Das infantile Todeswunsch-Trauma zwischen Magie und Moral

Als Laie kann ich es mir erlauben, vage Thesen in den Raum zu stellen und mich jenseits der medizinisch-analytischen Praxis oder Aktualität von Debatten auszutoben. Eine Problemstellung, die ich für mich entdeckte, ist ein mögliches Missverständnis in der Analyse der Todeswunsch-Neurose, die sich nach Freud so gestaltet:
Das Kind hegt eine Aggression gegen eine Person und denkt oder formuliert einen Todeswunsch. Stirbt diese Person tatsächlich oder erleidet auch nur einen Unfall, so kann eine Neurose entstehen, in der das Kind sich des Mordes schuldig fühlt und diese Schuld zu verdrängen versucht. Die Frage, die sich mir stellt ist folgende: Ist die Ursache der Neurose dann ein magisches Denken oder ein rein moralischer Konflikt?

Der von Freud angedachte Erklärungsansatz verläuft meines Erachtens über die Annahme einer magischen Allmachtsphantasie des Kindes, das sich in der Folge tatsächlich und wahrhaftig für schuldig am konkreten Ereignis hält – und somit für einen Magier. Meines Erachtens sprechen zwei Dinge gegen eine solche Erklärung: Erstens würde die notwendige Kränkung der durchaus gegebenen infantilen Allmachtsphantasie dieser Neurose möglicherweise den Urgrund entziehen. Das Kind erkennt irgendwann, dass es keine magischen Kräfte hat und kann somit auch sich selbst nicht mehr unbewusst die Schuld am Tod der anderen Person geben, da Magie die Voraussetzung für diese Schuld wäre. Und zweitens würde dieses Erkennen magischer Macht viel öfter auch Lust beinhalten, fortgesetzte Versuche, zutiefst verhasste Personen in den Tod zu wünschen. Es ist nun aber wohl eher so, dass die  nur mäßig seltene Todeswunsch-Neurose die  Phase der magischen Todesflüche beendet, als sie befördert. Das „Vereck‘ doch!“-Rufen mag sich zwar bis ins Erwachsenenalter hinziehen, ob jedoch bei Personen mit einer Todeswunsch-Neurose in besonderem Maße, sei bezweifelt.

Einen möglicherweise kaum aufschlussreicheren Zugang könnte eine Erklärung über einen rein moralischen Konflikt bedeuten, die das magische Denken außen vor lässt. Das Kind erschrickt nicht so sehr vor der magischen Macht seines Wunsches, sondern vor der eigenen Aggression einer eigentlich geliebten Person gegenüber. Im Moment des Todes der anderen Person wird es sich ja des Verlusts gewahr. Das letzte starke Gefühl gegenüber der geliebten Person war aber Hass. Dieses Ambivalenzdrama könnte ganz jenseits der Einbeziehung magischer Macht für genug Unruhe im Kind sorgen, um ein neurotisches Trauma hervorzurufen. Dann wäre es die internalisierte Erkenntnis, tatsächlich einen so bösen Wunsch gehabt zu haben, die traumatisiert, nicht so sehr dessen unbegreifliche Übersetzung in die Realität.  Es wäre die Erkenntnis, dass der empfundene Hass hinter der Liebe und Trauer zurücktritt, und dennoch Macht hatte, die Liebe für einen Moment zu überstrahlen. Die an der Realität für problematisch erkannte und reflektierte Macht des eigenen Hasses wäre dann traumatischer als dessen vermeintlich magische Übersetzung in die Realität. Die Schuldfrage stellt sich dann anders. Dem Kind einzureden, es hätte keine Schuld am Tod der geliebten Person, weil es ja keine magischen Kräfte habe, muss fehlschlagen.

Vielmehr geht es darum, die Schuld anzuerkennen, die das Kind in dem Moment auf sich lädt, wo es tatsächlich sich wünscht, dass der Andere tot sein möge. Wird diese Schuld nicht internalisiert, kann sich der Todeswunsch als unhinterfragter weiterentwickeln und eventuell in eine verminderte Tötungshemmschwelle resultieren. Jenseits des neurotischen Traumas findet das statt durch die ganz realen und nichtmagischen Mordversuche von Kindern, die zum Glück meist misslingen: Das von der Schaukel schubsen, mit Steinen werfen, das Bein stellen, das spontane und hinterhältige Hilfe-Entziehen bei gewagten Springspielen. Es ginge dann eher darum, das Schuldgefühl des Kindes  als durchaus rationale und unglücklich geglückte humanistische Überlegung zu akzeptieren und dahingehend weiter zu entwickeln, dass Todeswünsche nicht notwendig irrational sind, sondern Selbstverteidigung sein können, auf die das Kind aufgrund seiner Schwäche häufiger zurückgreift als ein Erwachsener. Gleichzeitig müsste mitgedacht werden, dass ein Kind eben  immer über sadistische und mörderische Regungen verfügt, die im Erziehungsprozess delegitimiert werden müssen. Das Problem stellt sich dann nicht mehr als Überwindung einer magischen Phase des Kindes dar, sondern vielmehr als eines der selbstverständlichen und mühevollen Überwindung wie Anerkennung von infantilem Sadismus und Aggressivität: Die neurotische Person könnte sich dann im aggressiven Kind als Anderes erkennen und trotzdem distanzierend damit versöhnen, was ja auch Ziel der analytischen Praxis ist, soweit ich das überblicken kann. Schließlich ging es bereits Freud darum, die Todeswünsche und Ambivalenzen in der Gesprächstherapie bewusst zu machen (und somit einen Reifungsprozess zu vollenden) und nicht über die Unmöglichkeit von Magie aufzuklären.  Warum dann aber die magische Erklärung aufrecht erhalten wird, ist mir vorerst genauso unklar wie die vorgestellte alternative Erklärung als moralischen Konflikt.