Man stelle sich einen Film über 11-jährige Jungen vor, die heimlich rauchen, Pornos auf dem Handy schauen und „voll eklig“ finden, sich in Männerrollen üben, erste Muskeln heranzüchten, gegenseitig in Laserdromes beschießen und für die Aufmerksamkeit von Mädchen zu Klassenkaspern werden. Es wäre vermutlich kein Skandalfilm. Flösse die eine oder andere Träne oder entdeckte einer der Jungen schüchtern seine aufkeimenden homosexuellen Regungen und die Onanie, würde ein solcher Film vermutlich gefeiert als Einblick in das „wiedersprüchliche Gefühlsleben“ von präpubertären Jungen.
„Mignonnes“ hingegen erregte Entrüstung und eine Form von Ekel und Abscheu, die man auch in den Verteidigungen des Films noch als Inszenierung erkennt. Die einen zeigten Netflix wegen „Kinderpornografie“ an oder werteten den Film in organisierten Onlinevotings ab. Die Regisseurin wird auf youtube und anderen Portalen regelrecht gemobbt.
Das Fazit der wohlmeinenden Kritiken hingegen ist oft nicht viel besser, wenn es im Film ausschließlich eine „schonungslose“ Kritik der „Hypersexualisierung“ junger Mädchen sieht. Eine solche reduktionistische Interpretation spricht Bände über das Rollenbild und die damit einhergehenden Zwänge, die der Sexualität präpubertärer Mädchen auferlegt werden. Der Film kritisiert Übersteigerungen und narzisstische Angebote, er leistet aber auch eine ernsthafte analytische Perspektive auf die Sexualität von Elfjährigen.
Die Geschichte ist rasch erzählt: In ihrem verzweifelten Protest gegen die zweite Heirat des tendenziell abwesenden, nur durch Geschenke präsenten Vaters in die Bigamie rebelliert Amy. Sie schließt sich einer jungen Gang von Elfjährigen an, die sich durch rebellischen Konformismus und bauchnabelfreie Mode definiert. Anerkennung suchen sie als Tänzerinnen zu erlangen. Und weil die jungen Tänzerinnen ihr Handwerk ernst nehmen, studieren sie auch Montagen weiblicher Verführungsmasken und -gesten ein, die beispielsweise Shakiras Bauchtanz oder Christina Aguileras „dirrty“ entnommen sind. Die Entdeckung der rotierenden Hüfte markiert den Schritt in die Eskalation: Twerken, Spagat und schließlich Tabledance-Elemente. Die Kamera folgt den Reizimpulsen beharrlich, stellt die Körperlichkeit der Elfjährigen in bauchnabelfreien Tops und Fetischmode wie wetlook-Leggins dar. Die Kameraführung analysiert nüchtern und kühl den Effekt, wie es auch die dargestellten Elfjährigen untereinander tun.
Dieser darstellende Blick wurde als Dienst an männlichen „Prädatoren“ interpretiert und Doucouré angelastet. Darin artikuliert sich nichts als das alte Stereotyp, dass Kleidung Vergewaltigung provoziert, dass die männlichen Prädatoren Verführte seien, dass Mädchen und Frauen ständig aufpassen müssten, diese nicht zu reizen. Die ganze Last, Missbrauch zu vermeiden, wird Mädchen auferlegt, die in Büchern und Filmen beständig mit sexueller Gewalt bedroht werden, wo sie experimentieren. Doucouré zeigt auch die begehrlichen Blicke einiger Männer, aber sie denunziert darin nicht das präpubertäre Spiel mit Erwachsenenrollen. Als die Mädchen während einer Tanzshow von Frauen ausgebuht werden, ist darin weniger reifes Schutzbedürfnis zu erkennen, als vielmehr der Neid auf eine unschlagbare Konkurrenz. Dieser Neid der Mutter auf das Kind, das sexuelle Gewalt vom Vater erfährt, ist Bestandteil vieler Biografien von Opfern.
Im inszenierten Ekel vor den sexualisierten Gesten der jungen Mädchen äußert sich auch Ekel über junge Mädchen. Deren ambivalente Gefühlswelt zwischen Regression und Härte stellt Doucouré ins Zentrum.
Doucouré hat sich dem Thema im besten Sinne vorurteilsfrei und ethnologisch angenähert und hunderte Interviews mit jungen Mädchen geführt. Sie möchte mit ihrem Film Kritik leisten, sieht ihn als feministischen Beitrag an. Das ist ihr gelungen. Der Film hat für junge Mädchen eine eindeutige Botschaft: Traue dich, zu weinen und zur Mutter zu gehen, Menstruation ist keine Schande und am Ende lautet das erlösende Fazit des Films: „du musst nicht mit zur Hochzeit“, du darfst Kind sein und Seilspringen, egal wie groß du schon bist und wie rasch du wächst.
Der Film verweigert den Schritt ins stereotype Sozialdrama, das für ein junges Mädchen senegalesischer Abkunft die Rolle reserviert, zum Beispiel vor Zwangsehe und FGM in die Emanzipation zu fliehen. Doucourés Geschichte ist komplexer angelegt und kränkt dadurch westliche Sehgewohnheiten. Sie zeigt, dass Emanzipation in Widerstand gegen Tradition als auch gegen peer-group-pressure und Marktgehorsam, gegen Eltern und doch auch auf Grundlage der Erfahrungen der eigenen Mütter und Großmütter geleistet werden muss. Oder anders: dass Emanzipation auch aus der Erfahrung mit scheiternden Experimenten entsteht und stets ein unabgeschlossener Prozess ist.
Als Amy dem Cousin ihren Körper zum Tausch gegen dessen Smartphone anbietet, das ihr die Welt zu einem anderen Kollektiv außerhalb der Familienzwänge öffnet und bedeutet, stößt sie auf dessen entsetzten Widerstand, aber auch auf kopfschüttelnde Toleranz: Sie spinne ja. Ihr Körper wird verschmäht, es kommt eben nicht zur sexuellen Gewalt, wie sie die Sehgewohnheiten des westliche Kinopublikums nun erwarten, das solche kindlichen Experimente sofort mit der Vergewaltigung bestraft. Auch Männern wird Reife zugestanden. Sinnbild dessen ist der Mallam, der keine Geistbesessenheit in Amy erkennen will und den Konflikt richtig als übertragenen Mutterkonflikt analysiert. Er empfiehlt ihrer Mutter die Scheidung vom bigamen Ehemann. Nach dieser Intervention erfährt Amy schließlich Akzeptanz für ihr Psychodrama: Sie müssse nicht mit zur Hochzeit des Vaters. Sie geht auf die Straße zum Seilspringen mit anderen Kindern.
Auf symbolischer Ebene erklärt sich dieser kathartische Moment so: Ehe ist Erwachsenensache. Sie ist durch die Befreiung von der Hochzeitsfeier vom unbewussten Zwang befreit, selbst die zweite Ehefrau des Vaters zu werden und mit der Mutter zu konkurrieren. In deren Akzeptanz des Scheiterns des monogamen narzisstischen Versprechens, die einzige und schönste zu sein, endet auch für Amy der Zwang zur ständigen narzisstischen Selbstaufwertung.
Der Film ist mehr als ein individuelles Psychodrama. Er gesteht jungen Mädchen zu, einen Körper zu haben und zu spüren. Die gezeigte Preteen-Mode weckt Entrüstung – dabei sinkt das Alter der Geschlechtsreife im Westen kontinuierlich und manche Elfjährige haben mitunter einvernehmlichen Sex innerhalb ihrer Alterskohorte und damit ein Recht auf Verführungsakte. Der Film lässt Mädchen twerken. Dagegen meldet sich das viktorianische Erbe Europas mit seiner Verpflichtung zum versteiften Unterleib an. Den Spagat dürfen Mädchen schließlich nur in Gymnastikgruppen auf blauen, nach Kautschuk und Schweiß riechenden Matten erlernen und zeigen – nicht aber in Lackhosen in der Öffentlichkeit. Mit sieben im Tutu Ballett vorzutanzen ist legitim – twerken nicht. In allen Schwimmbädern werden bereits Kleinkinder durch rutschenden Bikinioberteilen gehemmt, die sie lediglich tragen, weil die Eltern sich für Brustwarzen ihrer Töchter schämen und das Kind in die Scham über seine Brustwarzen nötigen. Elfjährige in Wetlook-Leggins hingegen erzeugen einen Skandal.
Auch die Angst vor pädo- und ephebosexuellen Prädatoren erzeugen Anpassungsdruck auf Mädchen, auf Opfer. Als Amy in einem Akt der verzweifelten Rebellion mit dem Smartphone des Cousins ihre Vagina fotografiert und das Foto ins Netz stellt, wird sie selbst von ihrer peer-group ausgegrenzt und im Klassenzimmer von einem Mitschüler mit einem Schlag auf den Po belästigt – sie sei ja ohnehin eine „Schlampe“. Das westliche Modell des Schutzes vor sexueller Gewalt läuft auf solches victim-blaming hinaus: Weil Gesellschaft nicht in der Lage ist, Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen, sollen Teenager ihre Geschlechtsteile nicht online und öffentlich diskutieren, sondern beschämt verbergen. Kommuniziert wird dadurch, dass der Anblick von Vaginas Gewalt erzeuge, dass sie tatsächlich „die Scham“ sind. Ein wesentlicher Bestandteil des Feminismus aber ist, die gesellschaftliche Perspektive auf das tabuierte „Loch“, mit einem Etwas, der Vagina, zu füllen und Mädchen dadurch selbstbewusste Körperlichkeit zu geben. Es ist eben kein bedrohliches, blutendes Nichts, kein bezähnter Höllenschlund, der Penes verschlingt, sondern ein eigener Körperteil, dessen Anblick Amy trotz der erfahrenen Ausgrenzung letztlich das Selbstbewusstsein vermittelt, aus dem Anerkennungszyklus auszubrechen.
Die linkischen erotischen Gesten der Präbuertierenden sind auch Suche nach Macht, Identifikation mit mächtigen Müttern und Suche nach Ersatz. Mehr noch: Sie können als Satire, als Kritik des weiblichen Charakters in Kulturindustrie, als Kritik an der Reduktion auf Kauf und Repräsentation eingesetzt werden. Die Travestie der Elfjährigen verspottet schließlich männliches Begehren und weibliche Anpassung daran.
Es ist das Verdienst der Regisseurin Maïmouna Doucouré und ihren hervorragenden Schaupielerinnen, ein Gegenmodell zum aufgeregten und ängstlichen Umgang mit bedrohlich sexuellen Mädchen zu entwerfen: Das der Mutter, die das Kind in seinen präpubertären Rollenspielen letztlich verstehen lernt, akzeptiert und liebt.
Siehe auch:
https://nichtidentisches.de/bahamas_60/