Der Sieg der Hamas bedeutet ihr Ende

350 tote Israelis, 1900 Verwundete, eine unbekannte Zahl („Dutzende“) an Israelis entführt – es ist für mich als Freund Israels nicht leicht, die Bilder des Überfalls der Hamas auf sämtliche Siedlungen im Umfeld des Gaza-Streifens als real einzuordnen oder überhaupt zu kommentieren. Die über zwei Jahrzehnte aufgebaute militärtechnologische Überlegenheit und die relative Sicherheit, die der Sicherheitszaun und die Mauerteile nach der zweiten Intifada mit sich brachten, erzeugten ein falsches Gefühl von Sicherheit: Israel würde es schon irgendwie schaffen, den Djihadismus langfristig auf Abstand zu halten, mit überlegenen Geheimdiensten, Merkavas, Iron Dome, Luftwaffe und allem.

Nun wird der Weltöffentlichkeit vor Augen geführt, dass die angeblich bestbewachte Grenze der Welt, die angebliche „Apartheid-Mauer“, nur ein Zaun war. Ein Zaun, der an vielen Stellen offenbar nicht einmal ansatzweise der europäischen Sperranlage entspricht, die EU-Staaten teilweise binnen wenigen Monaten zur Abwehr von wehrlosen Geflüchteten aufbauten.

Die Zahl der beteiligten Kämpfer spricht dafür, dass hier ein Geheimbund innerhalb der Hamas die Planung ausgeführt hat und dann Untergruppen auf sehr kurzen Zuruf spontan aktiv wurden. Geheimbünde sind eine alte Strategie von Aufstandsbewegungen: Ludditen, der Bund der Kommunisten, Gelaohui und viele andere hatten Strategien entwickelt, Spitzel zu enttarnen oder fernzuhalten und Kommunikationsnetze ohne Überwachung aufzubauen.
Nur so lässt sich das vollständige Versagen der Geheimdienste erklären. Die klandestine Vorbereitung des massenhaften Abfeuerns tausender Raketen allerdings verweist auf tiefe Defizite bei Mossad und Shin Bet, wie auch beim Militär. Am Ende des Sukkot-Festes, an einem Shabbat, waren die Grenzposten offenbar verwaist oder unter der Grenze der Wehrfähigkeit besetzt.

Benjamin Netanyahu, der über lange Zeit für die Sicherheit Israels einstand und deshalb von der internationalen antisemitischen Presse als „der Jude“ gezeichnet wurde, wie vor ihm Ariel Sharon, dürfte an diesem Versagen stürzen. Er hat Lapid und Gantz eine Notstandsregierung angeboten, aber das Eindringen hunderter Kämpfer aus Gaza ins israelische Kernland, umherfahrende Hamas-Pickups in Sderot, das wird von den israelischen Wähler*innen nicht vergessen werden. 17 Stunden konnte die Hamas das Kibbutz Be’eri kontrollieren und die über 1000 Einwohner*innen terrorisieren, Häuser anzünden, Menschen entführen und ermorden.

Vermutlich über einhundert israelische Geiseln aus Folter und Geiselhaft zu befreien, ist nach dem Austausch von Gilad Schalit gegen 1027 palästinensische Häftlinge nur zu den Konditionen der Hamas möglich: Freilassung aller palästinensischer Gefangener. Das streicht zusätzlich Jahrzehnte an Geheimdienst- und Polizeiarbeit durch, die dazu führten, diese Häftlinge zu ergreifen. Die einzige Alternative wäre der Versuch, einer gewaltsamen Befreiung aller Geiseln im Gaza-Streifen, unter extrem hohen Verlusten und in der Gewissheit, dass einige Geiseln womöglich schon aus dem Gaza-Streifen herausgeschmuggelt wurden. Das Versagen der IDF und damit den Sieg der Hamas anzuerkennen und den Austausch abzuschließen, muss rasch und konsequent geschehen, um danach den Krieg gegen die Hamas professionell durchführen zu können und möglichst viele der freigelassenen Djihadisten wieder einzufangen oder zu töten, bevor sie erneut Terror gegen Israelis verüben können.

Dass es niemals Frieden mit der Hamas geben wird, war klar. Es befreit in der derzeitigen Situation aber auch von der Pflicht, eine rasche Lösung zu erzielen oder einen raschen Sieg zu präsentieren. Die Schadensbegrenzung ist weitgehend abgeschlossen, die Siedlungen wieder befreit, die Grenze weitgehend wieder gesichert, auch wenn unbekannt ist, ob sich noch Zellen der Hamas in Verstecken in Israel aufhalten. Vergeltungsschläge wären dem Gefangenenaustausch und dem weiteren Vorgehen nur abträglich. Die Zerstörung von zwei Hochhaustürmen in Gaza erfolgte aufgrund der dortigen Hamas-Basen und nach Warnung der Bewohner*innen. Der entsetzte Schrei einer Al-Jazeera-Korrespondentin vor dem Hintergrund der Türme dürfte daher Teil einer Inszenierung sein, die den Hintergrund bewusst ausgewählt hat.

Im Norden hat unterdessen die Hisbollah Raketen gezündet. Entweder war dieser Zweifrontenangriff abgesprochen, oder die Hisbollah reagiert opportunistisch auf diese Gelegenheit, Israel größtmöglichen Schaden zuzufügen. Serverangriffe auf die Jerusalem Post am Mittag des 8.10.2023 mit einem seit über einer Stunde andauernden Ausfall der Seite sprechen dafür, dass hier auch einige Geheimdienste anderer Staaten mitmischten, und der Verdacht fällt natürlich auch auf Russland und Syrien, die Bündnispartner Irans.

In den Foren lebt wieder einmal der Antisemitismus auf, mit der Täter-Opfer-Verkehrung als Hauptstrategie: Die eigentlichen Opfer seien die Palästinenser, der Djihadismus sei nur verzweifelte Reaktion auf angeblich unhaltbare Zustände. Immerhin sorgen einige Luftaufnahmen auch dafür, dass Gazas Villenviertel gezeigt werden und dass die Hamas eine ständige Bedrohung für Israels territoriale Integrität ist, kann angesichts der von der Hamas verbreiteten Videos von Folter und Mord an wehrlosen israelischen Menschen niemand mehr leugnen.

Ein lesenswerter Kommentar von Haviv Rettig Gur in der Israel Times sieht einen Phyrrus-Sieg der Hamas: ein starkes Israel konnte die Hamas tolerieren, ein verwundetes, geschwächtes Israels wird die Hamas nicht mehr dulden können. Der Sieg der Hamas bedeutet das Ende der Hamas.

Der Djihadismus hat mit seinem Video von weitgehend unbewaffneten Männern, die durch den Zaun nach Israel ziehen und dort in Ekstase den Boden küssen, den größten Propaganda-Erfolg seit dem Islamischen Staat in Syrien und Irak und seit dem Siegeszug der Taliban in Afghanistan erzielt. Hier schließt sich wieder einmal sein ewiger Zirkel von Aufstieg, Niederlage und Wiedererstarken, der Kernerzählung des Islam ist. An diesen Bildern lässt sich den westlichen Medien das Propagandamärchen vom geraubten Land und vom Volk ohne Land erzählen – als wären Palästinenser*innen keine arabische Gesellschaft und als gäbe es nicht die arabischen Staaten, von denen sie in Jordanien die Bevölkerungsmehrheit stellen; als hätten Jüd*innen nicht immer wieder ihr verbrieftes Recht auf das gesamte Land westlich des Jordans in Verhandlungen zur Disposition gestellt, während die mehrheitlich erst im späten 19. Jahrhundert aus Syrien, Libanon, Jordanien eingewanderten Araber*innen und die arabischen Staaten immer wieder jeden Frieden ablehnten und nicht ein Land für Araber*innen, sondern ein Land ohne Jüd*innen wollen. Für die arabische Öffentlichkeit filmte die Hamas daher ihre Massaker und Geiselnahmen, die öffentliche Misshandlung von jüdischen Geiseln auf einem Triumphzug durch Gaza, die öffentliche Peinigung von jüdischen Kindern durch arabische Kinder auf den Straßen Gazas. Das ist der Kern des „Widerstandes“: Die Erniedrigung der Jüdinnen und Juden durch das islamische Kollektiv, das durch die jüdische Emanzipation gekränkt wurde.

Die Geschichte des Judentums ist jedoch ebenfalls eine von Aufstieg, Niederlage und Erneuerung – seit über 2500 Jahren und durch weitaus größtere Niederlagen und durch ein fast zwei Jahrtausende währendes Exil, durch antisemitische Erniedrigung unter islamischer und christlicher Herrschaft hindurch. Anders als Palästinenser*innen können Jüd*innen nirgendwo anders selbstbestimmt und sicher vor antisemitischer Gesetzgebung leben. Der Staat Israel wird den Angriff der Hamas überleben, weil er muss.

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