Filipp Piatov diagnostiziert in seinem Beitrag zur Beschneidungsdebatte jenen Individuen, die nun die Beschneidung kritisieren, eine „latente Unehrlichkeit“:
Menschen, die sich in jede Israel-Debatte werfen und den jüdischen Staat bis in den Himmel loben, ihn überall verteidigen und Antisemiten kampfeslustig enttarnen. Allerdings hat sich bei diesen glühenden Israelfreunden unbemerkt ein Zwiespalt eingeschlichen, der die latente Unehrlichkeit ihres positiven Israel-Knacks‘ offenbart.
Piatovs Argumentation lautet: Die Beschneidung ist einer der essentiellsten Bestandteile des Judentums. Das religiöse Judentum allein habe den jüdischen Kollektivgedanken getragen und verteidigt und ohne diesen Kollektivgedanken sei Israel undenkbar. Daher ist ein Angriff auf die Beschneidung ein Angriff auf das religiöse Judentum und damit auf Israel. Daher sind die Beschneidungsgegner latent unehrlich. Eine solche Argumentation entbehrt nicht einer gewissen Logik und Wahrheit. Piatov unterstellt aber, dass sein Argument den aufgeklärteren Beschneidungsgegnern entweder unbekannt oder egal ist.
Doch sobald der Jude sein Kind beschneiden will, einen Tag fastet und am Shabbat den PC aus lässt, verliert er seine hippen Eigenschaften und entspricht plötzlich so garnicht mehr dem liberalen Weltbild seiner ehemaligen Unterstützer. Und ist er dann nicht mal mehr bereit, seine eigentlich vorhandene Diskussionsliebe auf religiöse Grundpflichten anzuwenden, so wird aus dem netten Shlomo der fanatische Fundi.
Hier wirft Piatov kosher essen und Shabbat mit der Beschneidung in einen Topf, was ein Bedürfnis nach Verharmlosung ausdrückt und damit ein verdrängtes Bewusstsein der Drastik des Eingriffs. Die eigentliche Frage an ihn ist aber die, wo er diesen Umschlag vom netten Shlomo zum fanatischen Fundi ausmacht. Es dürfte jedem der von ihm angesprochenen Diskussionsteilnehmer – Thomas von der Osten-Sacken, Gideon Böss, Alan Posener, und in der Sache fühle ich mich mitgemeint – bewusst sein, dass die Kritik der Beschneidung jung ist und aus ihrer Abwehr mitnichten gleich auf Fanatismus geschlossen werden kann. Diesen Personen ist sehr sicher das theologische Dilemma bewusst, in dem sich das religiöse Judentum befindet, sie nehmen keine altkluge, sondern eine avantgardistische Position ein. Der Unterschied ist: Sie haben wahrscheinlich mehr Zuversicht in die Flexibilität jüdischer Theologie und jüdischer Gemeinden als Piatov, der sich Einmischung in theologische Debatten verbittet.
Muslimische Stimmen in der Diskussion sind relativ unterrepräsentiert, was wohl daran liegt, dass die Beschneidung für Muslime Sunna, und damit nicht verpflichtend ist:
Bei den Moslems entscheidet die Beschneidung nicht über die Zugehörigkeit. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Sunna des Propheten Ibrahim und gehört zur natürlichen Hygiene. Es gibt unterschiedliche Strömungen. Nach einigen Imamen wird die Beschneidung empfohlen, nach anderen ist sie zwingend.
Entsprechend der Sunna wird den Eltern geraten, die Beschneidung am siebten Tag nach der Geburt (einschließlich des Geburtstages) vorzunehmen. Sie kann aber auch früher oder später erfolgen, jedoch aus medizinischer Sicht nicht vor dem 4. Tag nach der Geburt. Wer den Eingriff vornimmt, bleibt den Eltern freigestellt.
Piatov hat in einem Punkt zweifellos recht: Das Verbot stellt allein das religiöse Judentum vor eine existentielle Herausforderung. Er streitet zwar nichtreligiösen Menschen, und hier trennt er nicht zwischen Juden und Nichtjuden, die Fähigkeit zur theologischen Exegese ab. Er kann aber auch selbst nichts Argumentähnliches dazu beitragen. Der jüdische Gott als literarische Figur ist nun mal kein auf Literalismus geeichter Gott: Er ist fehlbar und lässt sich mitunter von Argumenten der Menschen überzeugen. Sein Zorn reut ihn ebenso wie seine vergangenen Fehler. Er ist ein zutiefst historischer Gott, der über die Jahrtausende der Überlieferung Gesetze vermittelt, die meist den jeweiligen historischen Bedingungen angemessen sind. Was im Buch Richter steht, widerspricht dem Buch Könige und das wiederum den späteren Propheten. Aus dieser objektiven historischen Vernunft des religiösen Judentums, seinem aufklärerischen Gehalt ergibt sich auch die ambivalente Zuversicht der Atheisten, dass ein Verbot der Beschneidung von Kindern nicht in einem Untergang des religiösen Judentums münden muss. Es überlässt diese Diskussion aber tatsächlich den religiösen Juden und folgt damit der Forderung Piatovs. Frank Furedi kontextualisiert das theologische Prinzip in seiner Polemik:
The Hasmonean Jewish revolt, in the second century BC, was a response to attempts by their Hellenic rulers to make them give up their ‘barbaric’ customs and adopt a more civilised way of life. One of the catalysts for the revolt was a decree by the Seleucid emperor Antiochus IV, which commanded Jews to leave their sons uncircumcised or face death. This decree, targeting the ‘barbaric’ behaviour of an ‘uneducated’ people, was part of a comprehensive campaign to destroy the Jewish way of life. It is not surprising that the revolt against it, led by Judah Maccabee, is considered one of the defining moments of Judaism. That is why, for any Jew with an historic memory, the current crusade against circumcision will be seen as a less brutal version of the Hellenic project to make Jews more ‘civilised’.
Furedis angenehm ausführlicher Text ist eine wertvolle Infragestellung zahlloser Ressentiments und Unterströmungen der Beschneidungsdiskussion und ausdrücklich zur Lektüre empfohlen. Grundsätzlich sieht er das Recht der Eltern auf jegliche Handlung gegen den Willen des Kindes in Frage gestellt. Hier unterschlägt er das Problem, dass sich alle Eltern vor dem mündigen Kind für alle diese Akte rechtfertigen müssen und für die allermeisten erzieherischen Akte die Zustimmung des reifen Individuums erhalten werden: Es war gut, dass die Eltern einem verboten haben, den heißen Ofen anzufassen. Es war zumindest nicht so schlimm, dass sie einen zum Klavierspielüben ermahnt haben. Für die Beschneidung gibt es aber die Möglichkeit der rationalen Ablehnung des reifen Individuums und somit der fundamentalen unwiderrufbaren Integritätsverletzung. Ein reifes Individuum kann den Eltern zu Recht vorwerfen, durch die Beschneidung beeinträchtigt worden zu sein und hat dann keine Möglichkeit der Reparation mehr. Zu Recht wurde auch die massenhafte, international übliche Praxis der Ohrfeige verboten, auch wenn Millionen Eltern tief überzeugt waren, sie zum Wohle des Kindes auszuüben und sie das Kind auch herzlich trösteten, wenn es danach weinte. Furedi verwechselt Widerspruch und Zustimmung des unreifen Kindes gegen rationale Erziehungsmaßnahmen mit nicht (mehr) oder allenfalls begrenzt rationalen körperlichen Veränderungen, die durch das reife Individuum nur noch betrauert werden können.
Eine weitere Strategie Furedis ist, die Ressentiments nachzuweisen, die über die psychologische Konstitution der Beschneidenden kursieren. Hier ist ihm bedingungslos recht zu geben: es besteht keine zwangsläufige pathologische Konstitution der beschneidenden Individuen. Das ist auch eine Grunderkenntnis der Ritualforschung. Ein Inquisitor konnte die als Hexe gemarterte Person bemitleiden und die Folter abscheulich finden, er musste kein Sadist sein, um dennoch die ekelerregende Folter für absolut notwendig zu halten und durchzuführen. Eine Mutter kann ihr beschnittenes Kind bemitleiden, mitunter stärker traumatisiert werden als das Kind selbst, einem Mohel wird seine Arbeit zuwider sein, wenn das Kind starke Schmerzen hat oder ihm ein Fehler unterläuft. Pathologie und begriffsloses Befolgen von normativen gesellschaftlichen Erwartungen sind auf der individualpsychologischen Ebene grundsätzlich unterschiedliche Phänomene. Pathisch wird der Reflexionsausfall, sobald Reflexion eine Wahlmöglichkeit ist.
Furedi hat sich mit dieser Depathologisierungs-Strategie aber schon wieder der Kerndiskussion entzogen: Ob die Beschneidung selbst ein schädliches oder verzichtbares Ritual ist. Auch seine Argumentation bedarf der Verharmlosung der Beschneidung und des Verweises auf die massenhafte problemlose Anwendung. Vor jeder religiösen Diskussion sollte also die Frage ausführlich geklärt werden, ob die Beschneidung trotz ihrer jahrtausendelangen, religionsübergreifenden, säkularen Anwendung und trotz ihres unbestreitbaren Präventivcharakters bislang vernachlässigte Probleme aufweist, die all jene Vorteile und Partikularinteressen aufwiegen.
Ein von den Gegnern der Gegner vernachlässigtes Problem besteht im Relativismus. Für Thomas von der Osten-Sacken und andere individualistisch argumentierende Positionen (darunter meine) stellt sich primär die Frage der Integrität der eigenen Position. Wenn Aktivisten gegen weibliche Genitalverstümmelung von anderen Religionen erwarten, dass sie zentrale Rituale aufgeben, weil sie das Individuum schädigen, dann müssen wir an die mächtigen Religionen und die Jungenbeschneidung die gleichen Maßstäbe anlegen. Falls die Frage ist, ob sich meine atheistische Positionen für aufgeklärter, „zivilisierter“ als das religiöse Judentum hält: Ja. Meine atheistische, universalistische Position ist paternalistisch, ich habe aber kein Problem damit, es besser zu wissen und ich halte „das Andere“ für fähig genug, dieses bessere Wissen auch einzusehen und zu begreifen oder zumindest zu diskutieren und zu falsifizieren. Gegen – auch von Atheisten gehegte Ressentiments – werde ich das religiöse Judentum in der Beschneidungsdebatte verteidigen, wie ich es bisher – unter anderem mit theologischen Argumenten – gegen vulgäratheistische und ahnungslose Anwürfe verteidigt habe. Die Position des Atheismus aber ist avantgardistisch und muss sich nicht gegen den Vorwurf rechtfertigen, Religionen und auch die jüdische abschaffen zu wollen. Dieser Vorwurf ist wahr und banal, kritikabel wäre, wenn diese Position selbst wieder religiös oder totalitär wird, indem sie unaufgeklärte Aufklärung als unbestimmten Selbstzweck und besinnungslos praktiziert.
Der Antisemitismus hat mit der Beschneidungsdiskussion erst dann etwas zu tun, wenn zum Beispiel nachgewiesen werden kann, dass über die Beschneidung das religiöse Judentum abgeschafft werden soll. Diese Wirkung wäre nur als Absicht antisemitisch, weil die Beschneidung dann nachweislich instrumentell verwendet würde und das Ziel „das Judentum“ unabhängig von spezifischem Verhalten oder Ritus ist. Es ist aber sicher nicht die Absicht von Osten-Sacken, Boess und mir, aus lauter Bösartigkeit heraus das religiöse Judentum vor blöde Rechtslagen und theologische Zwickmühlen zu stellen, sondern diese Autoren stellen die Jungenbeschneidung in Frage, die muslimische, jüdische, afrikanische, säkulare. Tatsächlich glaubt wohl keiner der erwähnten Autoren, zumindest ich, nicht, dass das ohnehin unverbindliche, fallspezifische Urteil in absehbarer Zeit allgemeines Recht werden wird – Deutschland ist zu sehr auf Kultur, Kindergottesdienst und Kollektiv gebürstet und die Kanzlerin Merkel fürchtet schon das Stigma einer „Komikernation“. Es besteht aber die Möglichkeit, das Problem als solches gesellschaftlich zu diskutieren und aus der Selbstverständlichkeit heraus zu bugsieren. Die rituelle Beschneidung wird wohl nicht in den nächsten 100 Jahren fallen, aber vielleicht werden sich, wenn die Debatte anhält, mehr und mehr Menschen entschließen, doch etwas besser darüber nachzudenken und im Interesse ihres Kindes zumindest mehr Wissen und Beratung über mögliche Folgen einzuholen. Und mehr und mehr beschnittene Erwachsene werden aufhören, unbewusst sich selbst oder Unbeschnittene abzuwerten und besser zur Trauer um diesen verlorenen Körperteil in der Lage sein, die erfüllte Lust ohne diesen Körperteil ermöglichen kann.
Furedi schließt seinen Text mit einer Anklage:
What makes the anti-circumcision campaign insidious is not simply its intolerance of the religious freedom of others, but also its arrogant assumption that it has the right to tell other people how they should lead their lives. If I were a religious believer, I would ask: ‘Who made them God?’
Furedi, der vorgebliche Agnostiker, umgeht das Problem der Aufklärung und des Nietzscheanischen Gottesproblems. Die Arroganz des Besserwissenden ist dem besseren Wissen inhärent. Aufklärung ist arrogant, sie sagt anderen Menschen, wie sie ihr Leben besser führen sollten. Furedi beklagt das, aber er hat ein logisches Problem: Er selbst sagt Beschneidungsgegnern, wie sie sich zu äußern haben, wie sie ihr Leben zu führen haben und letzendlich befürwortet er, dass Eltern ihren Kindern auf den Leib schreiben, wie sie zu leben haben – Furedi macht seiner eigenen Argumentationsweise folgend Eltern zu Gott.
Kehren wir nach diesem Exkurs zur Kernfrage zurück: Ist die Beschneidung ein schwerer Eingriff? Fest steht bereits, dass die Befürworter eine Sprache der Verharmlosung pflegen, die für sich schon die verdrängte Schwere des Eingriffs bezeugt. Floris Biskamp in der Jungle World ist schon im Titel ganz immun gegen Schmerzen und Verlust: „Kampf der Supermänner – warum das Verbot harmloser religiöser Rituale nicht Teil einer säkularen, religionskritischen Position ist.“ Biskamp orchestriert die Verächtlichkeit des Gejammers, hier gehe es um Lappalien wie kosher essen, Cannabisrauchen oder Beethovenschallplatten rückwärts hören.
Das Mindeste, was nötig wäre, um die religiös begründete Beschneidung der Vorhaut von Jungen als einen solchen Normbruch zu kennzeichnen und ein staatliches Verbot zu legitimieren, wäre ein weitgehender medizinischer und psychologischer Konsens darüber, dass es sich bei der Beschneidung tatsächlich um eine »schwere und irreversible Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit« handelt, wie es das Kölner Landgericht behauptet. Von einem solchen Konsens kann jedoch keine Rede sein. Die in Judentum und Islam vorgenommene Beschneidung ist nüchtern betrachtet eine Unannehmlichkeit, die man den Jungen ersparen könnte, sie zieht aber bei sachgemäßer Operationshygiene und Narkose weder gesundheitliche noch sexuelle Beeinträchtigungen nach sich. Sie kann getrost unter die zahlreichen Entscheidungen eingereiht werden, die Erziehungsberechtigte für ihre Kinder treffen müssen und die deren späteres Leben irreversibel beeinflussen: Das betrifft die Ernährung, die Wahl der Schule, den Medienkonsum, die kieferorthopädische Behandlung und so weiter. Irgendwo in diesen Katalog gehört die Frage der Beschneidung von Jungen – und nicht unbedingt an die vorderste Stelle.
Er kann schlichtweg nicht nachweisen, dass diese „Unannehmlichkeit“ weder gesundheitliche noch sexuelle Beeinträchtigungen nach sich zieht, es ist zumindest umstritten. Sehr wohl gibt es Studien, die teilweise erschreckend signifikante statistische Werte für beschneidungsspezifische Missempfindungen ermitteln. Ich habe argumentiert, dass die Nichtbeschneidung in Bezug auf mögliche Phimosen ebenso zu Missempfindungen führen kann, aber das wiegt meines Erachtens das andere nicht auf. Wer die Beschneidung bewusst erlebt hat, wird sie schwerlich als „Unannehmlichkeit“ einstufen. Sie ist eine mehrminütige Operation, bei der Nervenstränge durchtrennt werden und die im traditionellen religiösen Ritus und bis vor einigen Jahren auch in der ärztlichen Praxis ohne signifikante Betäubung durchgeführt wird. Die Diskussion der Traumatisierung und Altersspezifik habe ich unten bereits diskutiert.
Betreten wir also noch einmal das medizinische Argument, weil es nicht häufig genug widerholt werden kann:
„Die Vorhaut macht rund 50 bis 80% des Hautsystems des Penis aus, je nach Länge des Penisschafts. Die durchschnittliche Vorhaut hat über 3 Fuß (ungefähr 1 m) an Venen, Arterien und Kapillaren, 240 Fuß (73 m) an Nervenfasern und mehr als 20000 Nervenendungen. Aufgefaltet misst die Vorhaut circa 10 bis 15 Quadratzoll (65 bis 100 cm²). Das entspricht ungefähr der Fläche einer Fünf-Pfund-Note.“
Natürlich nur der Fläche einer Seite einer Fünf-Pfund-Note. Die weiteren Funktionen können an jeder medizinischen Quelle nachgelesen werden, sie betreffen sowohl positive Eigenschaften der Vorhaut-Sekrete als auch eine Erleichterung des Geschlechtsaktes. Ein ausführlicher Kommentar zum Urteil findet sich auf: http://www.beschneidung-von-jungen.de/home/erklaerung-zum-koelner-beschneidungsurteil.html
Tatsächlich gelten die medizinischen Argumente den Befürwortern nichts, sie werden nicht einmal diskutiert. Man stellt sich nicht dem Widerspruch und kommuniziert eine falsche Selbstverständlichkeit. Die Vorhaut gilt konsensuell als das Böse, Schlechte, Verderbte. „Auf der faulen Vorhaut liegen“ phrasendrischt ein FR-Schreiberling, andere sehen die Welt „an der deutschen Vorhaut genesen“, allgemein wird äußerste Beziehungslosigkeit zu diesem anscheinend ungeliebten Körperteil vermittelt, ein stinkendes, winziges, hässliches Fetzchen, um das es nie schade ist.
Von barbarischer Härte geprägt sind einige Lobesreden auf die Beschneidung: Der Mann könne „länger“ oder „intensiver“ etwas leisten und bei der Frau bewirken. Er ist in diesem Argument seines eigenen Rechts auf Lust beraubt, seine Lust wird aus der Versorgung der Frau mit einer maximierten Dosis Penis abgeleitet. Wenig bekannt ist, dass die Beschneidung in den USA nicht aus hygienischen Gründen sondern aus der Anti-Masturbationsbewegung heraus gefördert wurde. Es wird noch zum Vorteil des Mannes umgedichtet, weniger empfinden zu können, und das stellt sich durchaus in eine Reihe mit der Barbarei der toughen Männlichkeit.
Auch der präventive Schutz vor Krankheiten ist ein Scheinargument. Wenn die WHO die Beschneidung empfiehlt, so ist das eher ein Zeichen von Hilflosigkeit gegenüber dem Scheitern von Aufklärung. HIV korrelliert zuallererst mit Misogynie und sexueller Gewalt gegen Frauen, dann mit Aufklärung und dann irgendwann vielleicht einmal mit der Beschneidung. Dass gerade Kritiker des Nexus „Hygiene-Staat-Macht“ auf dieses Argument hereinfallen und eine Körpermodifizierung aus hygienischem Interesse anempfehlen, ist bemerkenswert.
Die Phimose stellte früher zweifellos ein Problem dar, ist aber heute sehr gut und auch unter Beibehaltung der Vorhaut behandelbar, auch wenn aufgrund allgemeiner gesellschaftlicher Klemmigkeit wenig darüber aufgeklärt wird.
Die Ambivalenz der jeweiligen Positionen, die beide in verdrängten Sexualneid oder Kastrationskomplexen verbleiben können, wurde ebenfalls unten diskutiert.
Biskamp argumentiert allerdings so originell, dass ich ihn zu Wort kommen lassen möchte:
Während dieses Theorem davon ausgeht, dass die übertriebene Ablehnung der Beschneidung auf eine Abneigung gegen Islam oder Judentum zurückgeht, könnten auch umgekehrt die Phantasien über die Beschneidung ein Ursprung des Ressentiments gegen Juden und Muslime sein. Davon jedenfalls war Sigmund Freud überzeugt, der zu dem Schluss kam, dass der von ihm beschriebene Kastrationskomplex »die tiefste unbewusste Wurzel des Antisemitismus« sei. Durch die als Kastration fehlinterpretierte Beschneidung werde die von Jungen in der Kindheit entwickelte Angst, vom übermächtigen Vater zur Strafe für die Freude am eigenen Penis und die Begierde nach der Mutter kastriert zu werden, aktiviert und projektiv nach außen gewandt: als Verachtung, Hass und Angst gegenüber der die Beschneidung praktizierenden Religionsgemeinschaft.
Das ist im tiefenpsychologischen Kern annähernd richtig, rechtfertigt aber nicht die Beschneidung. Vielmehr wird die gesellschaftliche Gewalt, der kulturindustrielle Charakter, der religiöse Kontext der jeweiligen Antisemitismen auf den ontologischen Kastrationskomplex eingedampft und implizit die Beschneidung als Wirkstoff gegen diesen angeführt. Wahlweise bleibt das Argument der Härte: Um den Antisemiten nichts nachzugeben, sollte die Beschneidung beibehalten werden. Mit den verhandelten Rechten der Individuen hat das nichts zu tun. Freud jedenfalls ließ allen biographischen Hinweisen gemäß seine Söhne nicht beschneiden und zeitgenössische jüdische Ärzte forderten bereits mit einigem Erfolg die Abschaffung der Beschneidung. (S. „Freud, Moses und die monotheistische Religion. Ein Essay.“ Pieter van den Berg. Via Tilman Tarach)
An dieser Stelle sei auch nochmals das Comic „Foreskin Man“ erwähnt: Es ist primär ein Comic. Comics dürfen Charaktere stereotyp zeichnen, sie haben es immer getan und nicht wenige verwendeten rassistische Formen. Foreskin Man aber könnte ebenso gut jüdisch sein, wie er überarisch gezeichnet ist. Wie die Charaktere antisemitisch visualisiert werden, ist so offensichtlich, dass es schon wieder auf Selbstironie hinausläuft. Hier wird nichts im Unklaren belassen, man braucht keine „Analyse“ dafür. Erwähnt werden sollte aber, dass im Comic die jüdische Mutter ihr jüdisches Kind vor der Beschneidung beschützt sehen will und, ganz unrassistisch und progressiv auch schwarze Charaktere eingeführt werden, die zum Beispiel als „Vulva-Girl“ FGM bekämpfen. Wenn ich diese ironische Komplexität unten verkürzt habe, nehme ich das hiermit zurück. Eine naive, vom Comic unabhängige Wiederholung dieser Stereotype findet sich in der Beschneidungsdebatte allemal. Diese Stereotype werden aber nicht aufgelöst, wenn nicht die Beschneidung objektiv diskutiert wird und man dahergezauberte Fakten auch einmal überprüft.
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Nachtrag:
Ivo Bozic hat unter dem markigen Titel „Cut and Go“ in der Jungle World eine ebenfalls recht originelle Strategie eingeschlagen. Studien gebe es auch zu hunderten über Mobiltelefone (auch über Antisemitismus oder Passivrauchen, wie wir wissen), daher müsse man sich keine wissenschaftliche Meinung bilden, sondern irgendeiner natürlichen Vernunft lauschen. Die äußert sich dann so:
dass bei der Beschneidung, nur ein paar Zentimeter Haut entfernt werden, was, selbst wenn man allen kritischen Studien glaubt, in der Regel ohne Folgen bleibt, während operative Eingriffe zur Vereinheitlichung des Geschlechts Einfluss auf das gesamte Leben der Betroffenen haben.
Das ist erstmal kein Argument, sondern mindestens 3. Erstens, dass „operative Eingriffe zur Vereinheitlichung des Geschlechts Einfluss auf das gesamte Leben der Betroffenen haben„. Unbestritten. Das wurde aber im konkreten Urteil nicht verhandelt und hier das eine gegen das andere auszuspielen macht wenig Sinn, aber mächtig Stimmung.
Dann wieder die Verächtlichmachung der elenden Vorhaut: „nur ein paar Zentimeter Haut„. Bozic weiß es ja nicht so genau, ist es die Eichel oder doch die Vorhaut, die wichtiger sind und deshalb kann es ja nicht so schlimm sein. Es sind 60-100 cm² Penishaut, die in einer Operation zur Zeit meistens ohne Narkose entfernt oder am Entstehen gehindert werden. Ich weiß natürlich, dass man ohne leben kann und auch ein einigermaßen erfülltes Sexualleben genießen kann. Vielleicht weiß es auch Ivo Bozic. Zahlreiche andere erinnern sich mit Unmut und lieber nicht an ihre Beschneidung und viele, die sich nicht erinnern, haben dennoch Probleme damit. Was ihre Sache eigentlich mit jener der Geschlechtsumwandlungen vereinen sollte.
In einem Argument sieht er meinem vormals stärksten Argument für die Beschneidung gleich:
Dass acht Prozent aller Männer weltweit mit Phimose, einer krankhaften Vorhautverengung, zu kämpfen haben, ist Gegenstand ungezählter Untersuchungen, die Folgen körperlicher Art sind nachgewiesen und unbestreitbar.
Auch dieses Phänomen ist mir recht gut bekannt. Man braucht aber zur Entkräftung keine wissenschaftliche Studien, weil es Faktenwissen ist, dass die Phimose fast immer ohne Operation behandelt werden kann und heute nur in wenigen Ausnahmen der verbleibenden Fälle (z.B. Lichensklerose) eine komplette Beschneidung erforderlich ist, weil vorhauterhaltende operative Techniken entwickelt wurden.
Dank seiner lapidaren, wurstigen Behandlung von wissenschaftlichen Fakten, bei denen man halt alles nicht so genau wisse, trägt Ivo Bozic wie schon Floris Biskamp und Filipp Piatov zu seiner schlimmsten Befürchtung bei, dass nämlich die ganze Diskursblase darum herum ganz furchtbar werden wird.
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Nachtrag 2: Das schwer widerlegbare anatomische Argument kann auf zahllosen Seiten aufgerufen werden, so zählt stichwortartig die Seite http://www.circumstitions.com/Functions.html 16 biologische und 6 artifizielle Funktionen der Vorhaut auf. Bemerkenswert ist, dass sich durch alle Bildungsschichten, auch in intellektuellen und gut informierten Kreisen, mich bis vor zwei Wochen eingeschlossen, das Vorurteil gehalten hat, die Vorhaut sei überflüssig und praktisch schon totes, zum Abschneiden prädestiniertes Gewebe. Wer es gern audiovisuell mag, wird hier ein wenig Aufklärung finden:
http://www.youtube.com/watch?v=D_dzeDvx2QA&feature=player_detailpage
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Nachtrag 3:
Die gesamte Trilogie zur Beschneidung auf Nichtidentisches ist über folgende Links abrufbar:
Piatov, nicht Piavot.
http://www.cirp.org/library/sex_function/
Merci, am Anfang wars noch richtig, dann schlich sich der Namensfehler ein. Wurde geändert.
Hierhin kopiert von einem Facebook-Kommentar von Joachim Helfer, der das Philosemitismusproblem bei Piatov trifft:
„Besonders deprimierend an der Argumentation von Piatov finde ich, dass er nicht-jüdischen Menschen, die sich schützend vor Juden und Israel stellen, wo ihre/ seine Rechte bestritten, sie/es angegriffen werden – einen ‚positiven Israel-Knacks‘ andichtet. So, als bedürfte es einer Pathologie, jedenfalls eines Bias‘, um für gleiche Rechte und Freiheiten von Menschen und Staaten einzutreten. Die deprimierend hirnrissige Unterstellung daran: Nur ein Philosemit kann Juden oder Israel gegen Antisemitismus, Verfolgung, Terror, die angedrohte Vernichtung schützen wollen. Dieser grauenvolle Tribalismus. Es ist einfach nur traurig.“
Abgesehen von jeglicher Debatte sag ichs mal auf dumm:
Ich finds ziemlich geil daß ich oder eine schöne Frau die Vorhaut rauf und runter bewegen können. 8)
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@ Felix Riedl:
„Und mehr und mehr beschnittene Erwachsene werden aufhören, unbewusst sich selbst oder Unbeschnittene abzuwerten und besser zur Trauer um diesen verlorenen Körperteil in der Lage sein, die Grundvoraussetzung für die erfüllte Lust ohne diesen Körperteil ist.“
LOL! Jetzt habe ich tatsächlich jahrelang ein erfülltes Sexualleben geführt und erst jetzt erfahre ich durch einen deutschen Blogger, dass das ja unmöglich ist, weil ich nie um meinen verlorenen „Körperteil“ getrauert habe. Wie sollte ich jetzt am besten weiter vorgehen, Herr Riedl?
Sorry, aber bei mir wurde die Beschneidung aufgrund einer Phimose vor über 50 Jahren ambulant beim Kinderarzt durchgeführt, und zwar in Vollnarkose! Keinerlei Schmerzen, auch in den Wochen der Heilung nicht.
@mez: Da ist ein kleiner Widerspruch, ich ändere das ab. Obwohl in dem LOL ja auch wieder ein Verlachen des Problems steckt, das sie sich vielleicht mit etwas misstrauischeren analytischen Ohren anhören sollten.
@ Felix Riedel:
Ich hatte schon vermutet, dass ich jetzt in den Genuß einer fundierten psychoanalytischen Betrachtung über ein WordPress-Kommentarfenster kommen würde, wenn ich hier ein Wort der Kritik hinterlasse. Interessant ist dabei, dass Sie sich gar nicht vorstellen können, dass erwachsene Männer die mit ihrer Beschneidung nicht nur kein Problem haben, sondern sie möglicherweise gut finden. Stellen Sie sich vor, es gibt sogar Männer, die sich im Erwachsenenalter aus freien Stücken beschneiden lassen! Sie hängen denen jedoch allen ein psychisches Problem an, das es zu bewältigen gäbe, und wollen sie zu Opfern machen. Und da müsse nun der Staat her, um diesen „Opfern“ zu „helfen“. Der Rechtsnachfolger des Dritten Reichs soll endlich einschreiten, um die Juden vor ihren grausamen Ritualen zu schützen! Vielen Dank für Ihr Engagement!
Sie sprechen mir aus der Seele.
Sicher werden nicht alle ein Problem haben, aber daß es einen nicht unerheblichen Anteil gibt, der ein Problem damit hat, ist ja unstrittig.
Allerdings ist Ihr Verweis darauf, daß sich manche Männer im Erwachsenenalter beschneiden, noch kein Hinweis darauf, daß diese mit ihrer Entscheidung im Nachgang nicht doch ein Problem haben.
Und mit Ihrer letzten Bemerkung haben Sie eigentlich gezeigt, daß Felix Riedel eben doch zu einem Teil Recht hat. Sonst müßten Sie nicht gleich zur großen Nazi-/ Antisemitismuskeule greifen.
PS: Das Ritual ist grausam.
Im zweiten Satz fehlt ein „existieren,“ nach dem „erwachsene Männer“.
Eine kurze Richtigstellung: Ich bin weder im jungle-Artikel noch privat ein „Befürworter“ der Beschneidung. Vielmehr bin ich einerseits davon überzeugt, dass sich in der aktuellen Debatte massive Ressentiments entladen (da scheinen wir uns einig), und andererseits nicht davon überzeugt, dass ein staatliches Verbot der Beschneidung angemessen ist.
Damit geht kein Relativismus einher. Um zu wiederholen, was ich an anderer Stelle schrieb:
>>>
Ich bin auch eher „gegen Beschneidung von Kindern“ als „für Beschneidung von Kindern“, weil ich die Risiken und möglichen Schäden für größer halte als den abzusehenden Nutzen. Die Frage ist aber, welchen Status dieses Gegen/Für hat. Es ist entscheidend, ob es hier um eine von der meinen abweichende Vorstellung vom guten Leben geht oder um etwas universell Abzulehnendes/zu Befürwortendes.
Ich bin ja auch nicht der Ansicht, dass religiöse Gruppen Sonderrechte haben sollten. Wenn es rationale Gründe gäbe, aus denen keiner ein Recht hat, einen Turm zu bauen, wäre ein Minarettverbot legitim. Wenn es legitime Gründe gäbe, aus denen keiner das Recht hat, eine Kopfbedeckung zu tragen, wäre ein allgemeines Kopftuchverbot legitim. Und wenn keiner das Recht hätte, irreversible und möglicherweise schädliche Entscheidungen für die eigenen Kinder zu treffen, wäre ein Beschneidungsverbot legitim. Dem ist aber nicht so.
Ich bin ebenfalls dafür, dass der Schutz von Kindern vor Körperverletzung mehr zählt als religiöse Rituale, egal wie verbreitet, althergebracht oder zentral sie sind. Allerdings halte ich es nicht für erwiesen, dass die Beschneidung tatsächlich eine „schwere Beeinträchtigung“ darstellt, wie es das Kölner Landgericht behauptet. Entsprechend halte ich das Urteil auch nicht für antisemitisch, sondern für unsachgemäß.
So lange es nicht eine deutliche Mehrheit der psychologischen und medizinischen Einschätzungen ist, die Beschneidung für eine starke Beeinträchtigung der Kinder hält, sehe ich in dieser Praxis eine Vorstellung vom guten Leben, die ich nicht teile, deren Verbot zu befürworten ich mich aber auch nicht anmaßen möchte.
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Es muss doch möglich sein "gegen" etwas zu sein, ohne gleich ein Verbot zu fordern oder zu befürworten.
Die offensive Weise, in der hier Paternalismus vertreten wird, indem Menschen, die sich nicht versehrt fühlen eine Unfähigkeit zu trauern unterstellt wird, ist mir völlig unbegreiflich.
http://starke-meinungen.de/blog/2012/07/17/vorhautkriege/ Ein weiterer Text von Alan Posener.
@mez: Genau darüber schreibe ich, wenn sie genauer hinlesen würden. Sie sagen: „dass Sie sich gar nicht vorstellen können, dass erwachsene Männer die mit ihrer Beschneidung nicht nur kein Problem haben, sondern sie möglicherweise gut finden. Stellen Sie sich vor, es gibt sogar Männer, die sich im Erwachsenenalter aus freien Stücken beschneiden lassen! Sie hängen denen jedoch allen ein psychisches Problem an, das es zu bewältigen gäbe, und wollen sie zu Opfern machen.“
In meinem ersten Artikel zur Diskussion schrieb ich:
„Dieses biologisch-medizinische Argument allein trägt und rechtfertigt das Urteil. Es impliziert aber auch die Behauptung, Beschnittene seien Verstümmelte. Die Mehrheit der Beschnittenen verlacht das oder äußert sich entrüstet und auch ich reagierte zuerst so. Wahrscheinlich ist, dass diese Behauptung unbewussten Sexualneid auf die Unbeschnittenen auslöst und dieser Sexualneid abgewehrt werden muss, um das narzisstische Selbstbild an dieser bedeutsamen Wunde nicht zu kränken. Entsprechend sind die Strategien Verharmlosung und Leugnung der negativen Effekte der Beschneidung und eine Idealisierung der Vorteile.“
Es geht nicht darum, nachzuweisen, dass es erfüllte Sexualität Beschnittener gibt und diese die Beschneidung mitunter gut fanden, sprich, idealisieren. Es genügt der Nachweis der fehlenden medizinischen Vorteile und der Nachweis prinzipieller Nachteile der Beschneidung, zuvörderst Schmerzen, aber auch Verlust eines Organs. Es gibt auch Blinde, die sagen, dass Blindheit keine Behinderung sei, weil sie nie etwas anderes kennen gelernt haben und sie vollkommen glücklich ohne Augen sind. Es gibt auch Menschen, die nie Drogen genommen haben und meinen, sie seien ohne Drogen glücklich. Das sind jeweils nur Vergleichsmodi der Gültigkeit des abstrakten Arguments. Beschneidung wird in aller Regel erfolgreich kompensiert. Relevant sind relevante Zahlen von Fällen von Individuen, die eben ex post NICHT glücklich mit der Beschneidung sind und weiter Fälle, in denen die Beschneidung inakzeptable, unnötige Schmerzen Kindern zufügt. Dass sich Männer im Erwachsenenalter freiwillig beschneiden lassen, hat unter anderem als Grund, dass es kein gesellschaftliches Bewusstsein von der Bedeutung der Vorhaut als sexuellem Organ gibt. Wenn denen dann die Narbe noch dreimal aufgeht, weil sie nachts während der Heilung Erektionen haben, wenn die Eichel anfängt zu schuppen und über ein Jahr hinweg ihre Haut ändert, wenn die Narbe dann vielleicht doch etwas erhaben ist und Melanin-Flecken entstanden sind, wenn es auf einmal beim Sex dann doch etwas länger dauert oder der Urinstrahl nicht mehr wie früher kanalisiert wird, dann denken doch nicht wenige anders über ihren kessen Wunsch, „untenrum“ schön sauber zu sein. Es gibt Studien über erwachsene Männer, die ihre Beschneidung im Nachhinein beurteilen. Ich bestreite aus nicht die Vorteile, sondern ich kritisiere das Ausblenden von Nachteilen. Und der unbestreitbare Nachteil einer Beschneidung ist, dass man keine Vorhaut mehr hat.
Es bleibt bei der Bio-Logik: Die Vorhaut ist anzuerkennen als Organ, die Entfernung des Organs ist ein erheblicher Eingriff, der nur unter medizinischer Notwendigkeit und unter Betäubung bei Minderjährigen durchgeführt werden darf. Was wer wie auch immer später kompensiert und für Vorteile hat, steht bis dahin gar nicht zur Debatte.
@ Felix Riedl:
Sie bestätigen mit Ihrer Antwort doch nur meinen Kritikpunkt, in dem Sie genau dasselbe noch einmal machen. Sie akzeptieren eben nicht, dass es für viele Männer das Normalste der Welt ist, beschnitten zu sein und dass die dementsprechend tatsächlich kein Problem damit haben. Ihrer Meinung nach wurde eben nur „kompensiert“, „verdrängt“, „idealisiert“ und wie auch immer man das im psychoanalytischen Jargon dann noch bezeichnen mag. Ihre Ausführungen zu den Menschen, die sich im Erwachsenenalter beschneiden lassen, sprechen ebenso für sich. Diese Männer haben sich halt nur nicht so gut über die Vor- und Nachteile informiert wie Sie (=“fehlendes Bewusstsein“). Mein persönliches Highlight sind aber Ihre blumigen Schilderungen der daraufhin angeblich eintretenden grausamen Nachteile. Und plötzlich merkt man durch den vorgeblichen sachlich-akademischen Diskussionsstil die Emotion, mit der Sie bei der Sache sind, wenn Sie geradezu hämisch vom „kessen Wunsch“ sprechen, der sich nun in Luft aufgelöst hat. Dennoch freundliche Grüße.
„angeblich eintretenden“
Dafür akzeptieren Sie eben nicht, daß es auch Männer gibt, die dadurch Nachteile haben.
die vorhaut ist ein organ, aha. willkommen in der flat earth society…
Da die Vorhaut zur Haut gehört, und nicht abgetrennt von dieser ist, ist sie tatsächlich ein Organ.
Sieh dir doch mal die Dokumentation an. Erstens hat Rough Ninja schon angemerkt, dass Haut generell ein Organ ist. Zweitens handelt es sich bei der Vorhaut um ein spezielles Organ, das zwei Hauttypen beinhaltet: Eine Außenhaut und eine sekretbildende Haut, ähnlich Lippen oder Augenlidern. Daher kann auch bei Verbrennungen eine Transplantation stattfinden, bei der Teile der Augenlieder durch Vorhautteile ersetzt werden.
Ich kann verstehen, dass es kränkend ist, etwas über das Geschlechtsteil, mit dem man täglich irgendwie befasst ist, nicht zu wissen. Übrigens gibt es auch eine Vorhaut der Frau um die Klitoris. Die Vorhaut-Entfernung ist bei dem weiblichen Kind hochgradig illegal und strafbar.
Warum schmeißen Sie weibliche und männliche Beschneidungen in einen Topf? Bei der weiblichen Beschneidung geht es ausschließlich darum, das wbl. Lustempfinden abzuschaffen, bei der männlichen ist das eben nicht der Fall. Allein der Unterschied verbietet Vergleiche. Und allein dadurch schon, dass es keine rel. Begründung in keiner Religion für die weibliche Beschneidung gibt, aber für die männliche und darum genau geht es doch in dem Urteil.
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich es mir nicht gefallen lasse, dass Nichtjuden zu bestimmen haben, wie ich meine Religion zu leben habe. Und ehrlich gesagt, schon gar nicht durch deutsche Nichtjuden.
Er wirft sie deswegen in einen Topf, weil sie vergleichbar sind. Wenn man natürlich lediglich von der FGM die schlimmste Variante und von der MGM die leichteste nimmt, dann ist das verleugnen leicht. Und weil man natürlich in dem Konflikt steckt, daß die weibliche Beschneidung in allen Varianten zu Recht verboten und geächtet ist, muß man zwangsläufig zu der Argumentation greifen, daß beide Verfahren ja nicht vergleichbar seien.
Und mit der religiösen Begründung sollten sie sich vielleicht noch einmal informieren, am besten bei der islamischen Fraktion. Im übrigen wurde auch die Beschneidung von Männern in der Geschichte dazu benutzt, Lust abzutöten (Stichwort: Masturbation). Insofern ist auch dieses Argument Ihrerseits nicht stichhaltig.
Und zu Ihrer letzten Bemerkung: da Sie in einer Gemeinschaft von vorwiegend deutschen Nichtjuden leben, werden Sie sich auch der Diskussion stellen müssen, ob solche Rituale unserer Rechtsauffassung entsprechen. Und zu dieser Rechtsauffassung gehören nun mal GG und auch die Kinderrechtskonvention. Insofern könnten Sie Ihre rassistischen Bemerkungen auch einfach lassen.
„Yael
Warum schmeißen Sie weibliche und männliche Beschneidungen in einen Topf? Bei der weiblichen Beschneidung geht es ausschließlich darum, das wbl. Lustempfinden abzuschaffen, bei der männlichen ist das eben nicht der Fall. Allein der Unterschied verbietet Vergleiche. Und allein dadurch schon, dass es keine rel. Begründung in keiner Religion für die weibliche Beschneidung gibt, aber für die männliche und darum genau geht es doch in dem Urteil.
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich es mir nicht gefallen lasse, dass Nichtjuden zu bestimmen haben, wie ich meine Religion zu leben habe. Und ehrlich gesagt, schon gar nicht durch deutsche Nichtjuden.“
Yael, von dem Mehrheitsdünkel der anderen Antwort von „tattoine“ distanziere ich mich.
Ich schmeiße nicht in einen Topf. Ich differenziere, und das vom Effekt her. Der Effekt ist lustfeindlich. Das mag nicht notwendig intendiert sein, auch wenn Maimonides das tut, aber es ist eben ein Effekt. Im übrigen gibt es kulturelle Konzepte für FGM und MGM und nicht alle sind lustfeindlich, einige Klitorisvorhautbeschneidungskonzepte behaupten sogar, es würde die Fruchtbarkeit oder die Lust erhöhen. Es war und ist sehr schwer, gegen diese Konzepte anzuargumentieren. Sie bestehen nicht nur aus Lustfeindschaft, sondern auch aus Heteronormativität, das Weibliche muss vom Männlichen gereinigt werden. Dasselbe findet man auch bei der säkularen Beschneidung, nur umgekehrt, die Vorhaut gilt als weiblich, sie umschließt den Penis, sie ist das Zeichen der Weiblichkeit des Mannes.
FGM findet prinzipiell in ähnlich entwickelten religiösen Kontexten statt wie MGM und die Beschneidung. Da von vornherein eine Art unbewussten Barbarei zu imaginieren, aber am eigenen religiösen Ritual hochkomplexe Rationalisierungen zu üben, ist eine Form des Otherings. DIE machen ja was GANZ anderes. Das war leider zu lange das Argument gegen FGM, um die Relativierung der Befürworter zu brechen, es hat sich nun als fatal erwiesen.
Es wird nicht bestimmt, wie du deine Religion zu leben hast, sondern wie sie NICHT zu leben ist und das für mehrere Religionen, die das betrifft: Islam, Judentum, afrikanische Religionen. Das vereint ja die Empörung aller Religiösen im Moment zum Kulturkampf. Mir persönlich ist ein Verbot relativ egal, solange die Mythologisierung der Beschneidung aufhört und sich zumindest ansatzweise Vernunft durchsetzt. Wenn, auf eine Grundlage der Wissenschaft gestellt, die Beschneidung als das anerkannt wird, was sie ist, nämlich Genitalverstümmelung, kann eine Religion ja versuchen, dies mit oder gegen den Willen ihrer frei wählenden Mitglieder zu tun. Ich unterstütze aber jede Klage eines erwachsenen Beschnittenen gegen seine Eltern wegen Körperverletzung. Damit wäre das Recht und der Streit dort, wo es hingehört: Zwischen den Individuen und nicht über ihnen.
Im Moment aber ist die Strategie, die Beschneidung zu verharmlosen und die Vorhaut abzuwerten. Dadurch wird schon ein Eingeständnis geleistet, dass, wenn es anders wäre, man sich sehr wohl vorstellen könnte und müsste, den Ritus zu ändern. Das Eingeständnis wird durch jene Schulddimensionen verhindert, die ich in „Schuld und Vorhaut“ diskutierte.
tatooine
ach wissen Sie, wenn mir jemand mit der Rassismuskeule kommt, nur weil Juden sich nicht vorschreiben lassen wollen, wie sie ihre Religion zu leben haben, muss man zu all dem Blödsinn nichts mehr schreiben.
„Und mit der religiösen Begründung sollten sie sich vielleicht noch einmal informieren, am besten bei der islamischen Fraktion.“
Diese Wortwahl sagt auch alles über Sie. Ich muss mich überhaupt nicht im Islam informieren, weil mir deren Begründung schlicht nichts angeht.
Von der weiblichen Beschneidung wissen Sie hingegen Null. Aber keine Sorge, da sind sie in diesem Land nicht der einzige.
„Und zu Ihrer letzten Bemerkung: da Sie in einer Gemeinschaft von vorwiegend deutschen Nichtjuden leben, werden Sie sich auch der Diskussion stellen müssen, ob solche Rituale unserer Rechtsauffassung entsprechen. Und zu dieser Rechtsauffassung gehören nun mal GG und auch die Kinderrechtskonvention. “
Ich muss mich dem überhaupt nicht stellen. Weder bin ich Juristin, im Gegensatz zu Ihnen, der sich mit juristischen Floskeln aufwerten will, noch Politikerin.
Was dem GG entspricht hat das BVG zu entscheiden und nicht jeder, der meint die Meinungshoheit gefressen zu haben.
Unterlassen Sie bitte einfach ihren Herrenmenschenton. Auf dieses Niveau habe ich keinen Bock.
Und Tschüss!
Herr Riedel,
wir müssen darüber gar nicht diskutieren, ein Gesetz, der die männliche Beschneidung erlaubt, wird kommen.
“ Die Beschneidung sei sogar gerichtlich akzeptiert worden, sagte Montag: „2001 entschied das Oberverwaltungsgericht Lüneburg, dass eine muslimische Familie auf dem Weg der Sozialhilfe Geld für die Durchführung der Beschneidung und für das Familienfest bekommt.“ Daher gebe es jetzt keinen Grund, „aus der einen rechtsfehlerhaften und keineswegs bindenden Entscheidung eines einzelnen Richters am Landgericht Köln in einem verzwickten Einzelfall abzuleiten, es bestehe Rechtsunsicherheit.“ Bloß „subjektiv“, so Montag weiter, gebe es wegen der erregten Beschneidungsdebatte nach dem Kölner Urteil „eine zum Teil befeuerte Beunruhigung, die eine Klarstellung wohl erforderlich macht“.
http://www.berlinerumschau.com/news.php?id=58389&title=Gr%FCnen-Rechtsexperte+Montag+gegen+Beschr%E4nkung+von+Beschneidungen+auf+religi%F6se+Motive&storyid=1343374800975
Ich verharmlose auch nichts, aber ich empfinde die Psychiatrisierung der Beschneidung als ziemlich meschugge. Man muss Beschnittenen nicht auch immer wieder einreden, dass sie gefälligst damit Probleme haben. Genau da hört bei mir das Verständnis der Psychoanalye auf. Man kann den Menschen auch viel einreden, so dass sie es schon selber glauben. Ich kenne genug beschnittene Männer die über solche Diskussionen nur lachen können. Keine hat angeblich derartige Traumata.
Denken sie doch nochmal nach: Wie viele Männer würden öffentlich zugeben, dass sie ein Problem mit ihrer Sexualität und insbesondere ihrem Penis haben?
Niemand will herumlaufen und Leute sagen hören: Guck mal, das ist der mit den Penisproblemen. Jeder würde lieber hören: Guck mal, das ist der, bei dem alles so richtig prächtig läuft untenrum.
Das Verlachen ist grundsätzlich verdächtig. Wie wurden die Ohrfeigengegner verlacht: Mir hat es ja auch nicht geschadet, im Gegenteil! Und so weiter.
Das sind doch ähnliche Prozesse, die mit Begreifen wenig zu tun haben.
Ich argumentiere aber gar nicht annähernd zentral mit Traumatisierung, auch wenn ich sie für sehr gut möglich halte, mit welchen Folgen auch immer. Daher könnten auch sie sich auf das Vorgetragene beziehen.
Abgesehen davon wird die Beschneidung irgendwann auch in Israel einmal verboten werden. Der rechtsstaatliche Widerspruch kann nicht ewig bestehen, es ist nun mal Körperverletzung und Genitalverstümmelung, sie wird sich noch 20 Jahre oder länger halten, aber sie konfligiert mit zentralsten Rechtsprinzipien und der Vernunft. Mich interessiert letzteres. Es werden Juden sein, die die rituelle Beschneidung abschaffen, und nicht deutsche Gerichte und es findet bereits statt.
nochmal der Link: http://nichtidentisches.wordpress.com/2012/07/12/ein-beitrag-zur-beschneidungsdebatte/
@Floris Biskamp: „So lange es nicht eine deutliche Mehrheit der psychologischen und medizinischen Einschätzungen ist, die Beschneidung für eine starke Beeinträchtigung der Kinder hält“
Die gibt es. 2/3 der Chirurgen sind gegen Beschneidungen, die medizinischen Fakten zur Funktion der Vorhaut sind unbestritten. Und seit wann interessieren den Aufklärer, den Avantgardisten Mehrheiten? Es hat in der Sache wahr zu sein. Und du kannst dir aufgrund der medzinischen Fakten und einiger Erfahrungsberichte eine Meinung machen. Ich fordere persönlich kein explizites Verbot ein, weil ich in der Angelegenheit auf Aufklärung eher setze als auf das Verbot, halte aber das Urteil (das ja kein Verbot war) für teilweise konsequent und verteidige es gegen falsche Anwürfe, z.B. „unsachlich“ laut deiner Meinung. Das Urteil war übrigens trotz der Einstufung der Beschneidung als Körperverletzung ein „Freispruch“, was es vor dem Widerspruch des Verfassungsgerichtes bewahrt.
„Die offensive Weise, in der hier Paternalismus vertreten wird, indem Menschen, die sich nicht versehrt fühlen eine Unfähigkeit zu trauern unterstellt wird, ist mir völlig unbegreiflich.“
Ich habe den unklaren Passus geändert. Gemeint war von Beginn an, dass das symptomatische Ausblenden der Nachteile der Beschneidung bei sich und anderen Individuen und das Idealisieren der Beschneidung sicher keine angemessene Konfliktbewältigung ist. Es handelt sich um eine bio-logische Konstruktion, wie alles psychoanalytisches Inventar. Es sagen ja auch alle, dass sie wunderbar glücklich mit ihrer erwachsenen Sexualität sind, obwohl die Psychoanalyse sagt, dass sie einst lieber in Mutters Bauch, dann lieber an Mutters Brust, dann lieber polymorph-pervers, dann lieber prägenital, dann lieber oedipal geblieben wären, bevor sie unter dem Zwang des Realitätsprinzips sich in ein anderes, meist die heterosexuelle Monogamie mit angeschlossener Reproduktion, Kleingarten und Rentenversicherung fügten.
Mit Paternalismus-Vorwürfen sehe ich wenig Sinn, mich abzugeben. Menschen vor Paternalismus schützen zu wollen ist selbst paternalistisch, weshalb der Paternalismusvorwurf in aller Regel von paternalistischen Eiferern vorgenommen wird und dann in eine contradictio in adjecto führt. Du willst zum Beispiel Beschnittene vor „meinem“ Paternalismus beschützen. Eine tatsächliche Paternalismus-Diagnose wäre psychologisch auszuformulieren und zu begründen.
Auch du verharmlost beständig die Beschneidung, was wiederum zumindest auf eine Unfähigkeit, auf die konkreten medizinischen Argumente einzugehen, nachweist. Diese Verharmlosungstendenz vergewissert sich bestets, dass es doch etwas anderes geben könnte und ist ein Verdrängungssymptom, zu dem ich einen Analysevorschlag gemacht habe, der durchaus in dieser Kürze als „unfähigkeit zu trauern“ umrissen werden kann. Dabei ist nicht bestritten, dass diese Trauer abgeschlossen werden kann und dass sie mitunter gar nicht erst entsteht. Sie entsteht aber nur dann nicht, wenn die Vorhaut weiter ein verächtliches, geknechtetes Wesen und die Beschneidung selbstverständlich bleibt. Sobald sie im Rahmen gesellschaftlicher Aufklärung einen Wert zugesprochen bekommt, entsteht die Trauerfrage erneut. Diese Aufklärung wird durch Verächtlichmachtung und Verharmlosung vorerst verdrängt.
Was wiederum, falls du noch mitliest, in die Sexualneidpassage führt. Sobald ein Wert der Vorhaut behauptet wird, entsteht die Frage des Defizits und der angemessenen Kompensation. Der Verweis, dass bei einem selbst untenrum alles ganz prächtig dastehe, ist bärbeißig gegen sich selbst und verdrängter Sexualneid. Aufgeklärt wäre, den Verlust der Vorhaut als solchen anzuerkennen und sich glücklich zu schätzen, dass man diesen Verlust nicht mehr als solchen empfinden muss, wie man eben auch den Verlust der Mutterbrust nicht mehr bewusst als solchen empfindet und ganz zufrieden mit den Ersatzformen Snickers, Bier oder anderen Frauen- oder Männerbrüsten ist. Der Unterschied ist, der Verlust der Mutterbrust und der ödipale Konflikt sind unvermeidbar, die Beschneidung ist vermeidbar.
Vielleicht liegen unsere Positionen doch nicht so weit auseinander. Selbstverständlich bin ich für Diskussionen, die dazu führen, dass Religionen, an die ich nicht glaube, aufhören, Riten auszuführen, die ich nicht gut finde. Allerdings scheint es mir hier sehr wohl um ein staatliches Verbot zu gehen. Das Urteil des Kölner Landgerichts ist ja nur deshalb kein allgemeines Verbot, weil das Aussprechen eines solchen außerhalb der Autorität der Richter liegt. Die Argumentation des Urteils läuft aber ebenso wie die von Alan Posener und von der Osten-Sacken auf ein staatlich sanktioniertes Verbot hinaus. Der Kölner Arzt ist ja nur deshalb straffrei ausgegangen, weil das Gericht ihn im Verbotsirrtum sah. Würde dieselbe Argumentation, nach der die nicht medizinisch indizierte Beschneidung (im Kölner Fall ja unter Narkose und nach medizinischen Standards durchgeführt) eine Versehrung des Kindes außerhalb des Elternrechts und somit eine Körperverletzung ist, höchstrichterlich und/oder legislativ aufgegriffen, könnte eigentlich kaum etwas anderes als ein durch die Strafverfolgungsbehörden durchgesetztes Verbot herauskommen. (Dies ließe sich dann höchstens durch eine Regelung wie beim Schwangerschaftsabbruch, nach der Beschneidung illegal, aber nicht strafbar wäre, vermeiden. Ob das juristisch tatsächlich möglich ist, weiß ich nicht.) Wenn Du also tatsächlich nicht die Polizei, sondern Aufklärung und Einsicht für der Sache gemäß hältst, kannst Du eigentlich nicht zugleich das Urteil sachgemäß finden.
Und weil es um ein staatliches Verbot geht, scheint es mir tatsächlich entscheidend abzuwägen, wie schwer der möglicherweise angerichtete Schaden einer Beschneidung ist. Denn ich weiß zwar nicht, in welcher avantgardistischen Tradition Du Dich verortest, aber mir sind Avantgarden, die in eher unsicheren Fragen auf staatlichen Zwang setzen tatsächlich gar nicht geheuer — auch wenn sie überzeugt sind, dass ihre Sicht „in der Sache wahr“ ist. Daher mein Insistieren auf der Formulierung von der „starken Beeinträchtigung“, die ich gerne weitgehend zweifelsfrei bescheinigt hätte, bevor ich am Kölner Urteil etwas Gutes finde.
Dabei halte ich es für entscheidend abzuwägen, wie stark der Schaden ist, wenn man ihn an anderen Dingen misst, die auf elterliche Entscheidung Kindern ohne äußere Not psychische und körperliche Beschädigungen bescheren. Beispielsweise gibt es viele, mit denen schulischer Leistungsdruck Übles angerichtet hat, was sich letztlich auch körperlich auswirkt. Dennoch will ich nicht, dass Eltern, die ihre Kinder auf benotende Schulen schicken und einen gewissen Druck aufbauen insgesamt der Körperverletzung schuldig gesprochen werden. Das soll keinesfalls eine reductio ad absurdum sein, sondern ist ein ernstgemeinter Vergleich.
Ich bereue, dass in meinem Artikel die Formulierungen „harmlos“, „nüchtern betrachtet“ und „Unannehmlichkeit“ stehen (BTW: Überschrift, Unteritel und Bildunterschrift sind redaktionelle Entscheidungen, damit haben Autor_innen meist nichts zu tun). Sachgemäßer, aber umständlicher als „harmlose Rituale“ wäre wohl „Rituale, bei denen der zu erwartende Schaden in keinem Verhältnis zur Debatte steht“.
Noch zwei Nebensachen:
Deine tiefenpsychologischen Ausführungen halte ich für fragwürdig. Ich bin da nicht vom Fach, aber wenn ich mich nicht täusche, wurde der Stellenwert, den der Verlust von Gebärmutter, Mutterbrust usw. hat, in langen Jahren analytischer Theorie und Praxis etabliert. Er ist unter deshalb plausibel, weil diese Dinge in den entsprechenden Lebensphasen in der Umwelt der (werdenden) Kinder eine zentrale Stellung haben bzw. die Umwelt sind. Dass sich über die Vorhaut und ihren Verlust Analoges sagen lässt, wird von Dir einfach dekretiert oder „bio-logisch“ abgeleitet: Weil die Vorhaut ein Organ mit Funktion ist, /muss/ es sich bei der Beschneidung demnach um einen schwerwiegenden Verlust handeln, der mehr oder weniger erfolgreich betrauert wird. Auf dieser Basis anderen erzählen zu wollen, was in ihrer Psyche vorgeht, halte ich für anmaßend.
Zum Foreskin Man: Schreibst Du da wirklich, dass Comics mit offen antisemitischer Bildsprache generell eher unproblematisch sind, weil es Comics sind und man sie ja ironisch lesen kann? Und hältst Du die gute Mutter tatsächlich für ein Indiz gegen den antisemitischen Gehalt? Ist die gute Mutter, mit der der Sohnemann innig ist, nicht einfach zentral für den im 2. Heft ausgedrückten Kastrationskomplex? Und müsste man demnach nicht allen Antizionist_innen, welche die BDS-Kampagnen abfeiern, die gleiche Gnade zu Teil werden lassen? Bei ihnen spielen gute Juden und Jüdinnen ja auch eine wichtige Rolle?
„wie schwer der möglicherweise angerichtete Schaden einer Beschneidung“
Reicht der Tod in seiner Schadensschwere, um den Eingriff nicht mehr als harmlos zu bezeichnen?
Die Komplikationsrate bewegt sich bei bis zu 10%, natürlich in unterschiedlicher Schwere.
Und extrem stark von der Kompetenz und Nachbetreuung des Beschneiders abhängig. Traditionelle Beschneider kümmern sich übrigens nicht zwangsläufig um die Nachsorge – bei muslimischen Beschneidungsfesten mit mehreren Dutzend oder Hunderd Knaben wäre das auch gar nicht zu leisten. Sie sehen den Penis einmal.
„Und mehr und mehr beschnittene Erwachsene werden aufhören, unbewusst sich selbst oder Unbeschnittene abzuwerten und besser zur Trauer um diesen verlorenen Körperteil in der Lage sein, die erfüllte Lust ohne diesen Körperteil ermöglichen kann.“
Mit der Lust ist es doch so eine Sache. Selbst verdrängte Trauer kann Lust bereiten, Lust bahnt sich die merkwürdigsten Wege. Sie ist, meines Erachtens, schon immer geformt und nicht auf natürlichem Weg zugänglich. Wahrscheinlicher finde ich, dass Lustempfindungen sehr individuell wahrgenommen werden und sich ebenso individuell am eigenen biographischen Körper entwickeln.
Deshalb finde ich die Formulierung, dass erfüllte Lust ohne ein bestimmtes Körperteil nicht möglich wäre, sehr biologistisch und problematisch. Wobei der Begriff erfüllte Lust mir nicht klar ist.
Wenn meine Körperzurichtung in mein ideologisches Umfeld passt, dann werde ich zwar ziemlich viel Anstrengung unternehmen müssen, um in die Ideologie zu passen, aber es ist ja auch meine Ideologie und deshalb bereitet diese und die Anstrengungen dieser gerecht zu werden, Lust.
Ob diese Anstrengungen problematisch und identitär sind, ist ein weiteres Thema.
@Floris: Du schreibst ein wenig an meiner Argumentation vorbei und ich müsste mich wiederholen. Wahrheit ist bisweilen Wiederholung. Bitte beachte auch den Nachtrag 2 zur biologischen Funktion.
„Würde dieselbe Argumentation, nach der die nicht medizinisch indizierte Beschneidung (im Kölner Fall ja unter Narkose und nach medizinischen Standards durchgeführt) eine Versehrung des Kindes außerhalb des Elternrechts und somit eine Körperverletzung ist, höchstrichterlich und/oder legislativ aufgegriffen, könnte eigentlich kaum etwas anderes als ein durch die Strafverfolgungsbehörden durchgesetztes Verbot herauskommen. (Dies ließe sich dann höchstens durch eine Regelung wie beim Schwangerschaftsabbruch, nach der Beschneidung illegal, aber nicht strafbar wäre, vermeiden. Ob das juristisch tatsächlich möglich ist, weiß ich nicht.) Wenn Du also tatsächlich nicht die Polizei, sondern Aufklärung und Einsicht für der Sache gemäß hältst, kannst Du eigentlich nicht zugleich das Urteil sachgemäß finden.“
Dazu schreibe ich doch, dass ich kein Verbot einfordere, aber die Argumentation des bestehenden Urteils verteidige, das übrigens kein Verbot darstellt. Innerhalb eines rechtsstaatlichen Liberalismus ist dieses Urteil konsequent liberal und nicht antisemitisch.
„Sachgemäßer, aber umständlicher als “harmlose Rituale” wäre wohl “Rituale, bei denen der zu erwartende Schaden in keinem Verhältnis zur Debatte steht”.“
Läuft das nicht auf dasselbe hinaus? Arbeite doch noch ein wenig zu dieser Ritualspezifik und der Spezifik der Vorhaut.
Zum relevantesten Punkt: Das Comic „Foreskin Man“, den ich nur in Ausschnitten kenne, zeichnet antisemitische Stereotype, das bedeutet noch lange nicht, dass es sie inhärent bedient. Es gibt auch antisemitische Comics ohne diese Stereotype. Der Comic ist so klar überironisiert, mit einmal Butler zu sprechen: Travestie. Er wahrt eine selbstironische Distanz zu seinem eigenen Projekt. Wäre er weniger stereotyp gezeichnet, er könnte antisemitischer sein. So aber wird jedem halbwegs intelligenten Menschen klar, dass diese Bilder mythologische Flächen, Karikaturen von Karikaturen sind. Es gibt antisemitische und rassistische Comics zuhauf. Aber wer bitte soll sich mit einem „Foreskin Man“ ebenso identifizieren wie mit dem jüdischen Superman oder dem Prinz Eisenherz? Ich sage ja nicht, dass der Comic wahnsinnig sinnvoll ist, aber ihn als Beispiel für antisemitische Propaganda über Beschneidung zu nehmen ist vielleicht doch ein wenig zu naiv und billig.
„mir sind Avantgarden, die in eher unsicheren Fragen auf staatlichen Zwang setzen tatsächlich gar nicht geheuer — auch wenn sie überzeugt sind, dass ihre Sicht “in der Sache wahr” ist. Daher mein Insistieren auf der Formulierung von der “starken Beeinträchtigung”, die ich gerne weitgehend zweifelsfrei bescheinigt hätte, bevor ich am Kölner Urteil etwas Gutes finde.“
Du verlegst dich erneut auf das Argument deiner eigenen Unsicherheit. Kläre doch deine Position. Die hier zitierten Beschneidungsgegner sind in dieser Frage nicht unsicher. Die starke Beeinträchtigung wird durch Mythologie und Nichtwissen verharmlost. Diskutiere doch die anatomischen Fakten. Sie sind zweifelsfrei bescheinigt und wissenschaftlich akzeptiert. Am Anfang steht die Frage: ist die Vorhaut überflüssig oder ein Sexualorgan? Dann erst kann man die Art und Bedingungen der Entfernung und Nichtentfernung angemessen diskutieren.
„Weil die Vorhaut ein Organ mit Funktion ist, /muss/ es sich bei der Beschneidung demnach um einen schwerwiegenden Verlust handeln, der mehr oder weniger erfolgreich betrauert wird. Auf dieser Basis anderen erzählen zu wollen, was in ihrer Psyche vorgeht, halte ich für anmaßend.“
Ich bin anmaßend, Aufklärung ist anmaßend, Zustände sind anmaßend, wir alle sind anmaßend. Ich betreibe Psychoanalyse als unbequeme Gesellschaftskritik, nicht als Therapie. Dann würde ich in der Tat zuhören müssen, Schweigepflicht wahren, unsichere Anamnesen erheben und mit dem Patienten diskutieren und mir eine Cessna kaufen und übers Wochenende nach Ghana fliegen.
Zur Sache: Ich schrieb doch, dass der Verlust nicht als solcher erkannt werden kann, solange die Vorhaut mythologisch abgewertet wird. Sobald sich die wissenschaftliche Anerkennung der Vorhaut als Sexualorgan durchsetzt, kann die Beschneidung nichts anderes als ein Verlust darstellen. Wie mit diesem Verlust umgegangen wird, zeige ich als Möglichkeit auf: erfolgreiches Betrauern und Akzeptieren, bzw. Kompensieren oder sich dagegen Verhärten und Verdrängen (Abwerten der Vorhaut, Ausschließen anderer Möglichkeiten). Letzteres findet statt. Die Verbreitung der Wahrheit über die Vorhaut wird zu Krisen führen, sie führt bereits zu Krisen und ein erstes Stadium der beginnenden Aufklärung kann wütende Verleugnung und Verharmlosung sein.
Nochmal zum Staat: Ich fordere ja kein Verbot ein, aber Ehrlichkeit in der Diskussion eines Verbots. In einer Gesellschaft, die die Ohrfeige verboten hat, was eine zivilisatorische Errungenschaft darstellt, ist es überkonsequent, die Beschneidung zu verbieten.
@Andrea: Ich bin mir nicht sicher, was genau du diskutierst. Ich nehme an, den Prozess, der dazu führt, dass sich Beschnittene nicht als beeinträchtigt fühlen. Das habe ich meine ich im Text andiskutiert. Kannst du da dein Argument schärfen?
Nein, ich schreibe nicht an Deiner Argumentation vorbei, sondern versuche Dich auf ihre Inkohärenz aufmerksam zu machen. Auch ich kann mich nur wiederholen, vielleicht noch klarer:
Du schreibst zwei Dinge, die sich nicht vereinbaren lassen. Das Urteil ist zwar selbst kein Verbot, aber nur weil ein Landgericht ein solches Verbot gar nicht verhängen kann. Die Argumentation des Urteils läuft aber geradezu notwendig auf ein Verbot hinaus. Mir ist nicht klar, wie Du Dich gleichzeitig gegen ein Verbot und für diese Argumentation aussprechen kannst. Wenn Du Dir wie das Gericht sicher bist, dass die Beschneidung eine durch das Elternrecht nicht gedeckte Versehrung und eine Körperverletzung ist, muss sie auch als solche strafbar sein.
Ich halte das Urteil selbst auch nicht unbedingt für antisemitisch, weite Teile der anschließenden Debatte dagegen schon.
Ich kann meine Position nicht „klären“, weil ich offenkundig höhere Ansprüche habe als diverse Google-Experten. Ich erzwinge mir keine eindeutige Position, indem ich nach einer oberflächlichen Internetrecherche die Quellen wähle, die mir passen. Die von Thomas von der Osten Sacken, Tilman Tarach und Dir angegebenen Quellen scheinen mir identisch mit dem Ergebnis zu sein, zu dem man kommen würde, wenn man im englischen Wikipedia-Artikel alle Anti-Beschneidungsseiten zitiert, die Gegenposition aber einfach ignoriert. Man zitiert cirp.org, übergeht die Existenz von circs.org großzügig und schreibt sich dann noch Aufklärung, Wissenschaft und Recherche auf die Flaggen. Da will ich nicht mitspielen, nicht einmal als Gegenposition.
Lieber ziehe ich mich darauf zurück, dass es wissenschaftlich umstritten ist, dass eine starke Beeinträchtigung nicht eindeutig belegt ist und ich auf dieser Grundlage ein Verbot und eine Befürwortung eines Verbots für sehr fragwürdig halte. Auch nach Maßstäben liberaler Politik.
Dass Du hier über den Comic sprichst, ohne Dir mal eine halbe Stunde zu nehmen um ihn zu lesen, lässt Deine Aussagen auch nicht gerade überzeugender werden. Ich habe in dem Comic nicht einen Marker von Ironie gefunden, Matthew Hess scheint ihn auch ziemlich ernst zu nehmen. Es mag billig sein, das als Beispiel für den Antisemitismus in der Intaktivistenbewegung zu wählen, weil es so eindeutig ist. Dann ist es aber auch billig Ahmadinejads Holocaustleugnung als Beispiel für den Antisemitismus des Teheraner Regimes zu wählen. So what?
Mag sein, dass Aufklärung nicht ganz ohne Anmaßung möglich ist, aber wichtiger für aufklärendes Denken scheint mir doch der Zweifel, den ich in Deinen Ferndiagnosen sehr vermisse.
Ist das hier eigentlich auch schon eindeutig genug, um nicht mehr schlimm zu sein?
http://www.berliner-kurier.de/politik—wirtschaft/auf-den-punkt-gebracht-die-besten-kurier-cartoons,7169228,11950508.html
Es ist kein Widerspruch: „Wenn Du Dir wie das Gericht sicher bist, dass die Beschneidung eine durch das Elternrecht nicht gedeckte Versehrung und eine Körperverletzung ist, muss sie auch als solche strafbar sein. “
Dass ich kein Verbot fordere heißt nicht, dass ich gegen das Verbot wäre. Es ist innerhalb liberaler rechtsstaatlicher Argumentation konsequent. Meine Hoffnung liegt nicht in einer staatlichen Verregelung, sondern in der Aufklärung, die eine solche mit auslösen kann. Ich sehe ein Verbot als logische Konsequenz des Urteils. Ich sehe nicht das Problem als gelöst durch ein Verbot und teile eine grundsätzliche Kritik an staatsautoritärer Fürsorge. Naiv wäre aber, innerhalb des Bestehenden die Ignoranz des Staates zu fördern – das hätte wiederum die Aufgabe rechtsstaatlicher Vermittlung in der Bewahrung der individuellen Integrität des Körpers zur Folge und würde mangels aktueller Möglichkeiten der Barbarei Vorschub leisten. Siehe Scheits Kritik am antistaatlichen Liberalismus, der nicht den antistaatlichen Staatsautoritarismus des Nationalsozialismus mit Neumann reflektiert. in Kürze.
Ich denke, dieses Thema wird sehr lustvoll diskutiert, mehr oder weniger offen. Da gibt es Menschen, die sich in ihrer Identität als sexuell potenter Mann bedroht oder bestärkt fühlen oder andere, die mit ihrem Lustempfinden als weibliche „Betroffene“ für oder gegen eine Beschneidung argumentieren.
Diese lustbetonten Positionen empfinde ich zum einen als Argument eine Zumutung, zum anderen interessant und als Grund (ierung) dieser Debatte ernstzunehmen.
Deine Formulierung einer erfüllten Lust, zu der jede Erwachsene finden soll, oder deine laxe Wortwahl, wie mez sie aufführte, weisen ebenso eher auf den Grund, auf welchem diese Debatte geführt wird.
Dieses Thema berührt Tabus, zum Beispiel jene, dass nicht das weibliche Geschlecht als Opfer thematisiert wird, sondern das männliche (wie du auch schon erwähntest), nicht nur Rituale des Islams in der Kritik stehen, sondern auch des Judentums und das alles noch innerhalb der Integrationdebatte stattfindet.
Dann gibt es Einstellungen, die eine körperleibliche Perspektive auf dieses Thema abwehren, indem sie den Körper in eine flat earth society verweisen.
Ich finde es wichtig den Körper nicht nur als Argument der biologischen Verletzbarkeit und der folgenden psychischen Schädigungen zu diskutieren.
Sondern den Körper als soziales, gefühltes, gelebtes und dialogisches Fundament einer hitzigen Debatte anzuerkennen und auszuweisen.
Das Comic ist klar selbstironisch, es reflektiert auf seine Stereotypen, es ist auf den zweiten Blick Satire, böse Satire, mitunter schlechte propagandistische Satire, aber Satire. Wo kann man es online lesen? Bei mir hat das nicht geklappt und die Stadtbücherei wird es kaum haben. Ich freue mich aber über eine ausführliche Analyse, die eventuellen Antisemitismus der Macher nachweisen. Ich möchte das Comic lieber auch nicht verbreitet sehen, weil ich meine Medienkompetenz nicht als Standard annehmen kann. Ahmadinedschad meint es völlig ernst, die von dir verlinkte Karikatur ist keine, sondern ekelhaft.
Es gibt aber zahlreiche jüdische Witze über schlecht gemachte Beschneidungen, was darauf verweist, dass es historisch ein Bewusstsein von Risiken und Folgen gab.
Zu Circ.org. Die anatomischen Voraussetzungen werden nicht bestritten, zumindest finde ich auf den ersten Blick nichts, was die von mir verlinkten anatomischen Befunde zur Funktion der Vorhaut revidiert. Die meisten Studien auf circ.org halten sich mit den Folgen auf, nicht mit den Voraussetzungen: zumeist schmerzhafte Entfernung eines biologisch bedeutsamen Organs.
Es ist auch hinreichend diskutiert worden, dass die Entfernung der Klitoris nicht notwendig zu einem Lustverlust der Frau führt, bzw. dass dieser positiv sei. Die Diskussion der Folgen auf circ.org findet etwa auf diesem Niveau statt:
„complaints of premature ejaculation. Senkul et al[4] reported an increase in time required to orgasm following circumcision. Laumann et al[7] found that uncircumcised men were more likely to experience premature ejaculation.“
Natürlich ist da schon vorausgesetzt, dass der Mann keine vorzeitige Ejakulation haben darf und das sexuelle Leistungsdiktat ist unterschrieben: was Männer bei Frauen offenbar erregend finden dürfen, dass diese beim Anblick oder bloßen Berühren des Mannes einen Orgasmus haben, dürfen Frauen und Männer beim Mann nicht erregend sondern ausschließlich frustrierend finden.
Die Beschneidung als Ersatz für Sexualtechniken zu empfehlen, ist ein Armutszeugnis. Diese „Beschwerden“ sind ebensogut Nachweise der Schädigung des sexuellen Empfindens, das dann eben positiv umgedeutet wird. Nicht allen gelingt das.
Zur Keratinisierung, die übrigens auch beworben wird, kann ich den Befund nicht nachvollziehen, den Szabo & Short machen würden: Dass keine Keratinisierung stattfände. Ich weiß nicht, was biologisch eine Keratinisierung ist, aber die Hautveränderung ist ein Fakt. Man kann das auch schön finden, man kann sich damit abfinden oder sogar Vorteile daraus ziehen, es muss nicht jedem gelingen. Letzteres ist das Argument.
Auch habe ich bemerkt, dass es kein Argument sein kann, was Frauen derzeit so bevorzugen an ihren Partnern. Das wäre ja noch schöner. FGM wurde auch befürwortet, es sei sauberer, die Männer würden es bevorzugen, etc.
Ich kann also die Diskussion von http://www.circs.org/index.php/Reviews/Sex nur bedingt ernst nehmen, weil 3/4 der vorgebrachten wenigen Argumente aus sexualliberaler Sicht Argumente gegen die Beschneidung sind.
Das hygienische Argument ist hinreichend in Frage gestellt worden und es gilt das Argument: Soll man um Brustkrebs zu verhindern das sekundäre Geschlechtsorgan Brust präventiv entfernen? Es gab übrigens eine Zeit, in der Stillen als unhygienisch galt und man Flaschenmilch empfahl.
Auch ist interessant, dass die WHO und in Einzelfällen wohl zu Recht davon ausgeht dass sich afrikanische Männer eher eine Beschneidung im Erwachsenenalter aufschwatzen lassen als die Verwendung von Kondomen. Das kann man dann ganz problemfrei noch einfordern.
circ.org: „only anecdotal evidence“ – einer dieser „anekdotischen“ Beweise führte übrigens zu dem Urteil. Ob der Junge, der fast daran gestorben wäre, das als Anekdote verbucht?
Die Beschneidungsgegner sind definitiv divers und mit vielen möchte man nicht einmal im Bus sitzen. cirp.org hat allerdings eine logische konsistente Argumentation als Ausgangsbasis, die ich auch individuell nachvollziehen kann, circ.org arbeitet ausschließlich positivistisch: nur Studien und keinerlei logische Konsistenz.
Ich halte es für einen Trugschluss, sich in dieser Debatte zu sehr auf Lust zu konzentrieren. Das unbearbeitete und konfliktuöse Feld ist Schuld.
„Ich finde es wichtig den Körper nicht nur als Argument der biologischen Verletzbarkeit und der folgenden psychischen Schädigungen zu diskutieren.
Sondern den Körper als soziales, gefühltes, gelebtes und dialogisches Fundament einer hitzigen Debatte anzuerkennen und auszuweisen.“
Ich argumentiere nicht biologistisch, sondern, und auch nur auf ein spezifisches Argument hin, logisch in Anerkennung biologischer/anatomischer Fakten. Das meint bio-logisch in Distanzierung zu biologistisch. Freuds Herleitung des Oedipus-Komplex ist bio-logisch, die biologisch notwendige Ablösung des Kindes von der Mutter führt logischerweise zu den von ihm angeführten Konflikten. Das macht das gesellschaftliche aus ebenso wie das gesellschaftliche das biologische schon früh modifiziert, teilweise vor der Geburt. Will dein letzter Satz nun dafür plädieren, die Lust der Beschnittenen anzuerkennen? Das wird doch nicht bestritten. Es wird nur gesagt, dass es das Individuum vor eine heute höchst unnötige Herausforderung stellt, die stets einige unter Druck oder Absenz zusätzlicher Faktoren nicht leisten können werden.
Auch wenn mir der Austausch, gefällt, verlasse ich den Schauplatz nun. Abschließende Randbemerkungen:
Liest Du die Links, die Du postest? Wenn ja, was ist an dem hier (von http://www.cirp.org/library/sex_function/) besser als an dem von Dir Kritisierten?
„Premature ejaculation. Lakshmanan & Prakash (1980) report that the foreskin impinges against the corona glandis during coitus.15 The foreskin, therefore, tends to protect the corona glandis from direct stimulation by the vagina of the female partner during coitus. The corona is the most highly innervated part of the glans penis.19 Zwang argues that removal of the foreskin allows direct stimulation of the corona glandis and this may cause premature ejaculation in some males.32 O’Hara & O’Hara (1999) report more premature ejaculation in circumcised male partners.41 The presence of the foreskin, therefore, may make it easier to avoid premature ejaculation, while its absence would make it more difficult to avoid premature ejaculation. Masood et al. report that circumcision is more likely to worsen premature ejaculation than improve it.64 The Australian Study of Health and Relationships found that „26% of circumcised men but 22% of uncircumcised men reported reaching orgasm too quickly for at least one month in the previous year.“65 Kim & Pang (2006) reported decreased ejaculation latency time in circumcised men but the decrease was not considered statistically significant.66“
cirp ist kohärent, indem es alles der eigenen Position Widersprechende ignoriert. Das ist nicht mein Weg.
Bei circs (das ich hier nicht einseitig gegen cirp ausspielen will, aber zur Balance für wichtig halte) findet sich auch diese Zusammenfassung einer Metastudie:
„Studies report few severe complications following circumcision. However, mild or moderate complications are seen, especially when circumcision is undertaken at older ages, by inexperienced providers or in non–sterile conditions. Pediatric circumcision will continue to be practiced for cultural, medical and as a long–term HIV/STI prevention strategy. Risk–reduction strategies including improved training of providers, and provision of appropriate sterile equipment, are urgently needed.“
(http://www.circs.org/index.php/Library/Weiss2)
Das legitimiert meines Erachtens gesetzliche Regelungen, die medizinische Standards zu einer Bedingung der Legalität machen, aber kein allgemeines Verbot. Die Legitimität eines staatlichen Verbots ist (neben dem Antisemitismus vieler Diskutanten) nach wie vor die Frage, die für mich im Mittelpunkt steht.
Auf http://www.foreskinman.com/ gibt es am rechten Rand Links, wo man alle drei Ausgaben bei scribd oder als html lesen kann. Ich denke, dass die Ironie von Dir hineingelesen ist.
Der Verweis auf Schuld ist gut, denn ich frage mich, warum ich eine Position, die ich vor längerer Zeit noch verteidigt habe, nämlich männliche Beschneidung als zu verbietenden Eingriff in die Integrität eines Menschen anzusehen, zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vertreten kann.
Die individualistische Position trägt nicht, wenn Gemeinschaften im Vordergrund stehen wollen.
„Jüdisches Leben wird in Deutschland nicht mehr möglich sein.“ war die Aussage von Dieter Graumann, die mich sehr verunsichert.
Die eigenen Schuldgefühle gegenüber Juden, die sich vertrieben fühlen, dominiert mein Denken über dieses Thema.
Hinzu kommen die häufigen, selbstverständlich wirkenden und ernstgemeint diskutierten Parallelen zum Empfinden einer Erwachsenen-Sexualität, obwohl es doch erstmal um eine zu diskutierende Körperverletzung bei Kindern geht.
Das finde ich dann sehr ärgerlich und finde diese Ver“lust“igung des Themas sehr unangenehm.
Anzuerkennen und aufzuschließen sind die eigenen leiblichen Empfindungen, die das Individuum in Anbetracht dieses Themas hat, da diese wohl nicht unwesentlich dafür sind, warum zum Beispiel eigene Schuldgefühle verborgen bleiben. Was ich meine ist den Körper nicht nur als Objekt der Debatte zu betrachten, sondern den Leib als Subjekt der Debatte zu befragen und zu hinterfragen.
@floris, warum verlässt du den „Schauplatz“?
„cirp ist kohärent, indem es alles der eigenen Position Widersprechende ignoriert. Das ist nicht mein Weg.“
Cirp zitiert und diskutiert zumindest sehr viel ausführlicher unterschiedliche Positionen als circ. In bestehendem Punkt werden zumindest Studien angeführt, die ejaculatio praecox bei Beschnittenen als prävalenter ansieht. Diese Irritation wird merkwürdig positiv ausgebeutet und ich kritisiere das. Der Tenor ist aber pro-sensitivität, während circ mehr oder weniger total contra-sensitivität ist.
„Loss of sexual pleasure. Denniston reported that some circumcised men would not have the operation again because of loss of sexual pleasure.61 Kim & Pang (2006) reported that 48 percent of Korean men in a survey experienced loss of mastubatory pleasure after circumcision as compared with 8 percent that experienced increased pleasure and 8 percent reported improved sexual life, but 20 percent reported worsened sexual life.66 Solinis & Yiannaki reported that 16 percent of the men in their study reported a better sex life after circumcision but 35 percent reported a worsened sex life.69“
Cirp kann immerhin zwei verschiedene Verläufe denken und akzeptieren, nämlich Verbesserung und Verschlechterung des Sexuallebens durch Beschneidung bei verschiedenen Individuen. Es werden natürlich nur Studien zitiert, die eine Verschlechterung dominieren lassen. Aus einer „Umstrittenheit“ kann ich aber trotzdem mir zumindest eine Meinung bilden, die so große Skepsis gegen die Beschneidung hegt, dass sie das Risiko nicht vertreten kann.
Ein Verbot ergibt sich auch allein aus der rechtsstaatlichen Konsequenz. Wenn FGM in allen Formen verboten ist und die Ohrfeige (zu Recht) als Kindesmißhandlung geächtet ist, dann ist ein Verbot der Beschneidung überfällig. Wird die Beschneidung erlaubt, muss die Klitorisentfernung, eventuell auch die Entfernung der Labien erlaubt werden und die Züchtigung ebenfalls. Wenn diese Dinge erlaubt sind, sind wir auch rasch wieder beim Ehrenmord, bei der arrangierten Ehe, der Zwangsehe, der Kindsehe, etc.
So finde ich etwa das hier äußerst dünn und fast armselig: http://www.circs.org/index.php/Reviews/Body_image
Nun habe ich diesen Comic „Foreskin-Man“ gelesen und kann ihn kaum für so gefährlich erklären wie die Zitate es annehmen lassen. Ja, der Mohel ist nicht nett gezeichnet, das ist der Doktor nicht und die afrikanischen Beschneider ebenfalls. Der Mohel ist allerdings nicht „der Jude“, sondern ein spezifischer Jude und es ist sogar sehr gut möglich, dass Foreskin-Man selbst Jude ist, zumindest sind seine engsten Vertrauten jüdisch, seine Schützlinge, von denen einer wie er blond und blauäugig ist. Ebenso gibt es nette Afrikaner und fiese afrikanische Beschneider. Die Dämonisierung bleibt strikt auf das Ritual bezogen, nicht auf die Abstammung. Wie in jedem Comic gibt es eine Rassisierung der Moral, die Bösen haben keine Augen, fiese Zähne, körperliche Mutationen, hier gibt es aber keine Rassisierung der Abstammung oder eine endlose Wiederholung von Körperattributen wie jene stereotypen Zeichnungen von „Negerkindern“ in klassischen Comics. Und bitte, wo sieht schon mal einen Superhelden mit Baby-Trage? In ihrem Narzissmus und Männlichkeitsideal sind die Superhelden zur übermächtigen Solidarität und mütterlicher Fürsorge fähig, im Gegensatz zu der Gesellschaft, die den regressiven Wunsch nach ihnen hervorbringt.
Was dem comic vorzuwerfen ist, wäre dasselbe wie ich im ersten Artikel bemerkte: Dass es eine Verkürzung und einen Trugschluss darstellt, individualpsychologische Merkmale in das Ritual einzudenken, das zwar ohne individualpsychologie nicht zu denken ist, aber gleichzeitig nicht das individuelle Interesse durchsetzt, sondern das Kollektive. Nicht Sadismus, sondern Unterordnung und Kollektivität ist das erzielte Gefühl, häufig explizit mit Widerwillen oder Ekel vor dem gewaltförmigen Akt erkauft.
In Foreskinman wird ein jüdisches matrilineares Prinzip gegen ein rituelles, patriarchales Prinzip verteidigt. Die Geburt durch die Mutter gründet den Bund, das Ritual des Vaters zerstört ihn – der Bund der Familie wird gegen den der Gesellschaft gestellt. Ob man das gut findet oder nicht, es ist eine reale Konstellation in der Beschneidungsdebatte. Miriam Pollack argumentiert, nachdem sie auch viel Unsinn schreibt, entlang dieser Linie. Gegen die theologische Argumentation, der jüdische Bund und jüdische Identität sei ohne Beschneidung unmöglich, argumentiert sie, dass die Geburt durch eine jüdische Mutter die Identität herstelle und die Beschneidung sekundär sei. Das ohne weitere Diskussion in den Raum geworfen, es ist nicht mein Interessensgebiet und nicht mein Argument.
http://www.huffingtonpost.com/miriam-pollack/circumcision-identity-gen_b_1132896.html
Es ist schon richtig, dass man auch ohne Beschneidung Jude ist, nur hat die Unbeschnittenheit eben religiöse Konsequenzen: Unbeschnittene dürfen keine Bar Mitzwa haben, dürfen nicht am Seder teilnehmen, nicht zur Thora aufgerufen werden.
Deswegen ist die Beschneidung nicht nur sekundär, sondern elementar. Dass das weg gelassen wurde, spricht dafür, dass die Autorin wenig Ahnung hat oder es mit Absicht weg lässt. So kann man aber eben nicht diskutieren.
Dann gibt es halt ein kleines Schisma, sowas passiert historisch öfters. Aber diesen theologischen Konflikt überlasse ich ganz den Religiösen. Orthodoxie und Reformation haben sich ja auch an anderen Fragen herausgebildet: Geschlechtertrennung, Homosexualität, weibliche Rabbinen… Die katholische Kirche wird wohl noch in diesem Jahrhundert das Zölibat abschaffen und Priesterinnen zulassen müssen. Und die Evangelikalen in den USA müssen sich fragen, ob sie nicht doch der massive Kreationismus auf lange Sicht ins wissenschaftliche Abseits stellt. Dass es aktuell fundamental für die Religionsausübung ist, streite ich ja nicht ab, nur werden Religionen von Menschen produziert, auch wenn sie das manchmal vergessen.
Für orthodoxe Juden ist nichts menschengemacht, auch wenn es Atheisten schwer fällt, das zu akzeptieren und vor allem zu respektieren.
Aber das liegt vor allem an der weitverbreiteten gottlosen dt. Gesellschaft.
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„Umgekehrt wurde bisher allen psychoanalytischen Spekulationen von Freud bis Lacan zum Trotz nicht der geringste Nachweis für eine langfristige traumatische Wirkung des Eingriffs bei achttägigen Knaben erbracht. Wollte man diese Vermutung ernsthaft prüfen, müsste man zwei nach Zufallskriterien ausgewählte, repräsentative Stichproben von beschnittenen und unbeschnittenen Babys bei Kontrolle aller anderer Faktoren wie soziale Schicht, Bindungsqualität, Einkommen und Bildungsstand etc. – im Rahmen einer mindestens zwanzig Jahre laufenden Längsschnittstudie psychologisch testen. Derlei Studien liegen nicht vor, unabhängig davon, ob sie forschungsethisch überhaupt zulässig wären.“
http://www.fr-online.de/kultur/beschneidung–judentum-und-islam-hier-nicht-erwuenscht-,1472786,16529678.html
@yael: Wenn man genau hinsieht, ist das kein Argument für die Beschneidung, sondern nur ein Ressentiment gegen die Psychoanalyse, die eben positivistische Nachweise nicht erbringen könne.
Es gibt aber dazu keine Langzeitstudie, die weder das eine noch das andere belegt. Alles andere sind reine Spekulationen, die mehr schaden als nützen. Wozu also? Wenn Wissenschaft ernst genommen werden will, muss sie ihre Ergebnisse auch belegen können.
Dass es keine solche Studie gibt, wie Brumlik schreibt, hat nichts mit pro oder kontra Beschneidungen zu tun.
Seit wann schaden Spekulationen? Nein, es gibt eine psycho-logik. Und innerhalb derer kann man Thesen aufstellen. Aber ich argumentiere ja auch nicht, dass konkret durch das Ritual psychische Beeinträchtigungen stattfinden. Traumatisierung ist kulturell bedingt. Die Kinder, die sich aus Trauer die Finger abhacken nur als Beispiel. Oder die Skarifizierung. Körperverletzung kann Ich-Synton sein, das findet sich schon bei deSade.
Ich werde mich zumindest nicht an positivistischen Spekulationen beteiligen, die behaupten, eine Minderung des Intelligenzquotienten durch Ohrfeigen festgestellt zu haben oder an neurolinguistischen Phantasmen der Hirnforschung, die über den Zusammenhang bunter Bilder von Hirnaktivitäten mit geistigen Tätigkeiten spekuliert. Ich bevorzuge die harten Fakten der Philosophie.
Hier noch eine ausführlichere Erwiderung:
http://jungle-world.com/jungleblog/1780/
Ich werde nicht die Diskussion auf Jungle World betreten und mich dafür registrieren, aber in Kürze:
„Sie scheinen – einigen religiösen Fundamentalismen nicht ganz unähnlich – ihre eigene Vorstellung vom guten Leben kulturkämpferisch gegen andere, das heißt insbesondere gegen religiöse durchsetzen zu wollen.“
Sagt ja auch Kulturkämpfer Matthias Matussek im Spiegel. Diese orchestrierte neue Angst der Religionen vor „zuviel“ Aufklärung ist der beste Grund, den Reisepass aktuell zu halten.
„Wenn sich tatsächlich zeigen ließe, dass die Beschneidung schwerwiegende psychische und körperliche Beeinträchtigungen für das Kind nach sich zieht, wäre sie zu verbieten.“
Du wiederholst dich. Die schwerwiegenden körperlichen Beeinträchtigungen sind Schmerzen und das Fehlen der Vorhaut.
Du bleibst borniert gegen deine eigene Urteilfähigkeit.
„Was die Beschneidungkritiker_innen als die wissenschaftliche Forschung präsentieren, ist also tatsächlich eine sehr einseitige Auswahl von Forschungsergebnissen.“
Und einseitig ist, dass du hier nicht konzedierst, dass die Beschneidungsbefürworter eine eine sehr einseitige Auswahl vornehmen und konkret, das heißt ausführlicher, wirst. Im Übrigen sind 2/3 der Kinderärzte und Chirurgen gegen die Beschneidung, ich empfehle die entsprechenden Artikel im Ärzteblatt. Der „wissenschaftliche“ medizinische Stand ist absolut contra Beschneidung – selbst in den USA. Und natürlich ist Wissenschaft immer diskursiv, manche meinen ja auch, Günter Grass Antisemitismus ließe sich nicht wissenschaftlich belegen.
„Es kann nicht als wissenschaftlich erwiesen gelten, dass eine medizinisch fachgerecht vorgenommene Beschneidung schwere Beeinträchtigungen oder große Risiken mit sich bringt, ähnliches gilt für die oft zitierten positiven Effekte.“
Du mogelst dich durch. Es kann durchaus so gelten, nur kannst du es nicht wissen, weil du die Studien nicht abwägst und inhaltlich wirst. Das läuft auf Ignoranz hinaus: „Man weiß ja jetzt gar nicht mehr, was man glauben soll.“ Und das ist tatsächlich schlampig und nicht skeptisch.
Dein Skifahr-Relativismus kann sich nicht verwahren gegen jegliche „halt-so“-Rituale, inklusive FGM oder Hexenjagd. Es ist halt überall schlimm und besser bleibt man gleich daheim. Es bleibt undifferenziert und wurstig dem Thema gegenüber.
„große Risiken“ sind für dich also nicht die 0,7-10% Komplikationsrate, der konkrete Fall einer lebensbedrohlichen Komplikation, die logisch denkbaren Fälle von Komplikationen bei in dem Alter unentdeckten Blutern, Keloide, das Risiko einer Narbenkomplikation. Man wägt heute selbst bei einer Darmspiegelung, jeder Medikamentengabe und bei jeder Narkose ab, ob man die Risiken vertreten kann, auch wenn der „gesunde“ Menschenverstand sich ohne Probleme mit Propofol wegschießen lässt. Die Forderung nach Narkosen ist ebenfalls problematisch, Narkosen stellen ein Risiko dar. Die allgemeine Lehrmeinung für die Operation ist: So wenig behandeln wie nötig. Es kommt IMMER bei einer Anzahl von Individuen zu Komplikationen und bei Beschneidungen erst recht. Nur dass sich hier keinen erwiesenen medizinischen Nutzen gibt, weshalb es eine Verletzung des hippokratischen Eides darstellt, eine Beschneidung ohne medizinische Notwendigkeit vorzunehmen.
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Ich antwortete auf Publikative:
Aus dem Elfenbeinturm:
1. Die “Faktenlage” die Ivo Bozic einfordert, ist die faktisch nachgewiesene Absenz der Vorhaut bei diesen Milliarden Männern und ihre erfolgte chirurgische oder gewaltsame Abtrennung. Was ist daran wissenschaftlich umstritten? Sie gehen nicht auf die Funktion der Vorhaut ein und darum scheitern sie auch in dieser Diskussion.
Sobald man 1,5 Milliarden Männern den kleinen rechten Finger abtrennte, und sie fortan glücklich durch die Welt liefen, wäre ihrer Argumentation auch der wissenschaftliche Nachweis nicht erbracht, dass es sich dabei um planvolle Verstümmelung handelt.
2. “mit paternalistischem Gönnergestus zugestehen zu müssen, dass sie “auch ein einigermaßen erfülltes Sexualleben genießen” können. Sorry guys, aber mehr als dieses “einigermaßen” ist nicht drin, denn der fehlende Rest bleibt offenbar psychoanalytisch ausgebildeten linken Akademikern in den lichten Höhen eines universitären Marburger Elfenbeinturms”
Ist ihnen in den Sinn gekommen, dass ich damit hinterfrage, ob es überhaupt so etwas wie dieses Phantasma eines “erfüllten Sexuallebens”, schon das zweite Wort ist eine Untat, gibt? Dass ich es schlicht nicht über die Tastatur bringe, von “Erfüllung” zu schwafeln, wo es um ein Geflecht von oedipalen Projektionen und ins Private gewanderten Tauschverhältnissen geht?
Ihr Neid auf eine “offenbar psychoanalytische” Ausbildung ist ganz fehl am Platze: sie fand und findet abseits konventioneller Kategorien statt. Sie erfolgte ehrenamtlich, aus Interesse mittels Lektüre und Lebenserfahrung. Die “lichten Höhen” bestehen aus einem Kieferngestrüpp, das man hier Wald nennt und modrigen Fachwerkslums, in die man Studenten Dutzendweise pfercht. Der Elfenbeinturm schreibt für Lehr-Sklaven wie mich einmal im Jahr einen Lehrauftrag über ein Semester aus, nominaler Lohn 860 Euro in 6 Monaten, realer Stundenlohn 5 Euro, ohne Rente, Steuer, Krankenversicherung, Kündigungsschutz, Schlechtwettergeld. Berufsperspektive: Arbeitslosigkeit. Leute wie sie profitieren davon und schimpfen voller Neid auf vermeintliches Elfenbein, das zwischen veralteten Computern und leeren Bibliotheken schimmere.
Soviel Antiintellektualismus führt natürlich straight in die Äquidistanz.
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