„Never again“, „Singularität“ und andere pathische Ideologeme

Einer der banalsten Sätze Adornos, der auf die eigene Banalität schon reflektiert, ist „Den­ken und Han­deln so ein­zu­rich­ten, dass Ausch­witz nicht sich wie­der­ho­le, nichts Ähn­li­ches ge­sche­he.“ Aus diesem Satz wird gerne ein „Imperativ“ gemacht, auf den man sich berufen muss, als könne es das eigene Denken eines jeden nicht selbstständig ohne Nennung des großen Namens zustande bringen. Erneut sei erwähnt, dass es sich nicht um den „kategorischen Imperativ Adornos“ handelt, wie häufig in Unkenntnis des Textes die Phrase gedroschen wird, sondern dass Adorno diesen Imperativ als einen von Hitler der Welt aufgezwungenen benennt. Adornos explizit nicht philosophischer Satz zeichnet kein hohes Abstraktionsniveau aus, sondern das Einfachste.  Keinerlei Bildung oder Ausbildung sollte es bedürfen, um einen solchen Schluss aus der Erfahrung der Shoah zu ziehen. Ihn affirmativ zu zitieren ist ähnlich dümmlich wie eine Definition von Freiheit aus dem Lexikon zu zitieren oder einen wunders was großen Philosophen zur Benutzung eines Alltagsgegenstandes herbeizurufen. Das Zitat verweist vielmehr auf einen rituellen Charakter einer Beschwörung, als könne die Nennung schon ein allgemeines Bewusstsein schaffen, das zur tatsächlichen Verhinderung beitrage.

Ähnlich verhält es sich mit der vielberufenen „Singularität des Holocausts“. Dass sich hier etwas grauenvoll Besonderes, ein für allemal Hervorstechendes ereignete, merkten auch und gerade die Ungebildeteren. Gegen Leugner und Relativisten war diese Phrase als Therapeutikum angedacht. Den Eliten heute dient der zur Phrase geronnene Satzbaustein  eher zur Verblindung gegen tatsächlich Besonderes gegenüber Ähnlichem und Anderen und als immunisierenden Merksatz zum getrosten Weitermachen wie bisher.

In einem Artikel über Rwanda schrieb ich:

Jegliches Kategorisieren und Vergleichen droht angesichts der absoluten Barbarei in Rationalisieren abzugleiten. Auschwitz wird sich nicht wiederholen, es hat sich nie wiederholt und es war immer schon ein Teil eines noch größeren Grauens.
Dass jedoch nichts irgend Ähnliches geschehe ist gleichsam der Kern des von Adorno nur mühsam ausformulierten kategorischen Imperativs der Menschheit nach Hitler. In Ruanda zeigten moderne Demokratien zum wiederholten Male, dass sie nicht in der Lage noch Willens sind, Völkermorde zu verhindern. Jedes Fazit erübrigt sich.

Dieses Ähnliche geschah zu oft, als dass man sich die Nichtbeschäftigung damit mit dem Verweis auf die Singularität von Auschwitz erspart. Dieser Singularitätsfetisch führt letztlich dazu, dass Todeslager wie Sobibor oder die Massenerschießungen im weiteren Osten nicht mehr als Teil der industriellen Vernichtung gedacht werden, die Auschwitz zum Inbegriff des Grauens – und selbst dieses Wort ist zu schwach für das Namenlose – machte. Paradox gegen die „Singularität“ steht die vollmundige Forderung „Never Again“, die von Überlebenden vorgetragen noch äußerstes Recht hat, 2010 aber nur noch abgeschmackt klingt. Auschwitz konnte sich nicht wiederholen. Ähnliches hat sich  zu oft ereignet: In Kambodschas Lagern, in denen Millionen von Intellektuellen und Städtern  tatsächlich dem gleichen Prinzip der Vernichtung durch Arbeit ausgesetzt waren, das in Deutschland nicht erst ersonnen wurde und auch im jungtürkischen osmanischen Reich schon als instinktives Verfolgungswissen gegen Armenier verwendet wurde. In Litauen wurden 95% der Juden von einer hasszerfressenen Gemeinde an Ort und Stelle ermordet. Sehr Ähnliches geschah in Ruanda, wo Nachbarn zu Mördern wurden und nun Überlebende mit Mördern Tür an Tür auskommen müssen. An der Weiterentwicklung von Techniken der Folter und dem Verschwindenlassen, die in Südamerika genozidale Diktaturen prägte, hatten geflohene Nazis entscheidende Anteile. In Asien bedurfte es keiner Nazis, um die gleichen Techniken zu erfinden und zu verfeinern. Allen Opfern schlägt das zuallererst identitäre „Never again“ ins Gesicht. Die magische Formel ist ein neurotisches Prinzip, das Realität durch Wiederholung des Spruchs abdrängen will. Der Satz dient nicht mehr dazu, mahnend an den Holocaust zu erinnern und ihn erst ins Geschichtbild zu rücken, sondern er hat die fatale Konsequenz, das inzwischen geschehene Ähnliche auszuklammern, als sei es nie geschehen. Die Parole ist nur der Gärschaum eines ganz unreflektierten Wunsches nach dem Gutseinkönnen. Wo sie erklingt, muss man sich die ernsthaftesten Sorgen machen, dass hier keinerlei echte Widerstandskraft zu erwarten ist, die über die Parole hinaus zu handeln und zu denken weiß.

16 thoughts on “„Never again“, „Singularität“ und andere pathische Ideologeme

  1. Deine Ausführung bezieht sich auf Auschwitz, die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, als den konkreten Vorgang. Auf der Ebene der Durchführung, der Qual, des Leids, des Mordens finden sich wie du zeigst viele ähnliche Grausamkeiten.
    Die Singularität bezieht sich doch aber wesentlich darauf „was“ da, mit seinem Höhepunkt in Auschwitz, passiert ist und nicht vorrangig „wie“ es passiert ist. Es geht also um den Antisemitismus, um die absolute hingabe an einen Wahn in der Hoffnung darin das Weltenheil zu finden. Und das nicht nur durchgeführt von einer abgrenzbaren Gruppe, sondern von einem Staat und seinem Volk kollektiv begangen.
    Ist es nicht der sogenannte „Zivilisationsbruch“ der Auschwitz seine singulaität gibt?

  2. Die Frage, die ich im Text zu entwerfen versuche, wäre möglicherweise so zu fassen, wie man jene Versuche, das Leid der Überlebenden und der danach Geborenen zu leugnen und zu relativieren von einem bereichernden Vergleich abzugrenzen weiß – also ohne allergisches „Den-Kopf-Beiseite-Drehen“ auf die Nennung der Wiederholung von Ähnlichem auskommt, sondern eben in der vergleichenden Bearbeitung dieser eine Steigerung des Bewusstseins für die Spezifik der Genozide denkt. Demnach eine komparative Forschung, die keine relativistische ist.

    Dann müsste man auch nicht mühevolle Hilfskonstrukte wie „Zivilisationsabbruch“ herbeibemühen. Wann in Deutschland Zivilisation war und wann sie abbrach lässt sich schwer genau festmachen – sicher ist, dass in der Jahrtausendealten Pogromgeschichte, den brennenden Menschenopfern der Germanen, den Feuerbräuchen, den Hexenverbrennungen und den restaurativen Tendenzen die noch jede Aufklärung einzudämmen wussten, der Zivilisationsabbruch auch in gewisser Weise eine Tradition und Vorgeschichte hat.

    Die Frage ist auch, ob in den vielzitierten Besonderheiten der deutschen, ukrainischen und baltischen (um die Hauptakteure zu nennen) Täterstrukturen nur Tabus genannt werden, die, wenn die Grenzen erweitert werden, zu heftigen Ängsten wie dem Verlust der Trauer oder vielleicht mehr noch der Angst aufgrund der zu schließenden Verbreitung solcher psychologischen Komponenten sich selbst als Opfer einer möglichen Wiederholung oder schlimmer noch als möglicher Mittäter sehen zu müssen.

    Die Behauptung der Singularität wäre dann nichts weiter als eine Wunschbehauptung, dass es sich daher auch nicht wiederholen könne, weil es einzigartig war. Das ist der Kern meiner Aussage. Darum klammern sich auch viele etwas borniert an die Phrase von der Einzigartigkeit und können von anderen Genoziden nichts hören oder sehen, weil die Wiederholung des zu Ähnlichen schon den Wunsch nach einer Nichtwiederholung gekränkt hat.

    Wenn es die ideologischen Komponenten waren, so wären die Formeln „totale Aufopferung“ nochmals zu differenzieren. Erschreckend war nicht nur die Macht der Nazis sondern auch die Ohnmacht der zahllosen, die nicht mit diesen einstimmten. Die Hälfte der Deutschen war SPD oder zumindest irgendwie den Nazis überhaupt nicht freund. Trotzdem machten sie irgendwo mehr oder weniger mit, weil sie Widerstand – und der impliziert das mögliche Selbstopfer – nicht denken konnten. Sie waren einfach in der Masse auch zu feige, ihr Leben für die Freiheit zu riskieren und hofften mit allem irgendwie durchzukommen – innere Emigration. Das Selbstopfer für die Freiheit überließ man den Amerikanern. Das ist die Dialektik der deutschen Opferbereitschaft. Ein weiterer Baustein dieser Dialektik ist die japanische Opferbereitschaft, die noch feudal vermittelt war, der deutschen aber in nichts nachstand.

    Komparative Forschung wäre nicht als Vorstufe sondern als Gegenmittel zum Relativismus zu betrachten. Jede Wiederholung des Ähnlichen vermehrt für mich den Schrecken des Nationalsozialismus, fügt den Überlebenden den Schmerz zu, dass nicht einmal das gereicht hat, um der Welt ein konsequentes Einschreiten gegen Genozide aufzuzwingen – der eingangs erwähnte „Imperativ“ hat versagt, ist nie einer geworden. Daher wende ich mich auch so entschieden gegen die Verkehrungen der pazifistischen Ideologie. Der Imperativ ist nur als Union von Waffengewalt und Wissen/Forschung zu denken. Fällt eines dieser Elemente weg, ist das Versagen vorprogrammiert. Ein voranschreitender Genozid war in allen Fällen, die sich ereigneten, nur mit der Drohung oder Anwendung von Waffengewalt aufzuhalten. Kambodschas Killing fields wurden durch vietnamnesische Truppen beendet, die in ihrem Sozialismus zumindest soweit einen Humanismus verinnerlicht hatten, dass sie diesem Grauen entgegenschritten. Rwanda wurde durch Tutsi-Rebellen befreit, die zwar vorher keine Vorzeigedemokraten waren, aber diesen Blutstrom beendeten. In Sudan ist die Rolle der Guerillas im Süden und Darfur sehr ambivalent, sie erhalten aber gegen den arabischen Rassedünkel alles Recht.
    Der jüdische Widerstand berief sich bisweilen auf Franz Werfels „Musa Dagh“, in dem ein historisch belegter Aufstand von Armeniern gegen ihre Ermordung durch Todesmärsche literarisch aufgearbeitet wird. Verfolgungswissen und Verteidigungswissen sind jeweils immer auch militärische und das Militärische ist daher nur in dieser Dialektik zu denken.

  3. Hm. Einerseits betonst Du die essenzielle Bedeutung militärischer Gewalt bei der Verhinderung bzw. Beendigung holocaust-artiger Ereignisse, andererseits wirfst Du jenen, die sich nicht den Nazis angeschlossen hatten, Feigheit vor, weil sie gegen die Nazis nicht offen revoltiert haben. Stattdessen stellst Du die Amerikaner als freiheitsliebend und todesmutig heraus, gerade so als wären die Briten, Kanadier, Australier und all die anderen, die gegen die Achsenmächte gekämpft haben, weniger couragiert gewesen.

    Jeder, der diesen Vorwurf der Feigheit gegen die Nazi-Gegner erhebt, muss sich seinerseits den Vorwurf der Großmäuligkeit gefallen lassen, wenn er nicht auch einen zumindest halbwegs realistischen und operationalisierbaren Plan dafür, wie diese Revolte hätte durchgeführt werden müssen, präsentiert. Insbesondere müsste dieser Plan darlegen, wie das Militär, das m.W.n. ziemlich offen hatte durchblicken lassen, im Falle des Falles zu Hitler zu halten, ins Bild gepasst hätte: wenn man als Hitler-Gegner damit rechnen muss, dass ein Putsch letztlich doch vom Militär zusammengeschossen wird, wird man sich einen solchen Schritt lieber dreimal überlegen. Gibt es überhaupt Beispiele für einen erfolgreichen Putsch, der gegen den Widerstand des Militärs eines Landes durchgeführt worden ist? Ich bin kein Experte für diesen Teil der deutschen Geschichte, aber es erscheint mir keineswegs übertrieben, zu behaupten, dass großflächiger bewaffneter Widerstand gegen die Nazis glatter Selbstmord gewesen wäre, insbesondere auch deshalb, weil die Koordination einer “Initialzündung” und das Erreichen einer “kritischen Masse” nicht gerade triviale Operationen gewesen wären, da sehr vielen Deutschen, wie Du ja selbst schreibst, das dafür notwendige Mindset fehlte. Jemanden, der gegen die Nazis war, aber im Grunde nur die Wahl zwischen Tod, KZ-Haft, innerer Emigration und vielleicht noch dem dezenten Streuen von Sand ins Getriebe der Nazimaschine hatte, der Feigheit zu zeihen, bedeutet m.E., die sich damals bietenden Möglichkeiten für Widerstand zu überschätzen und die Fehlschlagrisiken zu unterschätzen. Die Erfolgschancen der Alliierten, Hitler zu stürzen, waren hingegen wesentlich größer.

    Solcherlei Vorwürfe klingen für mich wie das Werk von Theoretikern, die sich mit der praktischen Komponente von politischem Widerstand weder befasst, noch sich selbst emotional, physisch und intellektuell darauf vorbereitet oder es zumindest versucht haben. Wenn Du schreibst, dass der “eingangs erwähnte ‘Imperativ’ […] nur als Union von Waffengewalt und Wissen/Forschung zu denken” ist, stellt sich mir die Frage, wann Du zuletzt auf einem Schießstand warst, oder wie lang Dein letzter Selbstverteidigungskurs zurückliegt. In einem Weblog fundierte Kritik an System und Gesellschaft zu üben, ist zwar löblich, erscheint mir persönlich aber als gelebter Antifaschismus dann doch ein bisschen wenig. Besser wäre es, belastbare Widerstandsnetze aufzubauen und “Verteidigungswissen” zu sammeln und zu vermitteln, bevor sie benötigt werden.

    Zum Rest des Kommentars und zum eigentlichen Artikel: Zustimmung.

  4. Danke für den ausführlichen kritischen Kommentar!

    Zum ersten Punkt: Die Amerikaner trugen zweifelsfrei die Hauptlast mit dem angeschlossenen Krieg gegen Japan – sie waren hier doch zu verkürzend stellvertretend für die Alliierten genannt.

    „Gibt es überhaupt Beispiele für einen erfolgreichen Putsch, der gegen den Widerstand des Militärs eines Landes durchgeführt worden ist?“

    Bedingt, es gibt Revolutionen wie die amerikanische oder der daraus entstehende Bürgerkrieg mit Gegenbewaffnung oder Terrorismus (z.B. Argentinien). Ob das in Deutschland möglich war, kann ich nicht klären. Die Ghettokämpfer konnten sich unter den extremen Zuständen spärliche Waffen besorgen. Und nicht allzu geringe Teile der schon bewaffneten deutschen Polizei und Militärs waren SPD-ler, mein Großvater etwa: SPD und Gebirgsjäger, erst nachdem seine Gruppierung auf der Krim-Halbinsel aufgerieben wurde, hat er „desertiert“ – ist in die Tschechoslowakei geflohen und hat sich dort einen Russen gesucht und ihm ergeben (vor den Tschechen hatte er laut eigener Aussage zu viel Angst).

    Aktuell finden Genozide in einer Art und Weise statt, dass die demokratischen Staaten wie seinerzeit die Alliierten als Armee eingreifen können und müssen.
    Die ja nicht gänzlich unvernünftige Phantasie, selbst Opfer eines refaschisierten Deutschlands zu sein trägt leider wesentlich dazu bei, reale Genozide in anderen Staaten zu ignorieren – der Widerspruch wäre nämlich, die deutsche Armee als demokratische zu stärken um dort einzuschreiten, also eben jene Institution von der man gewohnt ist das schlimmste zu befürchten.

    Die als links einzustufenden Pazifisten hängen sich allerdings an Michael Moores Kritik eines bewaffneten Bürgertums auf, sie ignorieren die nächste Diktatur in Weißrussland und haben keinerlei Konzepte für Birma, Darfur, Somalia, Kongo und andere.

    Das „warum hast du selbst nicht gedient“ lasse ich mal unbeantwortet.

    Inwieweit das einzig mögliche Mittel war, auf die Alliierten zu warten sei dahingestellt. Würde man diese Situation verinnerlicht haben, man müsste zumindest heute sich als Alliierte verstehen und anderen in diesem Verständnis einer solchen Situation zur Hilfe eilen und nicht auf Studentenrevolten in Iran zu hoffen, die dann doch in Foltergefängnissen enden oder in Somalia auf die African Union mit 3000 Soldaten zu bauen oder in Kongo den Nichtkauf von Handys (Coltan) als Friedensoption zu bewerben oder die UN und auch die NATO als Fortsetzung der Aliierten zu zeichnen, statt sie als den ineffizienten korrupten desorganisierten und doch in weiten Teilen sehr ehrenwerten Haufen zu sehen, der sie sind.

  5. Das stimmt.
    „Insgesamt sind von den 5,7 Millionen Kriegsgefangenen der Sowjetarmee 3,3 Millionen verhungert oder in Konzentrationslagern ums Leben gekommen. Dies bedeutet, dass 56 % der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Gefangenschaft starben. Von den 3,1 Millionen deutschen Soldaten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft kamen näherungsweise 1,3 Millionen (42 %) um. Die Zahl der in deutscher Kriegsgefangenschaft zu Tode gekommenen westalliierten Kriegsgefangenen betrug zirka 3 %.“

    Die Sowjetunion fällt bei mir häufig etwas aus dem Blick, da sie als nichtdemokratisierendes Element bei mir nicht unter die Alliierten fallen und auch während des Krieges sich schon die Konfliktkonstellation des kalten Krieges zwischen Demokratien und Stalinismus darstellte.

  6. Das diffizile an der SU ist ihre ambivalente Haltung zum NS. Stalin konnte sich bis zuletzt nicht vorstellen, dass Hitler den Hitler-Stalin Pakt brechen würde. Der Umgang mit „Menschenmaterial“ in der roten Armee und die Säuberungsaktionen, die später auch explizit antisemitisch waren, machen für mich eine Solidaritätsbekundung mit der SU unmöglich. Von daher kann ich ex post nur sagen, dass die rote Armee allemal den Nazis vorzuziehen war, dass aber eine Identifikation, wie sie mit den Aliierten anstünde, die Demokratie trotz aller Merkwürdigkeiten wie der Ausschleusung von Nazis durch US-Behörden erzwangen und beförderten angesichts der in der SU stattfindenden Gulags und Austreibungskampagnen ausbleiben sollte.
    Am kalten Krieg ist bemerkenswert, dass Genozide nicht in besonders protegierten Staaten stattfanden, sondern eher in Peripherien, in denen durchaus Einsatzmöglichkeiten bestanden ohne die SU zu reizen: In Kambodscha, in den südamerikanischen Diktaturen (die für Russland eher uninteressant waren), in Afrika, hier besonders Äthiopien, in dem alle Seiten durch die wechselseitige Aufrüstung verschwammen im roten Terror, in Indonesien, in Zentralafrika… Hier haben sich die Demokratien der Nichteinmischung und teilweise der Teilhabe in unfassbarer Weise schuldig gemacht.

    Inwieweit die USA trotz ihrer verhältnismäßig geringen Opferzahl den Krieg entschieden, müsste ich nochmal in der Literatur prüfen. Ich meine zu wissen, dass die SU massiv von den USA mit Waffen unterstützt wurden und dass die Bombenangriffe auf Deutschland erst unter Führung der Amerikaner halbwegs effektiv wurden, weil vorher nachts geflogen wurde. Dennoch, „Hauptlast“ ist ohne das Primat der Opferzahl nicht zu denken. Ich ziehe das daher zurück und danke für den Hinweis. Da habe ich den Gegenstand vernachlässigt und bin der Ernsthaftigkeit nicht gerecht geworden.

  7. ich meinte übrigens wirklich getöte WEHRMACHSTsoldaten. im westen standen einfach IMMER weniger truppen als an der ostfront. und der bombenkrieg war sicherlich kriegsverkürzend, aber nicht entscheidend – das war die tatsache, dass deutschland es nicht geschafft hat, sich die russischen ressourcen hinreichend anzueignen für kriegsführung. kein erdöl usw! „massive“ waffenlieferungen der amerikaner wären mir auch neu – einige 1000 LKWs sind mir geläufig

    mir scheint, du hast einen sehr moralisch verklärten blick auf den zweiten weltkrieg. schau dir mal an, welches verhältnis USA, Gb und frankreich vor 39 zu nazideutschland hatten (etwa, was churchill über hitler in den 30ern zu sagen hatte). die haben bis 38 gehofft, die würden die sowjetunion angreifen. der hitler-stalinpakt war eine vernünftige option für die SU, nachdem zu diesem zeitpunkt frankreich und GB ein bündniss abgelehnt hatten

    und die vorstellung, die USA hätten sich in südamerika ausgerechnet der „Nichteinmischung“ schuldig gemacht… hallo?

  8. Nun ja, wenn die Leute mich nicht hier beschuldigen wollen, werde ich kaum den Berg zum Propheten tragen.

    „der Nichteinmischung und teilweise der Teilhabe“ enthält dein „hallo?“ – wobei sich die Contra-Legenden der Antiimperialisten nochmal anders lesen, wenn man sich die Argumente der Miskito-Indianer (Zwangsumsiedlung, Zwangsspanisierung, Alphabetisierung im kubanischen Revolutions-Jargon) anschaut. Das war nicht ganz völlig Marionette, aber doch sehr fragwürdig.

    Interessant fand ich „War of Shadows“ von Brown/Fernandez über Peru. Augustin Souchy schreibt in „betrifft Lateinamerika“ sehr differenzierte Kritiken der Guerilla-Romantik. Réne Alleman leistet eine recht lesbare Darstellung der Geschichte einiger ausgewählter Guerillas.

  9. Ich sehe beim adf-Link eigentlich nur Zustimmung. Das Zitat hat ja mit dem Text hier nichts zu tun, Srebrenica erwähne ich nicht. Ich weiß leider auch zu wenig über den Jugoslawien-Krieg um da voll einzusteigen, finde aber die Position von DoughnutboyAndy mal wieder sehr nachvollziehbar.

  10. „wobei sich die Contra-Legenden der Antiimperialisten nochmal anders lesen, wenn man sich die Argumente der Miskito-Indianer (Zwangsumsiedlung, Zwangsspanisierung, Alphabetisierung im kubanischen Revolutions-Jargon) anschaut.“

    Hey, kannst Du mir zu diesem Thema vielleicht irgendwelche Literatur empfehlen?

  11. Lang her das Seminar… auf Anhieb nur das im Ramsch erhältliche:
    „Nationale Revolution und indianische Identität. Der Konflikt zwischen Sandinisten und Miskito-Indianern an Nicaraguas Atlantikküste. Dokumente und Interviews“

    Müsste aber in so ziemlich allen Werken zu den Miskito was geben. Die Miskito waren englischsprachig und durch eigene Autoritäten eher autonom vom restlichen Nicaragua. Mit der m.E. sehr begrüßenswerten und demokratischen sandinistischen Revolution gegen den leider durch die USA gestützten Somoza (lesbar die Biographie von Omar Cabezas „Fire from the mountains“) wurde leider auch Unfug begonnen wie die strikt spanischsprachige Alphabetisierung in Revolutionsphrasen durch hochideologische Leute, die eben nicht nur das Interesse am Lesen aus Altruismus fördern wollten, sondern hier einen Anker der antiimperialistischen Weltrevolution werfen wollten.
    Die Zwangsumsiedlungen folgten noch einer gewissen militärischen bornierten Zweckrationalität, da sie an der Grenze im Contra-Bereich siedelten, förderte aber auch entscheidend die Beteiligung der Miskito an den Contras, da die Lager eben bedrohlich und wohl auch sehr elend waren. Die Todeszahlen sind mir nicht mehr geläufig.
    Siehe auch:

    http://news.bbc.co.uk/2/hi/8181209.stm

    http://en.wikipedia.org/wiki/Miskito

  12. „wirklich getöte WEHRMACHSTsoldaten. im westen standen einfach IMMER weniger truppen als an der ostfront.“

    Die zweite Ostfront war allerdings Japan, bzw. Südostasien und das wird immer wieder in der eurozentristischen Darstellung des zweiten Weltkrieges vergessen oder als Lapsus behandelt. Hier war an einer gigantischen Frontlinie ein, ja was? man mag Japan fast Klon oder Kopie Deutschlands nennen, versammelt, dessen Besiegung mit der Nazideutschlands in eins fallen musste.

  13. „Der Satz dient nicht mehr dazu, mahnend an den Holocaust zu erinnern und ihn erst ins Geschichtbild zu rücken, sondern er hat die fatale Konsequenz, das inzwischen geschehene Ähnliche auszuklammern, als sei es nie geschehen.“

    Finde ich einen interessanten Gedanken.

    „Die zweite Ostfront war allerdings Japan, bzw. Südostasien und das wird immer wieder in der eurozentristischen Darstellung des zweiten Weltkrieges vergessen oder als Lapsus behandelt.“

    Die Ignoranz dieses Fakts bzw. die Verklärung der Geschichte, die aus dem Täter das Opfer(der Amerikaner) macht ist m.E. auch sehr schön an Friedensbewegten Deutschen, die den Japanern einen Friedensmarsch widmen, zu sehen…

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