich verkörpern, ebenso wie in der Unmittelbarkeit der Vollzüge der Praxis selbst sowohl
die dialogische Vermittlung wie die selbstreflexive Vergegenwärtigung solcher innerpsychischer
Wirklichkeiten auf jene Verkörperung in Ausdrucksgestalten notwendig angewiesen ist.“ (Oevermann, Quelle aus dem Text)
Allein in diesem ersten Abschnitt kracht es doch schon dermaßen im Vergleich zu den Soziologischen Schriften Adornos. Ein gänzlich anderes Projekt, das das Bedürfnis nach „Überprüfbarkeit“ und „Lesbarkeit“ der Begründung zu entheben sucht – vgl. dazu Adornos Kritik am Psychologismus.
Wichtig ist in der objektiven Hermeneutik ja auch das Konzept der Lesartenbildung. Das bedeutet, dass eine Kontingenz vorausgesetzt ist, die vor jeder Interaktion, Handlung etc. evident ist. Jede Handlung wäre auch anders möglich gewesen, aber in der einzelnen Untersuchung bilden sich Fallstrukturen heraus, die natürlich vom Forscher konstruiert sind. Da dies aber reflektiert wird, ist die OH näher an kritischer Theorie, als man denken würde (jedoch ohne die normativen Aprioris der KT).
Wichtig ist in der Kritischen Theorie die Verhinderung von etwas Ähnlichem wie Auschwitz. So etwas eine „Apriori“ zu nennen ist schon immunisierter Wortgebrauch.
Begriffsgeklapper wie Lesartenbildung und Fallstrukturen nimmt sich dann zusätzlich ziemlich selbstreferentiell aus.
Was bei der objektiven Hermeneutik reflektiert werden soll, bleibt mir zumindest aus der einzigen mir zugänglichen Erfahrung heraus ziemlich schleierhaft.
Tach,
du hast irgendwo hier Leví-Strauss erwähnt. Den Artikel in der JA wirst du selbst gefunden haben, in der konkret ist auch einer. Von Ilse Bindseil geschrieben und es ist der erste von ihr, bei dem ich nicht denken, dass sie verrückt ist.
„Einen Originaltext von Oevermann habe ich übrigens verlinkt und zitiert, was soll ich sonst lesen?“
Einen guten Einblick gibt der unten genannte, dort vertritt Oevermann auch die Position, dass seine objektive Hermeneutik im Prinzip die Einlösung der methodologischen Ansprüche Kritischer Theorie ist.
„Adorno als empirischer Sozialforscher im Blickwinkel der heutigen Methodenlage“, in: Gruschka, Andreas / Oevermann, Ullrich (Hg.): Die Lebendigkeit der kritischen Gesellschaftstheorie, Dokumentation der Arbeitstagung aus Anlass des 100. Geburtstages von Theodor W. Adorno Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/ Main, 4. -6. Juli 2003, Wetzlar: Büchse der Pandora, 2004, S. 189-234
Möglicherweise wird man jedoch trotzdem mit objektiver Hermeneutik ’so etwas ähnliches wie Auschwitz‘ nicht verhindern können, wie im Übrigen auch nicht mit Fragebögen, ‚klinischen Interviews‘ oder Rorschach-Tests.
Es handelt sich dabei auch nicht um eine Theorie, sondern um eine Methode – damit ist ein spezifischer Zugang zum Gegenstand vorgegeben, der sich jedoch erstmal von einer Gesellschaftstheorie unterscheidet und bestenfalls dazu angewendet werden kann, mehr über den Gegenstand zu erfahren.
Deinen Anspruch halte ich für eine hoffnungslose Überfrachtung. Auch in Kritischer Theorie wurde an Methoden dieser Anspruch nicht gestellt.
Quantitative Forschung, Tiefeninterviews, Gruppendiskussion – ein Methodenarsenal, was man anwenden kann, um (auch) im Rahmen Kritischer Theorie mehr über etwas zu erfahren, und zwar so, dass nicht der Gegenstand an der Methode ausgerichtet wird, sondern sich die Methode möglichst an ihn ‚anschmiegt‘. Auch Adorno et.al. ist das nebenbei bemerkt häufig nicht gelungen. Auch sie haben für ihre empirische Forschung aus einem relativ konventionellen Methodenfundus geschöpft, allerdings mit dem Anspruch, nicht durch die Anwendung einer bestimmten Methode bereits zur Verdinglichung der Verhältnisse beizutragen. Adornos Kritik an empirischer Forschung galt nicht den Methoden an sich, sondern ihrer Verwendung zur Zementierung der Verhältnisse. WIE Methoden zu verwenden sind und OB sie als emanzipatorisch anzusehen sind, entscheidet sich nicht vor allem an der Methode selbst, sondern am theoretischen Kontext, in dem eingebettet sie verwendet werden.
Ein neues Auschwitz verhindert man nicht , indem man Texte analysiert oder eine repräsentative Befragung durchführt, sondern die Verhältnisse so einrichtet, dass nichts Ähnliches geschehen kann.
Bez. Methoden:
Ich habe nie etwas gegen empirische Sozialforschung gehabt, solange sie ihre Fragen nicht in geistiger Umnachtung stellt, was leider selten ist. Die Studien zum autoritären Charakter sind qualitative Interviews, die deshalb so hochwertig und komplex sind, weil die theoretischen Grundlagen stimmten: Eine solide Beschäftigung mit Psychoanalyse und gewaltförmigen Massenphänomenen.
Die Theorie des autoritären Charakters war im Prinzip im Vorfeld schon erarbeitet, nun wurde er aufwändig überprüft.
So, zurück zum Ganzen:
Der Text von Wagner feiert Oevermann als „neuen Adorno“. Da stellt sich die Frage, warum es so etwas wie eine „methodische“ Weiterentwicklung der Kritischen Theorie bedarf und warum sich der Hauptprotagonist in der Diskussion so dagegen verwahrt, dass in Wissenschaft ein ideologiekritischer Ansatz prävalent sein darf – mit dem Argument, man könne nicht den Steuerzahler kritisieren, der einem den Arbeitsplatz sichert. Da scheinen mir wesentliche Begriffe zu Theorie und Praxis nicht aufgearbeitet.
Wenn Oevermann zudem den Anspruch hat, eine
„strikt analytische, in sich objektive Methode der lückenlosen Erschließung und Rekonstruktion von objektiven Sinn- und Bedeutungsstrukturen“ zu entwerfen, dann kann ich nur sagen, hier krachts gewaltig.
Demnächst lese ich den Text nochmal und versuche die hier vorgeschlagenen positiven Lesarten dem abzugewinnen.
„Ich habe nie etwas gegen empirische Sozialforschung gehabt, solange sie ihre Fragen nicht in geistiger Umnachtung stellt, was leider selten ist“
Das sehe ich ebenso. Insofern kann man aber der objektiven Hermeneutik als METHODE keinen Positivismusvorwurf machen, das wäre sinnlos, ebenso wie es sinnlos wäre, der Fragebogentechnik einen Positivismusvorwurf zu machen.
Diesen Vorwurf kann man allerdings Oevermann machen je nachdem, wie er eben seine Methode in welchem (theoretischen) Kontext verwendet. Vermutlich stimmen wir darin überein. Die objektive Hermeneutik ist eine von zahllosen Wegen, eine methodisch kontrollierte Textinterpretation zu gewährleisten.
„Die Studien zum autoritären Charakter sind qualitative Interviews“
Unter anderem, ja. Die ‚Studien‘ nahmen allerdings ihren Anfang in einer nicht-repräsentativen quantitativen Umfrage, aus der dann letztendlich die F-Skala hervorging. Aus dieser Skala wurden dann mittels eines Auswahlplanes die jeweiligen High- und Lowscorer ausgewählt.
„Die Theorie des autoritären Charakters war im Prinzip im Vorfeld schon erarbeitet, nun wurde er aufwändig überprüft. “
Sicher sind die ‚Dialektik der Aufklärung‘ und die ‚Studien‘ insbesondere zusammen verständlich – in den ‚Elementen des Antisemitismus‘ finden sich viele Gedanken, die dann in den ‚Studien‘ systematisiert wurden. Das Konzept des ‚autoritären Charakters‘ wurde jedoch in den ‚Studien‘ nicht überprüft, sondern überhaupt erst ausgearbeitet, und zwar überwiegend auf induktivem Wege. Eine ‚Überprüfung‘ wäre quasi ein deduktiver Hypothesentest, und genau das wurde ja eben NICHT gemacht.
„Da stellt sich die Frage, warum es so etwas wie eine “methodische” Weiterentwicklung der Kritischen Theorie bedarf und warum“
Die Frage finde ich vor dem Hintergrund des oben Geschriebenen falsch. Es macht die Frage nach der Weiterentwicklung der Kritischen THEORIE Sinn und paralell dazu die Frage nach Methoden, die ihrem Gegenstand angemessen sein könnten. Man kann aber eine Theorie nicht ‚methodisch‘ weiterentwickeln.
„Die Studien zum autoritären Charakter sind qualitative Interviews, die deshalb so hochwertig und komplex sind, weil die theoretischen Grundlagen stimmten: Eine solide Beschäftigung mit Psychoanalyse und gewaltförmigen Massenphänomenen.“
Ja, auch wenn´s in Bezug auf die Psychoanylse etwas schwierig war und die ‚Studien‘ wesentliche Einsichten Adornos überhaupt nicht berücksichtigt haben, wie etwa die Unmöglichkeit, mittels psychoanalytischer Theorie einfach bündig auf das individuelle Unbewusste und eine
individuelle ‚Charakterstruktur‘ zu schließen. Unter anderem daraus hat dann allerdings die eher ‚konventionelle‘ Autoritarismusforschung die Konsequenz gezogen, die psychoanalytischen Grundlagen einfach ganz zu entsorgen.
“Da stellt sich die Frage, warum es so etwas wie eine “methodische” Weiterentwicklung der Kritischen Theorie bedarf und warum”
Im Übrigen denke ich schon, dass es einer Weiterentwicklung Kritischer THEORIE bedarf und auch die Studien zum autoritären Charakter überwiegend noch historische Relevanz haben. Kritische Theorie zeichnet sich gerade dadurch aus, das sie historisch-spezifische Diagnosen über Gesellschaft stellen will – das erreicht man nicht, indem man einfach Theorie und Empirie 1:1 übernimmt. Es ist nicht im Sinne Kritischer Theorie, ihren überleiferten Textekanon zu übernehmen und damit einfach permanent die Realität zu rastern. Das ist in diesem Sinne keine Kritik – da hat Adorno doch schon ein bißchen mehr verlangt und andere Maßstäbe gesetzt.
Die Studien zum Autoritären Charakter sind hochaktuell, meines Erachtens.
Ich bin mir nicht sicher, in wie weit Kritische Theorie sich überhaupt mit einer Trennung von Theorie und Methode abfindet, aber dazu bin ich nicht bewandert genug.
Zu Leví-Strauss siehe Startseite.
Zu Methode:
„Wendet man, wie seit den Aristotelischen Kritikern Hegels repetiert wurde, gegen die Dialektik ein, sie bringe ihrerseits alles, was in ihre Mühle gerät, auf die bloß logische Form des Widerspruchs und lasse darüber […] die volle Mannigfaltigkeit des nicht Kontradiktorischen, des einfach unterschiedenen beiseite, so schiebt man die Schuld der Sache auf die Methode.“ (Adorno, Negative Dialektik:17)
Adorno fasst also Dialektik als Methode auf und nicht als Theorie. Wie es sich nun zwischen Dialektik und Hermeneutik verhält, überlasse ich kampflos anderen.
nochmal das „Manifest“ quergelesen:
„Indem die objektive Hermeneutik sich, unabhängig davon, welchen konkreten Gegenstand sie zu analysieren hat, immer primär auf die Rekonstruktion der latenten Sinnstrukturen bzw. objektiven Bedeutungsstrukturen derjenigen Ausdrucksgestalten richtet, in denen sich der zu
untersuchende Gegenstand oder die zu untersuchende fraglichkeit authentisch verkörpert, kann sie in demselben Maße Objektivität ihrer Erkenntnis bzw. ihrer Geltungsüberprüfung beanspruchen wie wir das selbstverständlich von den Naturwissenschaften gewöhnt sind. Dies einfach deshalb, weil jene zu rekonstruierenden Sinnstrukturen durch prinzipiell angebbare Regeln und Prozeduren algorithmischer Natur präzise überprüfbar und lückenlos am jederzeit wieder einsehbaren Protokoll erschlossen werden können.“
Es geht also primär darum, sich den Naturwissenschaften anzugleichen. Völlig im Dunkeln bleibt mir folgender Satz:
„Ebenso wie neue Hypothesen aus einer Erkenntniskrise hinausführen können und sich bewähren müssen, muß in der Praxis selbst um den Preis des Überlebens das Scheitern einer Überzeugung als Krise und als Bewährungsprobe akzeptiert werden.“
Die Überarbeitung versucht nochmals mehr Struktur ins Protokoll zu bringen. Der Vorteil zu einer „content analysis“, wie sie Adorno für den Aufsatz „Aberglaube aus zweiter Hand“ zur Analyse der „Spalte“ der Astrologie verwendet ist mir nach wie vor unklar.
Vielleicht wirst Du hier fündig.
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„Ebenso wie neue Hypothesen aus einer Erkenntniskrise hinausführen können und sich bewähren müssen, muß in der Praxis selbst um den Preis des Überlebens das Scheitern einer Überzeugung als Krise und als Bewährungsprobe akzeptiert werden.“
Das ist doch ein ein gutes Beispiel für den sozialdarwinististischen (Wissenschafts-)Marktradikalismus, der sich in der Wissenschaftstheorie allerorten kundtut. Mir scheint es sowieso nicht unangebracht – unter dem Vorbehalt, den immanenten Gehalt einer Theorie nicht aus dem Blick zu verlieren – Wissenschaftstheorie, vor allem in ihren forschungspraktischen Gestalten, als Reflexionsform der eigenen notwendigen Veräußerung von Arbeitskraft und Stellung zum Diskurs (sprich: Gerangel um die universitären Fressnäpfe) zu verstehen.
Klar, alles. Aber wenn es heute noch einen publiken Oevermann gäbe, den ich 2003 auch selbst drei Tage mal am Stück erlebt habe, dann wäre das Interesse an kritischer Theorie wohl doch stärker heute. – Die Mini-Differenzen reißen manchmal das Maxi-Gemeinsam auseinander.