Der russische Krieg gegen die russischen Soldaten

Die Hauptfrage des Krieges in der Ukraine war nie, warum die Ukrainische Armee weiterkämpft. Immer stärker rückt aber die Frage in den Vordergrund, warum die russischen Soldaten trotz ihrer katastrophalen Verluste weiterkämpfen und noch immer in sinnlose Offensiven in der Stadt Marinka und in Richtung Kupiansk stürmen. Mit erbeuteten Waschmaschinen lässt sich das längst nicht mehr erklären. Die Zahl der getöteten russischen Soldaten wird von der ukrainischen Armee auf 270.000 datiert, die der Verwundeten auf 800.000. Täglich neue Aufnahmen von Schlägen aus Raketen und Drohnen und die auf der Plattform www.oryxspioenkop.com gesammelten Nachweise aus Fotos mit Geodaten legen nahe, dass sich die von der Ukrainischen Armee gelieferten Angaben trotz einer für Propaganda naturgemäßen Übersteigerung wesentlich näher an der Realität bewegen, als die Zahlen der russischen Militärpropaganda.
70 Prozent der Verluste auf beiden Seiten gehen auf Artillerie zurück und das von der NATO fast vergessene Artillerieduell erfährt daher eine neue Rolle in der Kriegsführung und -planung. Dahingehend konnte die russische Militärdoktrin ihre artilleriezentrierte Rüstungsindustrie voll ausnutzen und aus ihren fast unerschöpflichen Lagern mehr als 20.000 unpräzise Geschosse pro Tag abfeuern, während die Ukrainische Armee wesentlich präzisere Maschinerie nutzen kann, aber die ständige Munitionsknappheit beklagt. Diese Knappheit macht damit allen NATO-Staaten zu schaffen. (https://www.youtube.com/watch?v=3gbc-v6TGfE, https://www.youtube.com/watch?v=wRtYyjvYTWk&t=71s) Zudem sind vor allem die Rohre der Waffensysteme nur auf einige hundert bis wenige tausend Feuervorgänge ausgelegt und werden von der ukrainischen Armee vollkommen vernutzt, weil sich ein Austausch in dieser Zahl nicht realisieren lässt.

Russland wiederum hat inzwischen nicht nur einen Großteil der nutzbaren Artilleriemunition verbraucht und Maschinerie verschlissen, es hat die Hälfte seiner Artillerie und Panzer verloren und seinen Kriegseinsatz auf 100 Milliarden pro Jahr erhöht, etwa ein Drittel des Staatshaushaltes von 340 Milliarden. (https://www.reuters.com/investigates/special-report/ukraine-crisis-intercepts/) Das wird Russland absehbar in den Staatsbankrott führen, in den Ruin der öffentlichen Infrastruktur, des Sozialwesens, des Medizin- und Bildungssystems. Das bedeutet, dass der imperialistische Faschismus Putin’scher Prägung Verbrechen gegen die russische Gesellschaft ebenso einplant wie seine notorischen Kriegsverbrechen in der Ukraine und nur mit einer langfristigen Verarmung der russischen Gesellschaft und Massenflucht zu rechnen ist.

Das Vabanque-Spiel um die rasche Eroberung und Annexion der Ukraine als russifizierter Vasallenstaat und umzuverteilende Beute für Oligarchen, Militärs und auch für die Petit-Bourgeoisie mit dem Wunsch nach einer geraubten Ferienwohnung auf der Krim, wurde bekanntermaßen von der ukrainischen Armee und Partisanen, darunter jene kampferprobten Elemente aus dem rechtsradikalen, neonationalistischen Lager (1, 2, 3) vereitelt. Dennoch konnte die russische Armee durch den Überfall genug Rohstoffquellen und Ackerland erobern, um auch die aktuellen Verluste noch als Investment für diese Beute rationalisieren zu können. Die vollständige Kontrolle über das Asowsche Meer und die Bedeutung der Marinebasis Sevastopol tragen zur Rationalisierung bei und lassen befürchten, dass das System Putin dafür noch wesentlich mehr Soldaten opfern wird.
Derweil legen Mitschnitte von Militärpersonal nahe, dass es noch einen zweiten, zynischeren Grund für den verschwenderischen Umgang mit Soldaten gibt: Eugenik. „Sie entsorgen uns einfach“, empört sich ein Soldat. Ein anderer sagt, im zukünftigen Russland werde offene Sklaverei herrschen. In der russischen Geschichte ist die Dezimierung der eigenen Gesellschaft durch Gefangenenlager und Kriege Teil der nationalen Kultur. Durch die Dezimierung kann ein Zuwachs an Wohlstand durch Umverteilung von Beute simuliert werden. Die entstehende Angst und Frustration sucht sich ihre Kanäle über häusliche Gewalt, Alkoholismus und in der Armee durch die Dedovshchina: Systematische Gewalt und extreme Ausbeutung entlang der Hackordnung.

Im russischen Suprematismus lebt zudem die Verachtung für ehemals kolonialisierte Gesellschaften fort. Die russische Armee opfert daher in der Ukraine primär die Angehörigen ethnischer Minderheiten und ködert mit Belohnungen vor allem die ärmsten Schichten der Gesellschaft. Etwa 40.000 Euro verspricht Putin der Familie eines getöteten Soldaten bislang. Allerdings wird diese Summe häufig nicht ausgezahlt, weil die realen Verluste verheimlicht werden. Das russische System ist den Oligarchen und den Befehlshabern der Armee verpflichtet, nicht jedoch den Armen. Daraus entsteht der eugenische Charakter der russischen Kriegsführung, ein Zug, der den meisten Armeen strukturell eigen ist, der im russischen Chauvinismus jedoch sehr ausgeprägt zutage tritt. Zuletzt wurde von einem russischen Kriegsgefangenen in Robotyne erneut von koordiniertem russischem Artilleriefeuer gegen sich zurückziehende russische Einheiten berichtet.
Den Soldaten bleibt das nicht verborgen und in der Geschichte sind unterschiedliche Reaktionen darauf verbürgt, von der Desertion bis hin zur Meuterei. Im Vietnamkrieg wurde das „Fragging“ unbeliebter Kommandeure in über 1000 Fällen dokumentiert. Unter russischen Soldaten äußert sich die Aggression gegen Vorgesetzte bislang eher autoaggressiv, als exzessiver Alkoholkonsum und Apathie.

Die russischen Soldaten, die verstanden haben, dass sie verachtet werden, melden sich über Chats und Telefonnummern bei der ukrainischen Armee, um ihr Überlaufen zu verhandeln. Im Falle eines Überlaufens können sie entweder Asyl beantragen oder ihren Austausch mit ukrainischen Kriegsgefangenen. Kriegsverbrechen gegen russische Kriegsgefangene, vor allem Exekution und Folter sind bislang in 50 Fällen dokumentiert, eine für solche Konflikte sehr niedrige Zahl, die für eine hohe Disziplin unter den ukrainischen Truppen spricht. Dem gegenüber stehen die massiven, systematischen und seriellen Kriegsverbrechen der russischen Armee.

Der Frontverlauf scheint nach wie vor nur geringfügig verändert, was die hohe Motivation ukrainischer Truppen erklärungsbedürftig machen würde. Jedoch waren die Schlachten um Robotyne, Staromajorske und Klischivka von einem Abnutzungskrieg tief in den besetzten Gebieten begleitet, bei dem rotierende Truppen, Munitionsdepots und jegliche Lastwagenlieferungen von der ukrainischen Artillerie, von Drohnen und Raketen systematisch zerstört wurden. Gleichzeitig hat man nun an mehreren zentralen Stellen mit Wärmebildkameras und Minenräumsystemen die extrem dichten Minenfelder überwunden. Die extrem verzögerte Lieferung von Kampfflugzeugen und das in NATO-Staaten bereits beobachtbare Training der Pilot*innen wird im ersten Quartal 2024 einsetzen und dadurch wesentlich tiefere Schläge der Luftwaffe ermöglichen. Daraus resultiert der Optimismus der ukrainischen Armee, noch im Herbst größere Geländegewinne in Richtung Tokmak, Melitopol, Berdiansk und Mariupol zu erzielen und dadurch die logistischen Versorgungsrouten zu kappen, sowie Bakhmut einzukesseln, und dann im Frühjahr und Sommer des kommenden Jahres mit voller Luftunterstützung den Keil zu öffnen und eventuell schon im Sommer auf der Krim zu landen und dort einen Brückenkopf auszubauen.

Selenskyjs Zustimmungsraten und die Stärke seiner integrativen Regierung mit einem jüdischen Präsidenten und nun einem muslimischen Krimtartaren als Verteidigungsminister sowie die Integration internationaler Freiwilligenkämpfer aus dem eher bürgerlichen Lager und die vollständige Orientierung an westlichen Demokratien machen eine mittelfristige Bedrohung der Ukraine durch interne neonazistische Gruppierungen eher unwahrscheinlich. Das strukturell gegen Minderheiten gerichtete Verteidigungsnarrativ der Neonazis ist nun mit einem realen mächtigen Gegner konfrontiert und muss mit dem bürgerlichen Nationalismus eher konkurrieren als dass es diesen auf sein Narrativ verpflichten kann. Der entstandene bürgerliche Nationalismus ist erwartbar eher integrativ und betont in Abgrenzung zu Russland liberale Werte wie Redefreiheit und Pressefreiheit. Die Geflüchteten werden mit ihren Erfahrungen tendenziell zur Liberalisierung der Gesellschaft beitragen. Dennoch bleibt die Ukraine als Hotspot für neonazistische Aktivitäten wie Rekrutierung, Wehrsport und Waffenhandel für ganz Europa ein Problem, wenngleich ein nachrangiges angesichts der viel größeren Faktoren für die beängstigend wachsenden Zustimmungsraten zu rechtsradikalen Parteien in fast allen europäischen Ländern.
Der Zerfall des russischen Wagner-PMC und anderer Söldnertruppen mit engen Bindungen an mafiöse Strukturen, rechtsradikale Parteien und Neonazis lässt einen Machtkampf zwischen russlandorientierten (1, 2) und ukraineorientierten Nazis eher wahrscheinlich werden. In Europa sollten zuallererst die Wahlergebnisse für die von Russland geförderten rechtsradikalen Parteien wie AFD, VOX, FdI, RN, FPÖ, Fidesz und Jobbik äußersten Grund zur Besorgnis geben. Auch hier werden Spaltungen zwischen den russlandskeptischen skandinavischen Rechtsradikalen und den russlandtreuen Parteien sichtbar – auch wenn diese kaum entscheidend sein werden, wo die gemeinsame Feindschaft gegen Nichtweiße und Nicht-Heterosexuelle dominiert. Der russische Faschismus mit seiner Militarisierung bis in die Kindergärten und seiner vollständigen Aufgabe internationaler Reputation bleibt für beide eher ein Vorbild als die ukrainische Demokratie.

Eine bislang unterschätzte Bedrohungssituation aus dem Krieg ist die Entwicklung des Krieges mit kleinen zivilen Drohnen zur Observation und zum Absetzen von kleinen Sprengsätzen und Minen. Diese Entwicklung wird assymetrische Konflikte und insbesondere den Djihadismus absehbar verändern.







Das kuriose Brillenhämatom des Andreas Jurca

Der AFD-Politiker Adreas Jurca hat ein Brillenhämatom und vorgeblich einen Bruch des Sprunggelenks. Er behauptet vor der Kamera, von „Migranten“ verprügelt worden zu sein, kann angeblich die Herkunft recht präzise einordnen, habe diese also gesehen. Ein Parteifreund sei dabei gewesen, wird aber in den Berichten nicht als Zeuge präsentiert.
Dieser mutmaßliche Angriff kommt wenige Tage nach einer medialen Show über eine Veröffentlichung der Adressen von AFD-Politiker*innen durch eine Frankfurter Antifa, wodurch es die AFD schaffte, die Solidarität bürgerlicher Parteien einzuwerben. Was läge näher, als diesen „Opferstatus“ der rechtsextremen Partei weiter zu vertiefen.

Wer aber mit Schlägereien und Prügeleien zu tun hatte, weiß, dass Schläge ins Gesicht meist mit der Faust oder der Handfläche oder -kante oder dem Ellenbogen oder Tritten erfolgen, von der Seite, auf Backen oder Lippen, Nase, Ohren oder Schläfen. Augen werden eher oberhalb und seitlich über der Braue verletzt, weil Ausweichreflexe für ein Ausweichen sorgen. Natürlich gibt es individuelle Schlag- und Kampftechniken. Es gibt aber auch Gesetzmäßigkeiten, die für alle gelten. Bei einem frontalen Faustschlag auf die Knochenbereiche ist die Verletzungsgefahr für die geballte Faust sehr hoch, Knochenbrüche beim Zuschlagenden wahrscheinlich. Am Gesicht des Geschlagenen kommt es zu Aufplatzungen, die häufig genäht werden müssen. Daher sollen Boxhandschuhe diese Schlagenergie von der Oberfläche in die Tiefe überführen, um ein K.O. zu erzeugen und nicht die blutigen Fleischwunden aus der Anfangszeit oder den Bareknuckle-Kellern des Boxens. Beim Boxen mit Handschuhen oder auf der Straße auch Schlagringen entstehen „cuts“ aufgrund der großen Aufprallfläche auf oder über der Braue.

Jurca hat in den frühesten Aufnahmen auf beiden Seiten quasi identische, etwa 1cm große Läsionen knapp unterhalb der unversehrten Braue und dementsprechend ein sehr regelmäßiges Brillenhämatom. Lippen und Backen sind unversehrt und letztere laufen erst auf späteren Aufnahmen mit dem absackenden Blut mit an.
Das bedeutet, der Täter hätte an der gleichen Stelle unterhalb der Braue extrem kontrolliert mit gleicher Energie zuschlagen müssen – und danach vom Opfer ablassen. Das ist in einer hektischen Kampfsituation mit Abwehrreaktionen und Ausweichreflexen extrem unwahrscheinlich, es würde eine vollständige Fixierung Jurcas und ein präzises Zielen des Täters voraussetzen. Die Aufprallfläche der Faust würde auch eine Läsion erzeugen, die deutlich größer ist und die Braue erfasst.
Auch der Bruch des Sprunggelenks ist ungewöhnlich. Beim Verprügeln kommen meist Tritte in den Bauch- und Thoraxraum hinzu, Rippenbrüche, Hämatome an Schienbeinen und Oberschenkeln. Bei einem Sprung auf das Sprunggelenk würden die Randbereiche und gegenüberliegende Hautpartienstark geschädigt werden. Jurca präsentiert ein Bein mit Abschürfungen am Schienbein und Schwellung am gegenüberliegenden Knie, aber ohne tritttypische Hämatome.

Ausschnitt aus: https://www.br.de/nachrichten/bayern/ermittlungen-nach-mutmasslichem-angriff-auf-afd-politiker,TmtG0XV

Ferner ist auffällig, wie sparsam Jurca die vorgebliche Tat schildert. Es scheint keine Deckerinnerungen zu geben, keine Details außer der „südländischen“ Herkunft der Täter. Keine Beschreibung von Schlägen oder Tritten, keine Schilderung von Emotionen, Ursprung oder Ziel seines Spaziergangs. Das weist tendenziell eher auf eine Fabrikation hin, bei der Widersprüche durch sparsame Angaben vermieden werden sollen. Opfer erzählen tendenziell anders.

So untypisch die Verletzungen für eine schlaginduzierte Verletzung sind, so typisch sind sie für einen Sturz: ein Abrutschen auf einer Treppe, der mutmaßliche (bei Kameraaufnahmen aber nicht eingegipste) Bruch des Sprunggelenks, Aufschürfen des Schienbeins und Aufprall des gegenüberliegenden Knies und dann Aufprall parallel unterhalb der Braue etwa auf einer Geländerstange oder Treppenstufe. Dass offenbar ein Tag bis zur medizinischen Behandlung abgewartet wurde, legt potentiell Alkoholeinfluss und eine Ausnüchterungsphase nahe.
Der Hergang wird gerichtsmedizinisch geklärt und in Wahrscheinlichkeiten ausgedrückt werden. Eine Anklage wegen Irreführung und Falschaussage ist ein denkbares Ergebnis, eine Verurteilung ohne Zeugenaussagen und Bildmaterial allerdings schwierig.

Das Problem ist, dass faschistische Propaganda nicht auf Entlarvung ihrer Mythen reagiert. Das Authentische an faschistischer Propaganda ist eben nicht die Logik oder empirische Belegbarkeit eines Narrativs, sondern das Gefühl, das sie erzeugt. Die Empfänger erinnern sich nicht daran, vor einem halben Jahr belogen worden zu sein. Sie erinnern sich daran, reale Angst oder Wut gehabt zu haben. Dieses Gefühl ist „wahr“. Daher ist es auch völlig egal, was hinterher entlarvt wird.
Die faschistische Notstandspropaganda versetzt Menschen künstlich in einen Verteidigungsmodus, in dem sie rationale, zeitaufwändige Prüfungen kurzfristigem Massenverhalten opfern, das aus dem archaischen Inventar unseres evolutionsgeschichtlichen Verhaltens schöpft: Etwa das Zusammenrotten, das Brüllen, das Grimassieren, das aufspüren von Feinden in jedem Winkel.
Im Interesse bestehender Hierarchien werden reale Notstände (Klimakatastrophe, Ungleichverteilung von Reichtum, Misogynie) häufig geleugnet oder ein – aufgrund seiner realen Schwäche – angreifbarer „Täter“ identifiziert, an dem die Bekämpfung des vermeintlichen Notstandes gefahrlos praktiziert werden kann. Interessanterweise verrät faschistische Propaganda in ihren Opfermythen immer wieder, was sie in Wirklichkeit mit ihren eigenen Opfern zu tun gedenkt.
Ihren ersten Erfolg hat die AFD schon geschafft. Wieder einmal haben sich die Parteien von Gewalt distanziert. Das ist zunächst ebenso banal wie die ritualisierte und damit wertlose „Verurteilung“ von Terroranschlägen durch Politiker. In der Distanzierung steckt aber automatisch eine Diskursverschiebung. Statt über die rechtsextremen Umtriebe in der AFD und deren Gewalt wird über Gewalt durch Antifa und Migrant*innen diskutiert. Auch wenn das nur kurzfristig und ritualisiert stattfindet, spielt man der AFD damit in die Hände.



Der Krieg gegen die Grünen

Die rechtsextreme AFD steigt mit 17-18% in den Umfrageergebnissen zur drittstärksten Partei auf und wird in absehbarer Zeit in ostdeutschen Bundesländern als stärkste Partei Regierungen bilden können. Mit dem Schritt der CDU/CSU zurück in den offenen Rechtspopulismus lässt sich der rechte Block aus AFD, CDUCSU und FDP, regional auch Freie Wähler, nur noch als arbeitsteilige Maschine begreifen, deren Hauptmedien Bild, Welt und Focus darstellen. Diese Maschine hat als einzigen Gegner die Grünen gewählt, gegen die 90% ihrer Propaganda fabriziert werden. SPD und Linke sehen ihren Hauptkonkurrenten ebenfalls bei den Grünen und stimmen teilweise baugleich in die Kakophonie ein. Begleitet wird die Kampagne zur Schwächung der Grünen von einem journalistischen Totalversagen zwischen notorisch gutgelaunter Radiomoderation, hochdotierten Talkshows und Presse.
Diese Kampagne lässt sich nicht wieder abstellen oder einfangen, weil die Erosion an politischem Bewusstsein irreversibel ist.
Die Entkoppelung konservativer Propaganda von Wahrheit ist in Deutschland nicht neu. Jedoch waren Ökologie und andere Wissenschaften nie in derartiger Form und von einem derart breiten Parteienbündnis zum alleinigen Feind erklärt worden. Weil Wissenschaft Vernunft symbolisiert, und weil die Grünen als letzte Partei den Anspruch vertreten, wissenschaftsgeleitete Politik zu machen, stehen sie der gesellschaftlichen Regression in den klimapolitischen Todeskult bürgerlicher Gesellschaften im Weg.
Es wäre zu einfach, die Öl- und Gaslobby dafür verantwortlich zu machen, und es wäre falsch, das nicht zu tun. Der rechte Block steht für Korruption und ist abhängig von fossilem Kapital. Er ist aber nicht nur abhängig, sondern sexuell identifiziert mit den fossilen Energien, weil sie Regression und Golden Age Syndrome erlauben. Autos und Ölheizungen bedeuten einer alterndern Gesellschaft eine Möglichkeit, das Altern zu verdrängen. Fortschritt bedeutet den Tod. Aller technologischer Fortschritt war unterm konservativen Diktat nur ein Brummkreiseln um die Öllampe.
Und so wird dann von Habeck das „Lebenswerk“ von Rentnern zerstört, weil deren Lebenswerk offenbar aus einer 40 Jahre alten Ölheizung im Keller besteht.


Was aber treibt SPD, Linke und Gewerkschaften dazu, beim Kesseltreiben gegen die Grünen mitzumachen? An der grünen Politik selbst kann es nicht liegen. Sie ist wirtschaftsliberal, konservativ und an jeder Stelle rennt man noch den erbittertsten Feinden mit ausgestreckten Händen und hinterher bejubelten Kompromissen hinterher. Zwar ist sie die Partei, die Klimaschutz ernster nimmt, als andere Parteien, aber ihre politischen Forderungen sind weit entfernt von dem, was Klimaschutz bedeuten würde.
Die SPD sieht in den Grünen weniger inhaltlich als parteiökonomisch eine Konkurrenz, die ihr regelmäßig den Rang abzulaufen droht und in immer mehr SPD-Städten zur stärksten Kraft aufsteigt. Die Linke sieht in den Grünen hingegen inhaltlich eine Feindin, weil die Grünen das vertreten, was die Linke nie geschafft hat: Eine antifaschistische Politik und damit eine Politik, die den Pazifismus als Helfershelfer von Genoziden erkannt und demontiert hat. Die Linke ist zudem noch aus Sowjetzeiten von russischer Propaganda durchseucht und im Osten sieht sie noch signifikante Wählerpotentiale bei den letzten Kohlearbeiter*innen. Daher verbreitet sie zu Russland und Klimaschutz baugleiche Propaganda wie ihre russlandpolitische Schwesterpartei, die AFD. Parteiübergreifend trichtert man einer ohnehin egoistischen Gesellschaft ein, dass Klimaschutz „sozial verträglich“ sein müsse und allenfalls individuellen, freiwilligen Verzicht, nie aber Verbote oder Preisverschiebungen bedeuten soll. Es läuft in dieser Propaganda darauf hinaus, dass kein Klimaschutz notwendig ist und dass er allen zahlreichen geschmäcklerischen Pläsierchen von Currywurst zum Frühstück bis zum angenehm-archaischen Blubbern der Starkmotoren absolut untergeordnet bleiben soll. Mit der geschlossenen Wendung aller anderen Parteien gegen das Gesetz werden die Grünen zur Partei, die DAS Gesetz vertritt, oder in einem anderen Wort: das Verbot. Der Aufstand gegen das Verbot als Prinzip von Zivilisation nützt den Feinden der Zivilisation, die vor allem das zentralste aller Verbote aushöhlen wollen: Das Tötungsverbot. Zwangsläufig profitiert die AFD von der Propaganda der anderen Parteien, wo diese die künstliche Steigerung des ohnehin extremen Egoismus, den Abbau von Empathie insbesondere für regional oder zeitlich ferne Personen („Ausländer“ und Kinder anderer Menschen) zum Ziel hat und letztlich den an Natur und Drittstaaten deligierten Genozid an Geflüchteten bewirbt.
Solche Propaganda ist im Kern faschistische Propaganda. Sie zielt auf Vernunft ab, weil Vernunft Zweifel bedeutet und mit richtigem Schließen die manipulativen Fehlschlüsse aufdecken kann. Sie zielt auf Wissenschaft ab, weil Wissenschaft Bildung und Wahrheit repräsentiert und beide sind Hemmnisse für den Erfolg der Lügenkabinette, in denen die klimafeindlichen Mehrheitsparteien sich aufhalten. Sie zielt auf Empathie ab, weil Empathie Solidarität erzeugt und Solidarität nicht nur geschäftsschädigend ist, sondern auch ein Menschenbild beinhaltet, das grundverschieden ist vom konservativen Ideal der Einfamilienhausburg von konkurrierenden, allenfalls durch Kirchenchöre und Alkoholismus organisierten Individuen.

Hatte die Adenauerstiftung schon 1998 vor dem grünen „Vampir an der Zapfsäule“ gewarnt, so bewegt sich die antigrüne Propaganda zielsicher zum Antisemitismus, bei dem sich Elsässers Compact-Magazin schon längst bedient: Mit dem grünen Dolchstoß oder der grünen Geldmacherei, der grünen Verschwörung hinterm IPCC, den sexuell umgepolten und verführten Kindern, den entmännlichten Männern und den entweiblichten Frauen. In den Handwerkerforen wird bei jedwedem Problem von Fehlerstrom bis Stagnationswasser ein Rene oder Markus sich finden, der es auf die Grünen zurückführt. Und wenn die Grünen erst an allem schuld sind, ist der logische Schritt, dass sie auch an der Klimakatastrophe schuld sind. Daher wird das Fortschreiten der Klimakatastrophe auch nicht zu einem Erstarken der Grünen führen, sondern zu ihrer umso erbitterteren Bekämpfung.

Der antigrüne Krieg, den die Parteien mit ihren medialen Verstärkern ausgerufen haben, geht mit einer vollständigen Indifferenz gegenüber dem Erstarken der AFD und dem rechten Terrorismus einher, als gebe es ein akzeptables Maß an Rechtsradikalismus, das unbedenklich sei. Das zwangsläufige Ende einer solchen Politik ist die Aushöhlung der Demokratie und das Ende der Möglichkeit der Erziehung zur Mündigkeit.

Boris Palmer und das N-Wort – eine differenzierte Verurteilung

Boris Palmer fiel auf der Konferenz „Migration steuern“ zweimal auf: Einmal vor der Veranstaltung, einmal auf der Bühne. Vor der Veranstaltung meinte er, man würde ihm den „Judenstern anheften“, wenn man ihn als Nazi bezeichne. Eine klassische Täter-Opfer-Verkehrung. Wer als Nazi bezeichnet wird, kann nicht nur gerichtlich wegen „Beleidigung“ dagegen vorgehen und hat häufig Erfolg, er kann auch z.B. Innenminister oder Abgeordneter bleiben oder eben Oberbürgermeister von Tübingen. In keinem Fall muss man befürchten, in ein KZ verbracht und zu Tode gehungert oder anderweitig ermordet zu werden.
Palmer hat sich hier auf Kosten von jüdischen Opfer als Opfer inszeniert und die antisemitische Verfolgung trivialisiert.

Auf der Veranstaltung verteidigte er sein „Recht“, das Wort „Neger“ im Zitat zu verwenden und in der Folge sprach er es fünfmal in kurzer Zeit aus. Seine Rechtfertigung: Es sei wichtig, ob man es „im Kontext“ verwende, also etwa in einer Diskussion darum, ob man „Südseekönig“ oder „Negerkönig“ schreibe. Er gesteht zu, dass das Wort einer Person gegenüber eine Beleidigung sei.

Die wissenschaftliche Zitation ist kein Recht, sondern eine Pflicht. Wer in historischen Quellen ein „N-Wort“ einfügt, verändert die Quelle. Das ist nur in Ausnahmefällen zulässig. Wer sich mit Propaganda und zumal rassistischer Propaganda befasst, wird auf zahllose verletzende Begriffe und aggressive Sprache stoßen. Von „Kakerlaken“ und „Maggots“, über „Youn“, „Untermensch“ oder „chink“ hin zu „Judensau“ und „Judenschweine“. „Hohe Bäume“ war das Codewort für die Opfergruppe der Tutsi in Rwanda und würde heute ein Radiobeitrag dazu auffordern, die „hohen Bäume“ zu fällen, würde dies unmissverständlich als Aufforderung zum Genozid gelten. Für Opfer von Diskriminierung und Verfolgung kann die Nennung solcher Begriffe retraumatisierend wirken.

Propagandaforschung aber muss rassistische Sprache im Rohzustand zitieren, gerade weil sie verletzend ist, und ihre Charakteristik und Strategie im Detail erforschen. Hier können wir nicht oder nur in Ausnahmefällen auf die individuelle Traumatisierung Rücksicht nehmen, weil es einen erheblichen Unterschied macht, welches spezifische Wort verwendet wurde.

So existieren zwei Begriffe, die mit „N“ beginnen, nämlich der von Beginn an rassistische Begriff „Nigger“ und das zur gleichen Zeit als politisch korrekt eingeforderte Wort „Negro“ oder auf deutsch: „Neger“. In der Quellenarbeit und Quellendiskussion ist unabdingbar, diese Differenzierung im Zitat kenntlich zu machen. Ein Beispiel dafür ist Karl Marx, der sich sowohl politisch gegen die Sklaverei engagierte und in seinen Publikationen das von ihm in seiner Zeit als politisch korrekt erkannte Wort „Neger“ verwendete, dann aber in Briefen Lasalle als „jüdischen Nigger“ beschimpfte, sein ganzes Aussehen hätte „etwas niggerhaftes“. Er selbst wurde wiederum aufgrund seiner tiefschwarzen Haare als „Mohr“ bezeichnet. Alle diese Begriffe sind heute Beleidigungen und von der Hautfarbe ist prinzipiell als Merkmal abzusehen. Wo sie tatsächlich, z.B. in der Hautmedizin bei der Vorsorge gegen Hautkrebs oder Vitamin-D-Mangel, relevant ist, hat sich der Begriff „schwarz“ eingebürgert.

Auch innerhalb des schwarzen, amerikanischen Slangs wurde diese Unterscheidung getroffen, auch wenn der Begriff „Nigger“ dort als Selbstbezeichnung in vermeintlich emanzipatorischer Praxis verwendet wird. Wer sich die konkrete Verwendung ansieht, wird unschwer erkennen, dass es mit der „emanzipatorischen Aneignung“ nicht weit her ist, und dass seine Verwendung innerhalb schwarzen communities von kollektiver Abwertung und internalisiertem Rassismus durchdrungen ist. „Black“ ist auch dort zum akzeptierten Begriff geworden, wohl wissend, dass er nicht die reale Hautfarbe beschreibt, sondern politisch bleibt.

Boris Palmer ist aber gewiss kein Propagandaforscher. Er schrieb 2016 in einem Beitrag „Mohrenkopf“ ohne Anführungszeichen, weil er einforderte, dass die Süßspeise so heißen dürfen muss. Er zitiert auch Astrid Lindgren nicht, um die Umschreibung des Buchs zu fordern, die Herausnahme von Begriffen, sondern weil er möchte, dass da weiter Begriffe stehen, die bereits bei Astrid Lindgren in einem rassistischen Kontext stehen, den ich an anderer Stelle ausführlich erläutert habe. So ist die Imagination eines weißen Königs, der einer schwarzen Inselgesellschaft „Ordnung“ beibringt, rassistisch, ob er jetzt Südseekönig oder „Negerkönig“ genannt wird und ebenso verletzend ist Pippi Langstrumpfs Wunsch, von einem „eigenen“ schwarzen Diener von oben bis unten mit Schuhcreme eingerieben zu werden. Weder mit solchen Fantasien noch mit rassistischen Begriffen sollten schwarze Kinder beim Vorlesen vergnüglicher Abenteuer konfrontiert werden, und weiße Kinder sollten tunlichst nicht daran gewöhnt werden.

Kurz: Eine Zitation, die eindeutig der Abschaffung der alltäglichen Verwendung der Begriffe dient, ist nicht nur zulässig, sondern als wissenschaftliche vorgeschrieben. Wer wie Boris Palmer zitiert, um möglichst oft diese Begriffe „legal“ zu verwenden oder wer sich wie Boris Palmer für ihre Weiterverwendung im populären Diskurs einsetzt, ist eben Rassist. Er hat völlig recht, dass es auf den „Kontext“ ankommt. Sein „Kontext“ ist aber aufgrund seines bisherigen „Engagements“ ein rassistischer.

Umso bedenklicher ist, dass er von Prof. Dr. Susanne Schröter eingeladen wurde. Schröter hatte zuvor für die rechte Denkfabrik R21 bereits die Konferenz „Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung“ durchgeführt. Nicht nur war die Wahl der Sprecher*innen klar rechtslastig und nicht an wissenschaftlicher Qualifikation orientiert. Die Referentin Kristina Schröder verstieg sich dort zu der Behauptung: „Ich glaube, dass die woke Bewegung gerade die größte Gefahr für unsere Gesellschaft darstellt.“ Auch dies ist eine eklatante Täter-Opfer-Verkehrung, die den täglichen Terror durch Rechtsextremisten verharmlost. Das Engagement gegen „woke Sprechverbote“ musste von Menschen wie Palmer eindeutig als Aufforderung gelesen werden, auch mal zu schwätzen, wie einem der rassistische Schnabel gewachsen ist, mitsamt „Mohrenkopf“ und „Negerkönig“. Dass sich Schröter nun selbst als „woke“ präsentiert, indem sie sich von Palmer für dessen Auftritt distanziert, ist nicht nur unglaubwürdig, es hat vielmehr den Anschein, als wäre es vorab einstudiertes Programm.




Der islamische Geschichtsmythos – Antiisraelische Geschichtsklitterung in der taz

2019 stieg Susanne Knaul 2019 aus Altersgründen aus der Nahostkorrespondenz der tageszeitung aus und meldete sich seitdem immer seltener. Moshe Zuckermann hatte sich bereits 2015 zurückgezogen, und auch Micha Brumlick schreibt seit einiger Zeit keine „postzionistischen“ Stellungnahmen mehr. Es gab begründete Hoffnungen, dass die harte antiisraelische Propaganda abebben könnte, die die taz für viele Antifaschist*innen unlesbar machte.

Die Nachfolge von Susanne Knaul übernahm Judith Poppe. Sie schreibt seit 2015 für die taz und mittlerweile fast wöchentlich über Israel. Poppe bemüht sich auf den ersten Blick durchaus glaubwürdig, Differenzierung durch Porträts und Zitate zu erreichen. Allerdings nennt sie den arabisch-islamischen Geschichtsmythos nicht im Ansatz als Konfliktursache. Bei ihr setzt die Geschichte des Staates Israel immer wieder 1948 ein, als hätte es davor keinen Konflikt gegeben, keine Jüdinnen und Juden in Israel. Durch den Ausfall kritischer Fragen stützt sie immer wieder das arabische, antisemitische Narrativ.

Im Interview „Die Nakba ist lebendige Gegenwart“ mit Bashir Bashir lässt sie diesen unwidersprochen den arabischen Geschichtsmythos wiederholen: Der jüdisch-israelische „Siedlerkolonialismus“ sei ein assymetrischer Konflikt zwischen „Besatzern und Unterdrückten“. In Wirklichkeit ist die Assymetrie genau anders herum gelagert, weil die islamischen Staaten ein Vielfaches an Armeen, Ressourcen und ein vielhundertfaches an Landmasse verfügen und dabei die nichtjüdischen Araber*innen in Westjordanland und Gaza stets als Brückenkopf verstanden haben. Ebensowenig interessiert der Konflikt mit den hochgerüsteten Armeen der Hisbollah und der Hamas, deren Terror sich primär gegen die Zivilbevölkerung richtet und auf eine Vertreibung von Jüd*innen nach dem Vorbild von Gaza abzielt.

Die militärische Rationalität der Siedlungen wird vollständig unterschlagen. Die jüdischen Städte und Dörfer in Judäa und Samaria (Westbank/Westjordanland) sind primär Erben der zionistischen Wehrdörfer. Sie sichern heute den winzigen, extrem verwundbaren israelischen Staat gegen Raketenterror von den Höhen der Berglandes, vor Kampfjets und gegen Militärfahrzeuge im Jordantal. „Verteidigbare Grenzen“ und „Strategische Tiefe“ sind für die israelische Gesellschaft ein unverbrüchlicher Teil des Existenzrechts inmitten eines extrem volatilen, unberechenbaren Umfeldes zwischen einem autoritär regierten Ägypten mit starker Muslimbruderschaft im Westen, dem Islamischen Staat und Al-Qaida im Sinai und als Zellen in allen Nachbargesellschaften, einer krisenhaften islamistisch regierten Türkei am anderen Mittelmeerufer, der Hisbollah im Norden, Al-Qaida und Assad im Nordosten und der Fatah, dem Islamischen Jihad und der PFLP im Osten. Israel muss seine Verteidigung gegen genozidale Exkursionen islamistischer Abenteurer auch in die mittlere und ferne Zukunft planen.

Der islamische Mythos Bashirs radiert die jüdische Geschichte des Landes ebenso aus wie die antisemitische Geschichte der islamischen Gesellschaften.

„Die jüdische Frage ist ursprünglich keine palästinensische Frage, keine östliche oder muslimische. Die jüdischen Siedler*innen, die nach Palästina eingewandert sind, waren europäische Bürger*innen und Opfer des Rassismus. Das christliche Europa ist aufgrund seines Antisemitismus daran gescheitert, diese Bürger*innen zu integrieren und zu schützen.“

Seriöser, informierter Journalismus müsste diesen Mythos sofort hinterfragen, weil er eine Täter-Opfer-Verkehrung beinhaltet und den Konflikt im Interesse des islamischen Chauvinismus auf ein westlich-koloniales Problem reduziert. Etwa eine Million Jüdinnen und Juden wurde aus der islamischen Welt vertrieben. Sie bilden die Schicht der Mizrachim, der „arabischen“ Jüdinnen und Juden, die sich selten als solche bezeichnen, sondern häufiger als irakische, tunesische oder persische. Sie sind der Grund, warum es falsch ist, von einem „Konflikt zwischen Juden und Arabern“ zu sprechen. Es ist ein Konflikt zwischen nichtjüdischen Araber*innen (atheistische, christliche, islamische uswusf.) und Jüdinnen und Juden (atheistische, orthodoxe, säkulare, christliche, arabische, portugiesische, chinesische, äthiopische, amerikanische uswusf.).

Es ist der islamische Chauvinismus, der keine emanzipierten Juden dulden konnte, von Jüdinnen gar nicht zu reden. Der islamische Chauvinismus diskriminierte die jüdische Bevölkerung seit der Vernichtung der jüdischen Stämme durch Mohammed, die nach den Massakern im Koran mit einer „jüdischen Verschwörung“ gegen ihn legitimiert wird, und im Zuge der folgenden Eroberung der arabischen Halbinsel. Sie sollten Synagogen nicht renovieren, diese durften offiziell nicht höher als die Häuser der Muslime sein, sie mussten einen gelben Fleck tragen, nur auf Eseln reiten, durften keine Waffen tragen und mussten hohe Schutzsteuern zahlen, die schließlich noch im späten osmanischen Reich als Instrument verwendet wurden, um die jüdische Bevölkerung in Palästina zu vergraulen. Pogrome waren auch im Mittelalter bekannte Erscheinung in der islamischen Welt, und mit dem Aufstieg der Nazis nahmen sie an Zahl zu. 1941 ermordete ein antisemitischer Mob im Farhuk, dem großen Pogrom von Bagdad, bis zu 600 Jüdinnen und Juden. Hauptverantwortlich für die Ausschreitungen: der Mufti von Jerusalem.

Das Jordantal und die benachbarten Anhöhen waren über Jahrtausende kontinuierlich von Jüdinnen und Juden besiedelt. Aus dem, was heute „Westbank“ genannt wird, wurden Jüdinnen und Juden erst durch arabische Pogrome, z.B. aus Hebron 1929 vertrieben. Es war der islamische Antisemitismus, der einen jüdischen Staat mit einer islamischen Minderheit nicht akzeptieren konnte und seitdem jedes Friedensabkommen sabotierte. Das zu wissen und entsprechend Geschichtsmythen kritisch zu hinterfragen sollte Aufgabe einer informierten Nahostkorrespondenz sein.

In anderen Artikeln schaffte es Poppe nicht einmal, eine klare Ablehnung von antisemitischen Propagandabegriffen wie „Apartheid“ zu formulieren. Im Artikel „Streit um Israel“ wird die reale Apartheid in Südafrika mit ihrer strikten Trennung der Hautfarben in „Rassen“ und ihrer dezidiert rassistischen Ideologie auf Sicherheitspolitik und Diskriminierungserfahrungen reduziert und verharmlost.

„Ist das alles Apartheid? Die Debatte darum wird in westlichen Ländern und unter der jüdischen Bevölkerung Is­raels erhitzt geführt. Doch die meisten Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Dschisr az-Zarqa, Hebron und Jaffa interessiert vor allem eines: Dass ihre Situation, wie auch immer die internationale Gemeinschaft sie bezeichnen möge, in der Welt bekannt wird.“

So kann man sich enthalten und doch Stellung beziehen. In einem anderen Artikel, „Glaubwürdigkeit verspielt„, differenziert sie das dann so:

„Der Begriff Apartheid kann auf die Lebensbedingungen im Westjordanland angewandt werden, ohne dass es abwegig scheint: die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen leben dort seit 1967 unter israelischer Militärherrschaft. Jedoch zu behaupten, dass die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Israel unter einem Apartheidsregime leben, ist absurd – auch wenn auch sie ohne Frage unter Diskriminierung leiden.“

Apartheidvorwurf ja, aber nur in der Westbank – das ist die Botschaft Poppes. Die Militärherrschaft mag unangenehm sein, sie ist aber nicht das Produkt rassistischer Ideologie wie in Südafrika und dementsprechend sind Mischehen legal, Soldat*innen schützen auch nichtjüdische Araber*innen vor Terror und Ehrenmorden, und in der israelischen Armee dienen auch Muslime und Araber*innen. Es ist nicht nur verharmlosend, es ist eine Täter-Opfer-Verkehrung, hier einen jüdischen Apartheidstaat am Werk zu wähnen. Schließlich gibt es Konfliktparteien, die tatsächlich seit Jahrzehnten die Ausrottung der Gegenseite propagieren: Der Islamische Jihad, die Hamas, die Fatah und auch die PFLP, die sich mit Selbstmordattentaten ebenso brüstet wie mit Raketenterror gegen Schulkinder. Wenn ein Jude sich in autonome Teile der Westbank wagt, etwa um das Josefsgrab zu besuchen, riskiert er, gelyncht zu werden.

Poppes Narrative und ihre Weglassungen und Verkürzungen sind nicht außergewöhnlich, sondern nach wie vor Standard des deutschen Journalismus und der Universitäten. Die völkerrechtlich verbrieften Ansprüch Israels auf den Stand der Balfour-Deklaration auch nur hypothetisch zu vertreten, gilt als extremistisch, den uralten, im Koran verankerten islamischen Antisemitismus als hauptsächliche Konfliktursache zu benennen als anrüchig, wo die Importthese (vor der Damaskus-Affäre habe es keinen islamischen Antisemitismus gegeben) und die Golden-Age-Fantasie (der jüdischen Minderheit sei es unter islamischer Herrschaft immer gut gegangen) immer noch von Professor*innen vertreten werden – was in Sachen fachlicher Inkompetenz vergleichbar wäre mit der Behauptung eines Historikers, Hexenjagden hätten nur im Mittelalter stattgefunden oder Frankreich würde von Wikingern regiert.

Die taz bietet nach wie vor keine faktenbasierten Einblicke in die Realität des Konfliktes und seiner Ursachen. Dass sie damit nicht alleine ist, macht es nicht besser.








Der identifikatorische Sog des Stalinismus

Als die Hongkong-Proteste 2020 gipfelten, ließ sich in Köln ein seltsames Schauspiel antreffen: Eine Gruppe von chinesischen „Aktivist*innen“ hatte ein Zelt aufgebaut und gab Brötchen und Tee aus, während an Reisende Flugblätter und CD’s zu den Protesten in Hongkong verteilt wurden. Was von außen aussah wie eine Solidaritätsaktion entpuppte sich bei Lektüre des Materials als eine Denunziation der Proteste als Terrorismus und wurde mit großer Wahrscheinlichkeit von der chinesischen Botschaft finanziert. Als wäre das nicht genug, ertönten Schallmeien und ein Zug von etwa 100 Menschen allen Alters betrat den Bahnhofsplatz vor dem Dom, Plakate der sozialistischen „Helden“ von Lenin über Stalin bis Mao hochhaltend. In der Bahnhofsbuchhandlung wurde unterdessen die von Jörg Kronauer auf die prorussische Position getrimmte Zeitschrift „konkret“ neben dem ebenso russlandtreuen Magazin Compact verkauft.

Differenzen faschistischer und linker Propaganda

Über ein Jahrhundert hinweg konnten sowjetische und maoistische Propaganda Narrative erproben und testen. Die flexible Anwendbarkeit dieser Narrative macht viel des Wiederholungscharakters innerlinker Debatten und Konflikte aus. Linke Ideologie ist ein Problem nicht weil sie links ist und ihr Versprechen umzusetzen droht, sondern weil sie Propaganda aufsitzt und so ihr eigenes, selbsterklärtes Versprechen sabotiert. Wo der Faschismus den Sog zur kollektiven Identifikation mit dem Aggressor anfacht, verlegte sich die rote Propaganda darauf, die Identifikation konformistischer Rebellen mit Opfern zu manipulieren und kanalisieren. Das Ideal des Faschismus ist der „unschuldige Verfolger“, der den „imaginary foe“ bekämpft und den „Notstand“ anerkennt, unter dem die Sklaverei und Massenmord eingeführt werden „dürfen“ und „müssen“. Dafür inszeniert der Faschismus künstliche Krisen wie „Umvolkung“, „Reinheit des Blutes“, „Verlust der Männlichkeit“. Die „kommunistische“ Propaganda wählt hingegen meist einen realen Gegner und richtet sich an reale Opfer. Sie wurde und wird seriell Betrug an den Opfern, weil sie ein echtes und berechtigtes Interesse an einem Aufstand für ihre zynische Machtpolitik instrumentalisiert und langfristig die Idee eines Aufstandes verdirbt, korrumpiert und sabotiert.
Zerstört die faschistische Propaganda effektiv die empathische Solidarität, die sie in aggressive, mitleidslose Volksgemeinschaft verwandelt, so zerstört die „kommunistische“ Propaganda effektiv die Idee des Kommunismus als Sache von Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Sie ist im Wesentlichen keine Propaganda für die „dummen Kerls“, kein Agitprop mit Schalmeien zur Hebung der allgemeinen Stimmung, wie ihn die Sowjetunion und später Russland auch produzierte, sondern Pseudowissenschaft für gebildetere Menschen. Dabei arbeitet sie auf das punktuelle Unterlaufen von Vernunft hin. Es wird nicht, wie im Antisemitismus, ein vollständig wirres Wahnbild präsentiert, sondern ein bestimmtes Element in einem Set von raffiniert drapierten Fakten versteckt.

Das psychologische Angebot von Propaganda an die deutsche Linke ist Entlastung von Schuld. Für die Sowjetunion und heute Putin nützlich war der Pazifismus, der sich von Kriegsgelüsten freisprach, und diese auf das Verteidigungsbündis NATO projizierte und so von Sowjetrussland ablenkte.
Die Sehnsucht nach starken Kollektiven, Waffen, Sieg und Ruhm ist aber unter Linken und da vor allem bei den Männern tendenziell ebenso ansprechbar. Das weiß Putins Propagandapparat und daher war für Putin nichts einfacher, als die Kolonisierung der Ukraine als antifaschistischen Krieg in der Tradition des „Großen Vaterländischen Krieges“ zu präsentieren, bei dem man die richtige Seite zu wählen habe. Die realen faschistischen Tendenzen in der Ukraine wurden ins Riesenhafte gesteigert, kollektiviert, die eigenen faschistischen Tendenzen dahinter versteckt und die Aggression als Präventivkrieg verkleidet.

Weil aber nur die „dummen Kerls“ der AFD sich mit Putin als starkem Mann identifizieren, ist es für linke Narrative obligatorisch, Putin zwar zu kritisieren, die Kriegsschuld jedoch rigoros auf die NATO zu projizieren. Dieser linke Revisionismus erfuhr einen berechenbaren Höhepunkt mit den Feiern zum 8. Mai, dem sogenannten „Tag der Befreiung“. Warum ich das rituelle (Ab-)Feiern dieses Tages ablehne, habe ich auf diesem Blog in den Beiträgen „Antideutsche Regressionen“ und „Der Krieg schlummert nur“ begründet. Putins Ankündigung, ihn wie 1945 zu feiern und gleichzeitig mit einem Weltkrieg zu drohen, unterstreicht erneut die Bedeutung dieses Feiertags für den russischen Nationalismus.

Die Autorin der Novaya Gazeta, Julia Latynina, schrieb dazu den Artikel „Vom Kult des Sieges zum Kult des Krieges„, der in der deutschen tageszeitung beigelegt war. Die Autorin ist, wie ein anderer Artikel der tageszeitung kritisiert, rechtsliberale Klimaleugnerin, Antifeministin und sympathisiert kurioserweise mit Kadyrow. Im Artikel benennt sie zunächst korrekt die offensichtliche Mimese Putins an Stalin. Dann jedoch schreibt sie:

„Amerikanische Politiker, Zeitungen und Filme gaben sich alle Mühe, ihre Verbündeten in einem möglichst günstigen Licht erscheinen zu lassen und Hitler als einzigen Schuldigen am Krieg zu entlarven. Dabei wurde sogar vergessen, dass Stalin in den beiden ersten Jahren des Krieges ein Verbündeter Hitlers gewesen und dieser Krieg eine Woche nach der Unterzeichnung des Molotow-Ribbentrop-Paktes ausgebrochen war.

Die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist, dass Stalin diesen Krieg geplant hatte, der die ganze Welt erfassen und erst enden sollte, wenn auch noch die letzte argentinische Sowjetrepublik ein Teil der UdSSR geworden sein würde. Er hatte diesen Krieg geplant – lange bevor Hitler an die Macht kam.“

Damit folgt sie offenbarg einer These Viktor Suvorovs, der mit seinem Buch „Icebreaker“ die „Offensivplankontroverse“ auslöste. Seiner These zufolge bereitete Stalin von langer Hand einen Angriff auf Deutschland vor. Auch wenn diese These vor allem in Russland und Osteuropa durchaus diskutiert und mehrheitlich dann verworfen wurde, bot sie einen Nährboden für rechten Revisionismus und seine Schuldentlastungsstrategie, die sich in der Verbrämung des Unternehmen Barbarossa als „Präventivschlag“ artikuliert. Latynina bedient diesen Revisionismus mit der Rhetorik vom zweiten „Schuldigen“. Kurioserweise folgt sie jedoch implizit auch den bei weiten nicht nur unter Linken verbreiteten Mythen über den Stalinismus als funktionierender Modernisierungsdiktatur, die das Sowjetreich „fit“ gegen Hitler gemacht hätte.

Der leninistische Mythos

Dass Rechtsradikale und Konservative im Revisionismus und der Überzeichnung der sowjetischen Terrorherrschaft und Bedrohung Schuldentlastung suchen, schafft nicht das Problem des Stalinismus aus der Welt. Die Sowjetunion war unter den Bolschewiki zu exakt dem Gefängnis geworden, das Rosa Luxemburg 1904 in der Zentralismusdebatte vorhersagte. Die konterrevolutionären Bewegungen wurden mit rotem Terrorismus und den im Spartakusbund heftig kritisierten „Geißelerschießungen“ bekämpft. Von der Gründungsphase der Sowjetunion an wurde die blutige Tradition des Zarismus mit seinen Gefängnislagern nicht ausgelöscht, sondern weiter kultiviert und fortgeführt. Es gab keinen Bruch mit politischer Gewalt, der Zarismus ging in die „jakobinisch-blanqistische“ Tradition über, die Luxemburg Lenin vorwarf. Die Bereitschaft, das Leben von Millionen zu dirigieren, organisieren und letztlich dann auch Millionen zugrunde zu richten, war fester Bestandteil des Leninismus.

Hier bietet ein linkes Narrativ Entlastung: Erst unter dem permanenten Druck der Konterrevolution, der „Weißen“, seien „die Roten“ zwangsweise autoritär geworden, der rote Terror bedauerlich, aber unvermeidlich und nach Todesopfern weniger mörderisch als der weiße Terror gewesen. Ebenso werden die wirtschaftlichen Folgen bagatellisiert und „in den historischen Kontext“ gestellt. Lenin wird vom Verrat am kommunistischen Glücks- und Freiheitsversprechen freigesprochen, um dem identitären Sog eines mächtigen, historisch realisierten kommunistischen Kollektivs nachzugeben. Es gab sie eben doch, die glorreiche kommunistische Revolution.
Putin reaktiviert diesen leninistischen Geschichtsrevisionismus der Linken: unter dem Druck der NATO mit ihren verbündeten „Kosaken“ und „Nazis“ müsse Russland harte Hand walten lassen. Er kann sich darauf verlassen, dass von zumindest signifikanten Teilen der Linken der Ukrainekrieg als Wiederholung des Bürgerkriegs in der Sowjetunion gelesen wird. Die NATO, ein desorganisiertes Verteidigungsbündnis ohne die rechtliche Möglichkeit, Land zu annektieren, und ohne die militärische Kompetenz, ein Land wie Afghanistan zu halten, erscheint als Wiederkehr westlicher Staaten, als Unterstützer der „Weißen“, als konterrevolutionärer Marodeur am neuen Russland.

Der stalinistische Mythos

Der stalinistische Geschichtsrevisionismus ist indes komplexer, weil Stalin unverblümter noch als Lenin den Staatsterrorismus kultivierte. Die Kollektivierung bedeutete längst nicht mehr Befreiung von Leibeigenen und Umverteilung von Land, sondern den Schritt in die offene Sklaverei des Gulag-Systems. Die Gewalt der „Großen Säuberung“ mit bis zu 1000 Morden täglich und die Moskauer Schauprozesse von 1936-1938 machten allen aufrechten Marxist*innen klar, dass sie in Sowjetrussland unter Stalin nur der Tod erwartete. Konsequent flohen alle Vertreter der Kritischen Theorie in die USA, sofern sie es schafften.

Der linke Revisionismus setzt hier darauf, die Gewalt nicht, wie es anstünde, in ein Verhältnis zu setzen, sondern unter Verweis auf den Holocaust und das Wüten der Wehrmacht insbesondere in Russland vollständig verschwinden zu lassen. Die Entwicklungen unter Stalin in den Blick zu nehmen, wird selbst als „revisionistisch“, als antikommunistisch denunziert – als wäre es historisch nicht zuallererst Angelegenheit der Linken gewesen, Stalin zu kritisieren. Es wird suggeriert, es gebe nur die Wahl zwischen der roten Armee und der Wehrmacht, eine Wahl, die nach dem Krieg besonders leicht fällt, weil sie nur aus Identifikation besteht.
In einem zweiten Schritt wird die Gewalt dort, wo sie sich nicht leugnen lässt, zur Entwicklungsdiktatur erklärt: Stalin habe ein Entwicklungsland zu einem Industrieland gemacht. Die wirtschaftliche Entwicklung gibt jedoch kein klares Bild her. Das Wirtschaftswachstum bleibt jedenfalls weit hinter vergleichbaren Staaten wie Japan zurück und ein Vorsprung des Stalinismus gegenüber einer Fortführung der NEP oder zaristischer Wirtschaftsweise lässt sich in Modellrechnungen nicht erkennen.

Sah Marx in der ursprünglichen Akkumulation die Gewalt des Feudalismus als Schlüsselmoment für die Schaffung eines mittellosen Industrieproletariats aus früheren Bauern, so wiederholte Stalin die feudale Gewalt, um Industriearbeiter vom Land in die Städte zu zwingen. Dabei war Zahllose Bauernaufstände waren die Folge. Die Verachtung für das Leben der Bäuer*innen war gerade in den Arbeiter- und Bauernstaaten, später im Maoismus besonders ausgeprägt. 1921 sagte Lenin auf dem X. Parteitag der KPdSU:


„Der Bauer muss ein wenig Hunger leiden, um dadurch die Fabriken und die Städte vor dem Verhungern zu bewahren. Im gesamtstaatlichen Maßstab ist das eine durchaus verständliche Sache; dass sie aber der zersplittert lebende verarmte Landwirt begreift – darauf rechnen wir nicht. Und wir wissen, dass man hier ohne Zwang nicht auskommen wird – ohne Zwang, auf den die verelendete Bauernschaft sehr heftig reagiert.“

2-5 Millionen Menschen starben 1921-24 in der Sowjetunion an Hunger. Dass die Ursachen mindestens zu einem großen Teil politische waren, gestand Lenin immerhin in der Änderung der Wirtschaftspolitik ein. Auch wenn die Industrialisierung und Elektrifizierung in der Sowjetunion wie auch global voranschritt, lässt sich in der konkreten Politik kein Merkmal einer Entwicklungsdiktatur finden – im Gegensatz dazu aber zahllose extrem kontraproduktive Maßnahmen. Kasachstan verlor in den großen Hungersnöten unter Stalin 1930-1934 ein Drittel seiner Bevölkerung, die Ukraine im Holodomor zwischen drei bis sieben Millionen Menschen. Hungersnöte zeichnen auch die Überlebenden teilweise lebenslang. Die den Hungernden für den Export geraubten Getreidemengen konnten nicht einmal den Anspruch erheben, zur Industrialisierung nennenswert beizutragen. Sie waren Ausdruck der Verrohung des stalinistischen Regimes und die Rationalisierung der Hungersnöte zu „notwendigen Kriegsvorbereitungen“ oder die Verharmlosung zu „multifaktoriellen Katastrophen“ heute trägt die gleichen Züge der Verrohung.

Es ist ex post nicht belegbar, dass die Sowjetunion ohne Stalin besser für den Krieg gegen Deutschland gerüstet gewesen wäre. Die Ermordung der gesamten militärischen Elite im Zuge des „Großen Terrors“ gilt jedoch gemeinhin als entscheidender Faktor für die militärische Schwäche der Sowjetunion, die gewaltigen Verluste und die rasche Eroberung Westrusslands durch die Wehrmacht. Der militärtechnologische Rückstand in den Bereichen der selbstladenden Gewehre und Maschinenpistolen wurde erst im Winterkrieg gegen Finnland und während der Konfrontationen mit der Wehrmacht erkannt und führte zur Entwicklung des erst Jahre nach dem Krieg fertig gestellten, glorifizierten AK-47.
Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und militärisch als irrational zu bewerten war auch die vom NKVD gemeinsam mit der Gestapo betriebene Zerschlagung des polnischen Widerstandes sowie die Unterdrückung von ethnischen Minderheiten durch eine demozidale (durch Morde auf Dezimierung bedachte oder diese durch Hunger und Elend in Kauf nehmende) Umsiedelungspolitik.

Stalins Angriffe trafen auch die Wissenschaften als Repräsentanten objektiver Kritik: Astronomie, Statistik, Geschichtswissenschaften wurden dezimiert, zensiert, eingeschüchtert. Kunst, Theater und Journalismus, durchaus für den Krieg relevante Institutionen, wurden durch den wahllosen Terror praktisch stillgelegt. Mit dem von Stalin begünstigten Trofim Denissowitsch Lyssenko erhielt zudem ein notorischer Antiwissenschaftler Zugriff auf die Landwirtschaft Russlands. Als er 1938 zum Präsidenten der Sowjetischen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften ernannt wurde, bedeutete das das Ende der wissenschaftlichen Biologie in Russland. Wie sehr der Ausfall der Biologie und insbesondere der Genetik auf den Krieg Einfluss hatte, ist nicht bekannt. Seine in der Nachkriegszeit zur vollen Gewalt kommende Politik erzeugte jedoch Missernten nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in China, wo seine Ideen Einfluß hatten. Und nicht ganz zufällig erlebt Lyssenko im neuen Russland ein Revival, das sich aus der Stalinbegeisterung in Russland und dem Bedürfnis nach russischer „Exzellenz“ speist.

Roter Faschismus

Die militärische Schwäche und der terroristische, personenzentrierte Charakter der stalinistischen Diktatur war maßgeblich der Grund dafür, dass sich die Alliierten von einem Bündnis mit Stalin gegen Hitler wenig versprachen oder darin sogar ein Risiko sahen und daher Bedingungen stellten, die wiederum Stalin als vermessen erschienen. Dass die Alliierten jedoch ernsthaft ein Bündnis gegen Hitler anstrebten, wird an dem Entsetzen deutlich, das der im Geheimen ausgehandelte Ribbentrop-Molotov-Pakt zwischen Hitler und Stalin auslöste. Allen Beteiligten war klar, dass dieser Pakt den Krieg wahrscheinlicher machte und nicht verhinderte. Er ermöglichte Hitler den Zugriff auf die Produktivkraft der Beneluxstaaten und Frankreich, sowie Teile Polens und Osteuropas. Stalin erhielt im Gegenzug Zugriff auf die Produktivkräfte in den von der Sowjetunion annektierten Regionen. Dabei war ihm die Zerschlagung der nationalen Widerstandsbewegungen wichtiger als konkrete Kriegsvorbereitungen zu treffen und sich aus einer Position der Stärke heraus Bündnispartner zu schaffen. Stalin zerstörte vor 1941 noch den letzten Rest dessen, was der Leninismus von der Idee einer kommunistischen Sowjetunion übrig gelassen hatte. Sein Terror hatte kein andere Ratio als den eigenen Machterhalt und seinen sadistischen Lustgewinn am Massenmord und Deportationen. Unter Stalin wurde die Sowjetunion endgültig das, was die bürgerlichen Antikommunisten ihr vorwarfen und was der Faschist Benito Mussolini an Stalin freudig begrüßte: roter Faschismus.

Präsent waren alle Kernelemente des Faschismus: Führerkult, Nationalismus, Zensur, Sklaverei, Militarisierung der Gesellschaft, Mord als politisches Mittel, Glorifizierung des Todes. Noch während des Krieges kündigt sich der Antisemitismus Stalins an. Den 1944 verlautbarten Vorschlag des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, auf der befreiten Krim einen jüdischen Staat zu errichten, entgegnet Stalin laut Chruschtschow:

„Sie versuchten, einen jüdischen Staat auf der Krim zu gründen, um die Krim von der Sowjetunion loszureissen und einen Vorposten des amerikanischen Imperialismus auf unserem Boden zu errichten, der eine unmittelbare Bedrohung der Sicherheit der Sowjetunion darstellen werde. In dieser Richtung ließ Stalin seiner Einbildungskraft wild die Zügel schiessen. Er war von manischer Rachsucht besessen.“

Dass die Sowjetunion von einer einmaligen historischen Chance auf eine freie, gerechte Gesellschaft zur terroristischen Gewaltherrschaft einer kleinen Parteielite wurde, begründet die bis heute fortwirkende Tragödie des Kommunismus.
Das zu konstatieren bedeutet nicht Schuldentlastung, sondern Frustration. Die Opfer des Nationalsozialismus hatten keinen verlässlichen Bündnispartner, sie mussten Israel gründen.
Nicht, dass Stalin einen Krieg gegen Deutschland vorbereitete, ist ihm zur Last zu legen, sondern dass er es nicht hinreichend tat. Stalins Rote Armee war ein Instrument des roten Faschismus, lieferte Widerstandskämpfer den Nazis aus und bekämpfte die Nazis erst dann, als Deutschland die Sowjetunion überfiel.

Weil der Zustand der sowjetischen Armee desaströs und die Verluste gigantisch waren, war Stalin daher auf die kriegsentscheidenden Lend-Lease-Militärhilfen aus den USA angewiesen. Trotz des Ribbentrop-Molotov-Paktes waren die Alliierten bereit, Russland mit massivem Einsatz von Militärmaterial zu unterstützen und praktisch die gesamte Kriegsökonomie bis hin zum Brot zu tragen.
Die USA haben angesichts der Bedrohung durch Deutschland in Kauf genommen, Stalins mörderisches System vor dem vollständigen Zusammenbruch zu retten und seine rote Armee auszustaffieren.

Was den Holocaust angeht: Ex post haben weder Alliierte noch Sowjetunion hinreichend zur Rettung der Jüdinnen und Juden und zur Verhinderung des von Hitler geplanten und mehrfach gegen alle Beteiligten begonnenen Krieges interveniert. Kollaborierte Stalin durch das Rippentrop-Molotov-Abkommen militärisch mit Hitler, so kollaborierten England und die USA sowie alle an der Konferenz von Evian beteiligten Mächte durch die Abweisung von jüdischen Geflüchteten, die in den Holocaust zurück geschickt wurden oder keinen Ausweg z.B. nach Israel erhielten.

Der Putinistismus und die Linke

Die heutigen Feiern zum 8. Mai in Russland zehren vor allem von Geschichtsmythen zum Stalinismus und Leninismus. Russland, die ewig von außen bedrohte Großmacht, die ruhmreich über ihre Feinde siegt. Hauptinstrument ist die Suggestion einer Wahlwiederholung: zwischen roter Armee und Hitler, zwischen Z-War und „NATO-Faschismus“. Putin benötigt dabei nicht einmal mehr den frenetischen Jubel, den Stalin einforderte. Für ihn genügt, wenn seine Unterstützer im Westen ihn in demokratischer Tradition zwar durchaus „kritisch sehen“, womöglich auch den Angriffskrieg verurteilen, aber dann die NATO und ukrainische Faschist*innen dafür verantwortlich machen. Er tritt nicht als Faschist auf, sondern als Antifaschist. Die rechten Parteien Europas stehen ohnehin hinter ihm, lediglich die härtesten Kerne der Neonazis, z.B. der „III. Weg“, haben sich auf die Seite der Ukraine gestellt. Putins Propaganda richtet sich daher explizit an Linke, hier versucht er zu überzeugen und sich zu rechtfertigen, zu spalten und zu verwirren.
In Teilen der Linken konnte die Identifikation mit der Roten Armee überleben, indem man zwar das eine oder andere als bedauernswert und Irrweg bezeichnet, aber insgesamt eine Wahl zwischen Hitler und Roter Armee aufgemacht wird, die sich historisch allein für vom Krieg betroffene Menschen in Osteuropa stellte.
Rechte revisionistische Tendenzen mit ihrem Hautpinteresse der Schuldabwehr werden instrumentell als Popanz einer quasi nicht mehr existenten Kriegsschulddebatte eingeführt, um sich eine echte Kritik des Stalinismus zu ersparen. Diese „echte Kritik“ will man in einem letzten Verteidigungsschritt noch an intensive Literatur auslagern. Man müsse den Stalinismus erst studieren und „verstehen“, um ihn kritisieren zu können.

Dabei sind die Verbrechen Stalins und mittelbar Lenins gegen die Menschlichkeit so offenbar, so offensichtlich, dass eine lebendige, somatische Moral im Sinne Adornos Moralphilosophie Anspruch erheben darf, sich zu distanzieren, in Ekel abzuwenden von den Inszenierungen und Rationalisierungen. Man tut so etwas nicht. Selbst wenn es den Kriegsvorbereitungen gegen die Nazis tatsächlich genützt hätte – was es nicht hat.

Ein Kommunismus, der nicht in Schrecken vor dem Leninismus und dem Stalinismus zurücktritt, ist keiner. Kommunismus, darauf ist zu beharren, bedeutet Freiheit UND Gerechtigkeit, bedeutet die Abschaffung von Folter und Todesstrafe, bedeutet, vor politischem Mord sicher zu sein und nicht, ihn zu exekutieren, zu glorifizieren und zu rationalisieren.







„…das Öl zu erhitzen.“ Antisemitismus unterm linken Tannenbaum.

„Den Kirchen­ober­häuptern in Jerusalem würde ich raten, die Verteidigungsanlagen zu befestigen und das Öl zu erhitzen. Die Barbaren kommen.“

Susanne Knaul übersetzte für die „tageszeitung“ den Text „Dialogisch bis fanatisch“ von Hagai Dagan, der in der Weihnachtsausgabe (24.-26.12.2021) christliche Palästinenser*innen dazu aufruft, „das Öl zu erhitzen“, um die jüdischen „Barbaren“ abzuwehren. Hagai Dagan ist erst seit 2021 Autor der taz, hat in Freiburg und Tel Aviv Philosophie und Theologie studiert und einige Romane mit mystischen Themen geschrieben.

Ist er in „Die Hoffnung der Narren“ noch um eine ausgewogene Kritik religiösen Fanatismus in Gaza und Israel bemüht, verlässt ihn dann im folgenden Text jede Fachkenntnis, wenn er eine bedingungslose Kooperation mit Iran einfordert:

„Es scheint, als führe Israel einen aussichtslosen Kampf, was Experten zu der Frage führt, ob es nicht sinnvoller ist, sich auf den Atomstaat Iran einzustellen, anstatt ihn weiter vergeblich verhindern zu versuchen. Was würde geschehen, wenn Israel den Ton ändert? Was, wenn Außenminister Jair Lapid erklärt, dass Israel einerseits sehr besorgt ist angesichts des iranischen Atomprogramms, gleichzeitig aber die Hand reicht und Versöhnungsverhandlungen ohne Vorbedingungen zur Disposition stellt.“

(„Einfach mal Frieden ausprobieren“, 20.11.21)

Israel kann angesichts der apokalyptischen, messianistischen Ideologie des islamischen Regimes in Iran keine nukleare Bedrohung akzeptieren, sei es durch schmutzige Bomben oder Mittelstreckenraketen. Jegliches Appeasement bedeutet die Aufgabe Israels als bedrohtes, aber insgesamt wehrhaftes, gesichertes Asyl. Dagan mag hier aus unbedachtem Reflex gegen die israelische Rechte argumentieren, aber er muss irgendwo dem parteiübergreifenden Konsens der Sicherheit Rechnung tragen, wenn er nicht in den lunatic fringe abdriften will.

Mit „Dialogisch bis fanatisch“ liefert Dagan nun zu Weihnachten eine üble, sadistische Fantasie. Er nimmt – ob zu Unrecht oder nicht – die Klage der Diözese von Jerusalem über verbale und tätliche Angriffe auf Christen zum Ausgangspunkt einer Kritik an der religiösen Rechten. Die Kirchen sehen darin einen „systematischen Versuch“, die Christen „aus Jerusalem und anderen Teilen des heiligen Landes“ zu vertreiben.
Das ist zunächst ein Verlust an Geschichtsbewusstsein. Schließlich wurde die jüdische Altstadt mit der Besetzung durch Jordanien einer ethnischen Säuberungskampagne ausgesetzt: 58 Synagogen wurden zerstört, Jüdinnen und Juden flohen oder wurden ermordet. Jerusalem war allen geschichtlichen Zeugnissen der letzten Jahrhunderten zufolge stets mehrheitlich von Jüdinnen und Juden bewohnt.
Und christliche Patriarchen und Protagonisten waren in der gesamten Region von der blutigen Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer über die „Damaskusaffäre“ bis hin zu neuerer Medienpropaganda intensiv an antisemitischen Kampagnen beteiligt, so dass man von einer Ökumene von islamischem und christlichem Antisemitismus sprechen kann, die unter anderem der Karikaturist Naji al Ali beispielhaft verkörperte: Jesus und die muslimischen Araber werden in seinen Karikaturen Seite an Seite als Opfer der Juden dargestellt.
Wenn heute Nachkommen von vertriebenen Jüdinnen und Juden zu Recht eine Restitution geraubter Immobilien in der jüdischen Altstadt einfordern, wird das derart reflexhaft als „Besetzung“ dargestellt, dass sich eventuell doch einmal berechtigte Kritik von antisemitischer Propaganda mit ihrem Herzstück der Täter-Opfer-Umkehrung kaum noch unterscheiden lässt.

Dagan jedoch überspringt die jüngere Geschichte der antisemitischen Gewalt und ethnischen Säuberung Jerusalems und leitet Restitutionsansprüche ausschließlich aus der jüdischen Theologie ab.

„Diese Texte füllen tausende Seiten, von der Bibel bis hin zu den Rabbinern, die die Banden anführen, die in Jerusalem heutzutage ihr Unwesen treiben. Solange die Juden im Exil lebten und auf das Wohlwollen anderer angewiesen waren, kam diesen Texten keine größere Bedeutung zu. Das änderte sich, als die Juden Herren ihrer selbst wurden. In Israel gibt es eine breite liberale, überwiegend weltliche Öffentlichkeit, die diese Phänomene verabscheut. […] Die Gewalt gegen Palästinenser und die gegen Priester in Jerusalem sind zwei Seiten derselben Medaille. Hier geht es um Menschen, die aufgewachsen sind mit einer giftigen Mischung aus Opferrolle und Gewalt gegen Angehörige anderer Religionen.“

„Dialogisch bis fanatisch„, Hagai Dagan, tageszeitung vom 24.-26.12.2021


Aus dem jüdischen Trauma wird hier eine Bedrohung für Andere, Juden aus „Opfern“ zu Schauspielern einer „Opferrolle“. Es ist diskutabel, ob in Israel nationalistischer Chauvinismus entstanden ist, der in Aggression umschlägt. Ihn ohne die permanente Bedrohung und den Terror der Gegenseite zu erzählen ist das eine, ihn außerhalb Israels trotz seiner global absolut marginalen Rolle für eine linke, deutsche Öffentlichkeit zur Gefahr hochzustilisieren, das andere.
Wo Dagan endgültig den Pfad der Diskursfähigkeit verlässt, ist, wenn er ein „Gemetzel“ fantasiert und dieses im gängigen antisemitischen Motiv „jüdischer Rachsucht“ auf biblische Traditionen zurückführt.

„Ihre Schlussfolgerung aus der jahrtausendelangen Judenverfolgung ist nicht, dass die Juden bessere Menschen sein sollen, sondern, dass sie „offene Rechnungen begleichen“ sollten. Sie lassen sich von den ­biblischen Helden wie Simon oder Pinchas inspirieren, die die Kanaaniter blutig nieder­metzelten.“

„Dialogisch bis fanatisch„, Hagai Dagan, tageszeitung vom 24.-26.12.2021

Spätestens im Schlusssatz hätte eine hinreichend an journalistische Ethik gebundene Redaktion einschreiten müssen. Wer solche Wortwahl an Weihnachten abdruckt, arbeitet in einer jahrhundertealten Tradition des christlichen Antisemitismus, der die Gläubigen an christlichen Feiertagen bis hin zum Pogrom aufreizte.

„Ich wünschte mir eine linke, weltliche und liberale Regierung, die gegen diese religiösen Fanatiker vorgeht. Die Trennung von Staat und Religion und die Beseitigung dieser Wespennester, aus denen diese Halunken hervorgehen. Aber ich mache mir keine Illusionen. Die Mehrheit der israelischen Gesellschaft akzeptiert diese Gewalt halbherzig oder wenigstens passiv. Grund dafür ist die langjährige national-religiöse Indoktrination der verschiedenen Regierungen. Den Kirchen­ober­häuptern in Jerusalem würde ich raten, die Verteidigungsanlagen zu befestigen und das Öl zu erhitzen. Die Barbaren kommen.“

„Dialogisch bis fanatisch„, Hagai Dagan, tageszeitung vom 24.-26.12.2021

Das Bild von jüdischen, gewalttätigen „Wespen“, „Halunken“ und „Barbaren“, und diese dann mit heißem Öl von „Kirchenoberhäuptern“ bekämpft sehen zu wollen – das ist eine Fantasie, die Meinungsäußerung überschreitet und im Stil der Kreuzfahrerei zur sadistischen Gewalt gegen Jüdinnen und Juden mobilisiert. Das mag in einer israelischen Öffentlichkeit als Polemik aus dem lunatic fringe der Linken gelten, in Deutschland an Weihnachten publiziert ist es schwerlich anders denn als Antisemitismus zu lesen.







Annexion? Restitution!

Frieden zwischen Israel und Palästina zu schaffen ist so etwas wie das Tabletop-Rollenspiel unreifer Diplomaten. Man setzt sich für Tage in einen Keller, Cola und Chips, schwelgt in wildesten Szenarien und erfindet Fantasietruppen, deren Stärken ausgewürfelt werden, um dann irgendwann herauszukommen mit dem Gefühl, etwas Großartiges geschafft zu haben. Nun stelle man sich vor, es würden Journalist*innen tagelang vor dem Keller warten, aufgeregt berichten, ob der Drachen mit 33 Stärke und 17 Magie den Greifen mit 17 Stärke und 33 Magie schlagen konnte, ob die Figuren von den Spielenden penibelst genug lackiert wurden, und alle kommentieren das als weltpolitisches Ereignis. Manche stänkern, die Spielenden würden nur von ihren aufgeschobenen Hausarbeiten ablenken wollen, andere halten das ganze Spiel für blöd, und wieder andere sind beleidigt, dass sie nicht mitspielen durften, alle sind sich aber einig, dass das Wohl und Wehe der Menschheit davon abhängt.

Jeder derart weltfremd erstellte Friedensplan für den Konflikt um das Westjordanland oder Judäa und Samaria hatte bislang mindestens einen Fehler: Er stellte die Forderungen Israels als Expansion dar. Tatsächlich gesteht Israel jedesmal ein Abrücken von einer historischen Position zu, das beispiellos in der Geschichte von staatlichen Grenzkonflikten ist.

Am 2.8.1914, einen Tag nach Ausbruch des ersten Weltkrieges durch deutsche Kriegsschuld, beschloss das osmanische Reich mit dem Deutsch-Türkischen Bündnisvertrag eine Wette einzugehen: Wenn es den bereits begonnenen Krieg an der Seite Deutschlands gewinnen würde, hätte es weitreichende Gebietsgewinne zu erwarten. Das osmanische Reich ging während des Krieges mit genozidaler Gewalt gegen Minderheiten vor, darunter den Genozid an bis zu 1,5 Millionen Armenier*innen. Es verlor die Wette auf Land und damit das zuletzt noch von deutschen, östereich-ungarischen und osmanischen Truppen verteidigte Palästina an die Briten. 1920 sah die San-Remo-Konferenz im United Kingdom (UK) den legitimen Rechtsnachfolger für das künftige Mandatsgebiet Palästina.

Das dünn besiedelte, von Sümpfen und Wüsten geprägte Stück Land mit mehrheitlich jüdischer Bevölkerung in Jerusalem und mehreren alten jüdischen Städten und Dörfern wurde bereits am 2.11.1917 in der Balfour-Deklaration den verfolgten Juden aus aller Welt als Heimstatt versprochen. Im Gegenzug unterstützten Juden das UK im Weltkrieg.

Zionistische Emmissionäre verhandelten aber auch mit den arabischen Nachfolgern des osmanischen Reiches. Am 3.1.1919 wurde auch das Faisal-Weizmann-Abkommen geschlossen: Der König von Irak und Syrien gab darin Palästina den Juden unter der Bedingung, dass die Autonomie der arabischen Staaten gewährleistet bliebe – durch die Aufteilung seines Hoheitsgebietes zwischen dem UK und Frankreich wurde der Vertrag zunichte gemacht.

Das Völkerbundmandat für Palästina stellte hingegen eine internationale Rechtsgrundlage her. Transjordanien wurde für einen weiteren arabischen Staat vorgesehen und als Jordanien gegründet, das übrige Land auf der anderen Seite des Jordans für einen jüdischen Staat ausgeschrieben, in dem andere Minderheiten gleiche bürgerliche religiöse Rechte verbrieft sein sollten.

Das war die Rechtsgrundlage vor dem Aufflammen ständiger Angriffe arabischer Freischärler und Terrorbanden, die sich in den 1920ern massiv verstärkten bis hin zu Pogromen, z.B. den Pogromen in Hebron. Als Reaktion auf den Terror und um die eigene Macht in der arabischen Welt zu stützen schlug sich Großbritannien schrittweise auf die Seite der arabischen Extremisten und entzog dem zionistischen Projekt mit der Peel-Kommission vom 7.7.1937 den geographischen Boden: Lediglich Nordisrael um den See Genezareth solle unter jüdische Souveränität gelangen, Jerusalem unter internationaler Verwaltung bleiben, der ganze Rest Organisationsbasis arabischer Terroristen bleiben dürfen, die fast täglich Übergriffe, Sabotage, Infiltrationen und Terrorakte auf jüdische Siedlungen unternahmen.

Mit dem MacDonald-Weißbuch von 1939 schließlich gaben die Briten vollständig ihre Unterstützung einer jüdischen Heimstatt auf und verpflichteten sich vertraglich, die Einwanderung von Juden drastisch zu beschränken: Auf insgesamt 75,000 in den kommenden fünf Jahren. In diesen fünf Jahren wurden in Europa sechs Millionen Juden ermordet. Das UK verhinderte in dieser Zeit das Ablegen und Anlanden von Flüchtlingsbooten, die Juden vor dem Holocaust retten sollten. Es wurde zum Komplizen des Holocaust.

Das UK versuchte zudem nach 1945 noch für mehr als zwei Jahre die Überlebenden des Holocaust mit aller Gewalt von einer Staatsgründung abzuhalten. Jüdische Widerstandskämpfer wurden unter anderem im Gefängnis von Akko inhaftiert und gehängt. Letztlich verloren die Briten den Kolonialkrieg gegen den jüdischen Aufstand moralisch. Israel unterzeichnete nun den armseligen Teilungsbeschluss der UN – die arabische Seite jedoch nicht, weshalb dieser Teilungsplan nie in Kraft trat. Stattdessen griffen die arabischen Staaten an und verloren. Dadurch wuchs Israels Staatgebiet mit jedem Angriff arabischer Staaten um kleinere Gebiete an, andere, wie den Sinai, gab es im Zuge von Verhandlungen wieder auf.

Das Westjordanland war nie Gegenteil dieser Verhandlungen. Von Jordanien wurde es 1948 besetzt und ethnisch gesäubert: Synagogen wurden angezündet, uralte jüdische Siedlungen wie Hebron verwüstet. Jordanien hat das Westjordanland formal am 24.4.1950 annektiert und keinen Palästinenserstaat darauf errichtet. Die Annexion wurde von den arabichen Staaten als illegal betrachtet und nicht anerkannt. Als Jordanien Folgekriege gegen Israel verlor, verlor es auch die Kontrolle über das Westjordanland.

Daher ist eine völlig legitime Lesart der Folge von Verträgen und der Kriegsschuld arabischer Staaten, dass das Westjordanland dem jüdischen Staat gehört.

Und daher kann nach dieser Lesart Netanyahus Regierung Judäa und Samaria, also das Westjordanland, auch nicht annektieren sondern nur historische Ansprüche geltend machen. Die Aufgabe von weiten Teilen Judäas und Samarias ist bereits eine Aufgabe historisch verbriefter Rechte. Diese Aufgabe erfolgt aus einem einzigen Grund: Weil der Staat Israel kein Interesse an einer vollständigen Annexion haben kann, solange eine bedeutende arabische Minderheit mit erheblichem Zuspruch zu terroristischen Organisationen auf diesem Gebiet lebt.

Die angekündigte „Annexion“ findet also nur auf den Teilen statt, die mehrheitlich jüdisch bewohnt sind, also den Siedlungen auf den Hügeln. Diese Siedlungen entlasten den Wohnungsmarkt im Großraum Tel-Aviv und Jerusalem erheblich. Durch die Welle antisemitischer Gewalt in den meisten westlichen Staaten ist ein weiterer Zustrom von fliehenden Juden wahrscheinlich und findet bereits statt. Israel muss daher bewohnbares Land schaffen und in gewissem Maße bevorraten. Siedlungen sind daher kein Projekt nur für ultraradikale Fundamentalisten: Alle Juden in Israel profitieren davon, ob sie links wählen oder rechts.

Geht man noch einmal einen Schritt zurück, kommt zu Verträgen und dem Druck durch Fluchtbewegungen ein weiterer Aspekt hinzu: 1948 griffen arabische Staaten Israel an. Sie führten aber auch eine Kampagne ethnischer Säuberungen durch, Terrorkampagnen und Diskriminierungen, die in den folgenden Jahren etwa 900,000 Juden aus den arabischen Staaten vertrieb. Diese Menschen wurden in aller Regel ihres Besitzes beraubt. Die Weltorganisation der Juden aus arabischen Staaten (WOJAC) schätzt die geraubte Landfläche auf das vierfache der Staatsfläche Israels.

Aus dieser Hinsicht ist es völlig legitim, bei der Eingliederung jüdischer Siedlungen in Judäa und Samaria von einer Teilwiedergutmachung zu sprechen, die weitere Ansprüche einer Entschädigung nicht ausschließt.
Natürlich haben Antizionist*innen recht, wenn sie eine weitergehende schleichende Annexion oder Diskriminierung des Westjordanlandes befürchten. Die Bewohner*innen des Westjordanlandes haben kein Interesse daran, in einem failed state neben Israel zu wohnen und viele ziehen ein Leben mit israelischen Bürgerrechten vor.

Die Autonomiebehörde hat ohnehin kein Interesse an einer komplexen Außengrenze mit Enklaven, die israelische Regierung hat ebenso kein Interesse daran, diese Grenzen aufwändig zu überwachen. Es wäre, das zeigt jeder Blick auf die Karte, von allen Seiten aus betrachtet rational, einen jüdischen Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer zu schaffen, wie es einmal vorgesehen und völkerrechtlich verbindlich garantiert war. Einen Palästinenserstaat gibt es schließlich längst: Jordanien. Es könnte als Sitz einer Vertretung der nichtjüdischen arabischen Minderheit in Israel fungieren.

Wäre also eine Annexion des gesamten Judäa und Samaria möglich? Zunächst will Israel seine Funktion als jüdischer Staat bewahren. Wer nicht anerkennen kann, das Israel eine jüdische Bevölkerungsmehrheit braucht und ein jüdischer Staat sein muss, hat vom Existenzrecht Israels nichts verstanden. Es gäbe aber Methoden, unter Wahrung der Bürgerrechte und zivilisatorischer Standards auch in einem annektierten Westjordanland eine jüdische Mehrheit langfristig zu bewahren. Denkbar wäre ein langsamer Bevölkerungstransfer der nichtjüdischen Araber ausschließlich durch Anreize: Landverkäufe, subventioniert bevorzugt durch die in Kompensationspflicht gegenüber Israel stehenden arabischen Staaten, lukrative Auswanderungssstipendien durch die um die palästinensische Minderheit besorgte internationale Weltöffentlichkeit oder eben Aufklärung der arabischen Minderheit, Sicherung von Frauenrechten durch das israelische Gewaltmonopol und dadurch Senkung der Geburtenrate – eine Strategie die übrigens als international anerkannt für Entwicklungsländer gilt.

Das würde die jüdische Bevölkerungsmehrheit auch bei einer vollständigen Annexion Judäas und Samarias sicher stellen und dadurch langfristig dem Sicherheitsinteresse des jüdischen Staates Rechnung tragen und eine Rechtsgrundlage für im Staat verbleibende nichtjüdische Araber*innen schaffen. Eine vollständige Reintegration Judäas und Samarias in den israelischen Staat wäre für alle Seiten besser als alle Pläne, die Gebiete nach der Zugehörigkeit der Einwohner aufteilen.

Der Konflikt lässt sich lösen – wenn das Sicherheitsinteresse Israels priorisiert wird, die Kriegsschuld der arabischen Milizen und Staaten anerkannt wird und nach einem international verbrieften Aus für ein „Rückkehrrecht“ für die exilierten Araber*innen in Libanon, Syrien, Jordanien und andernorts endlich Menschenrechte durchgesetzt werden, wie sie für die nichtjüdische arabische Minderheit in Israel selbstverständlich sind.

Eine solche Lesart der Geschichte jedoch, die Konfliktgegenstände analysiert und legitime von illegitimen Ansprüchen trennt, gilt im öffentlichen Diskurs als unsagbar, ultraradikal, menschenfeindlich, nicht weil sie tatsächlich in Gewalt mündete, sondern weil der jüdische Staat beteiligt ist. Dabei werden ähnliche Teilungsprozesse, Restitutionen und Grenzkonflikte in anderen Staaten, etwa Sudan, Taiwan, Antarktis, Kaschmir in der internationalen Presse völlig emotionsfrei verhandelt. Wenn ein internationales Schiedsgericht Kaschmir morgen Indien oder Pakistan zuschlägt, wäre das in der westlichen Welt keine Demonstration wert.

Und so ist es einfach nur Antisemitismus, wenn selbst nach dem von allem Revisionismus weit entfernten Zugeständnis des nun auf den Tisch gelegten Teilungsplans alle Zeitungskommentare von einem Betrug sprechen – einem Betrug Israels an Palästinensern. Diese werden jedoch zuallererst von der Forderung nach einem „Rückkehrrecht“ und von der irrsinnigen Vorstellung eines judenreinen islamischen Palästina vom Jordan bis zum Meer um eine menschenwürdige Existenz und Rechtssicherheit betrogen. Die eigentliche Überraschung ist, dass Saudi-Arabien, Ägypten, Qatar und die V.E.R. dem Teilungsplan zustimmten, während das Gros der westlichen Presse ihn rigoros ablehnt. Das belegt, dass der cultural lag in Sachen Antisemitismus eher im Westen zu verorten ist als in den reaktionären Diktaturen der arabischen Welt.


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Nachtrag:
Ich wurde gefragt, wie eine solche Umsiedelung aussehen könnte. Es gibt leider Negativbeispiele, die wurden weltweit jedoch ohne größere Proteste der internationalen Staatengemeinschaft akzeptiert:

https://www.amnesty.ch/de/ueber-amnesty/publikationen/magazin-amnesty/2008-1/drei-schluchten-staudamm-zwangsumsiedlung-china

In Nigeria, Südamerika, Indien und Asien werden zahllose Städte für mehrere Millionen Menschen geplant und gebaut. Im Zuge des Klimawandels wird sich dieser Trend verschärfen. Solche „planned cities“ sollen durch positive Anreize Menschen anlocken, was auch in aller Regel funktioniert. In China jedoch werden Bauern auch von ihrem Land vergrämt, um zu groß geplante, leer stehende Städte zu füllen und an Land zu gelangen. Eine gut geplante Millionenstadt mit Vorzugsregelungen für Palästinenser westlich des Jordans ließe sich ohne weiteres realisieren, Freizügigkeit vorausgesetzt. Saudi-Arabien plant aktuell die grenzübergreifende Stadt Neom an der jordanischen Grenze.

https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_megaprojects#Planned_cities_and_urban_renewal_projects

Ein weiterer Weg zur friedlichen Auswanderung von Palästinensern aus dem Westjordanland/Judäa und Samaria wäre die Verteilung von dauerhaften Arbeitsvisa und Staatsbürgerschaften für Kanada, USA und Europa. Auch dies ist kein unbekannter Vorgang. Entlang der Mittelmeerküste verwaisten viele Dörfer im Zuge der Arbeitsmigration nach Norden, die zunächst durch sogenannte „Gastarbeiterregelungen“ und dann durch die EU ermöglicht wurde.

Das grundsätzliche Problem bei einem friedlichen Bevölkerungstransfer ist nicht, dass dies unbekannt wäre oder international nicht toleriert würde, sondern dass besondere völkische Maßstäbe an Palästinenser angelegt werden, die zum einen der Propaganda der Fatah und der Hamas entnommen sind, zum Anderen der Realität vor Ort und dem Willen zum Weltbürgertum gerade unter Jugendlichen im Westjordanland nicht entsprechen. Diese völkischen Maßstäbe werden dann auf Juden projiziert in der Frage, warum Juden eine Majorität in Israel brauchen. Die Antwort darauf ist einfach: aus objektiv gerechtfertigtem Sicherheitsbedürfnis. Die Frage müsste lauten, warum nichtjüdische Araber eine Majorität im Westjordanland brauchen, warum die Fatah ihnen den Verkauf ihres Landes bei Todesstrafe verbieten muss. Eine Umfrage im Westjordanland könnte die statistischen Details leicht klären: Wer möchte zu welchen Bedingungen weg?



Hufeisen zerstören in sechs Sätzen

Es gibt gute, schlechte und böse Linke.
Es gibt keine guten Nazis.

Gute Linke tragen diese Gesellschaft, leisten den Löwenanteil des Ehrenamtes im prekären Bereich, bringen die Liberalisierung der Gesellschaft voran, helfen Menschen mit Behinderungen, Drogensüchtigen, Obdachlosen, alleinerziehenden Müttern, organisieren Streiks, bekämpfen Nazis.
Schlechte Linke tun so, als würden sie das machen, slacken aber rum und lesen nur noch Hegel.
Böse Linke sind Antisemiten oder wollen alle Menschen zu Kleinbauern machen und finden Pol Pot/Mao/Stalin/Hoxha/Arafat waren tolle Typen.

Nazis sind noch schlimmer als böse Linke.

Der Erfolg des Antisemitismus in der American Anthropological Association (AAA)

Ich mache hier das Flugblatt zum Erfolg der BDS-Bewegung in der American Anthropological Association und den Antragstext meines Antrages zur DGV-Tagung 2017 öffentlich zugänglich:

Ethnologie_BDS

Da die Vorgänge über Jahre hinweg zu keinerlei Reaktion von Seiten der deutschen Ethnologie führten, habe ich als nicht institutionell eingebundener, freiberuflicher Ethnologe folgenden Antrag bei der DGV-Tagung 2017 in Berlin gestellt. Der Antrag wurde mit großer Mehrheit abgelehnt:

Antrag: „Verurteilung der antiisraelischen Agitation in der American Anthropological Association“

Auf der Mitgliederversammlung (2017) der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde soll folgende Resolution beschlossen werden:
Die Mitgliederversammlung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) verlautbart große Sorge über die anhaltenden Forderungen nach der Ausgrenzung von israelischen akademischen Institutionen durch einen großen Teil der Mitglieder der AAA. Die Mitgliederversammlung fordert Vorstand und Mitglieder der AAA auf, wissenschaftliche und wissenschaftsethische Standards in der geschichtswissenschaftlichen und konfliktethnologischen Forschung einzuhalten, die in dem „Task-Force“-Bericht über Israel verletzt werden. Die DGV bekennt sich zu ihrer Verpflichtung zu Kooperation und solidarischen Unterstützung israelischer akademischer Institutionen gerade auch dort, wo deren Forschungen an der militärischen Selbstverteidigung gegen die ständige existentielle Bedrohung der Einwohner Israels durch islamistische Guerillas und Regimes teilhaben.

Begründung:

Mehr als 1100 Ethnologen haben online die Forderung nach einem Boykott Israels unterzeichnet.[1] Als Reaktion darauf erschien am 1.10.2015 im Auftrag der AAA der „Report to the Executive Board – The Task Force on AAA Engagement on Israel-Palestine“[2]. Der Bericht entstand auf Grundlage von 120 Interviews[3], davon wurden in Israel und dem Westjordanland 100 binnen 10 Tagen im Mai 2015 aufgenommen.
Der Bericht enthält keine wissenschaftlichen Standards entsprechende konfliktethnologische Ursachenanalyse. Er stellt die israelische Politik als einziges Hindernis akademischer Freiheit im Westjordanland und Gaza dar, Einschränkungen des israelischen und palästinensischen Universitätsbetriebes durch den Terror von Hamas, Fatah und PFLP bleiben unberücksichtigt. Der Antisemitismus von Fatah, Hamas und PFLP, den größten organisierten Gruppen, wird nicht als Konfliktursache erwähnt. Polizeiliche Restriktionen infolge des alltäglichen Terrorismus erscheinen als böse Absicht eines israelischen „settler-colonialism“. Die Funktion Israels als jüdischer Staat beinhaltet jedoch nicht die zwangsläufige Diskriminierung anderer Nationalitäten im Inland, sondern im Gegensatz dazu die Verpflichtung zur Integration von Jüdinnen und Juden jedweder Nationalität, und damit eine über andere Nationalstaaten hinausgehende Offenheit. Die Bewegung zur Schaffung einer jüdischen Heimstatt, der Zionismus, ist Reaktion auf zwei Jahrtausende der Diskriminierung und Pogrome. Sie kann keiner ernsthaften konfliktethnologischen Analyse sinnhaft mit dem Kolonialrassismus (Apartheid, Siedlerkolonialismus) gleichgesetzt werden, wie das der Task-Force Bericht der AAA zugrundelegt.
Die Quellenauswahl ist stark gefärbt und berücksichtigt weder wissenschaftliche Standardwerke zum Konflikt noch die Position der israelischen Konfliktpartei. An drei Stellen wird die israelische Politik mit den Methoden der Nationalsozialisten gleichgesetzt.[4] Es wird zudem fälschlich unterstellt, das palästinensische Territorium sei um „90%“ gesunken.[5] Es fehlt schlussendlich eine Einordnung der Verhältnismäßigkeit eines Boykotts akademischer Institutionen. Sobald dieses Mittel etabliert wird, ist jede Forschung einer erfolgreichen kollektivierenden Boykottkampagne ausgesetzt (z.B. als Mittel gegen Diktaturen, der land-grab, die Gefängniskultur in den USA, die Flüchtlingspolitik der EU, den Raubbau im Trikont). Der Fokus auf den ohne eigenes Risiko auszugrenzenden Kleinstaat Israel dient zur Projektion von größeren Problemen unter anderem in den USA und Europa.

Als Reaktion auf den Bericht hat am 20.11.2015 eine Versammlung der AAA einen Boykott israelischer akademischer Institutionen mit einer Stimmenmehrheit von 1040-136 gefordert. Die Resolution wurde in einer Urwahl bis zum am 31.5.2016 knapp abgelehnt mit 2,423 zu 2,384 Stimmen. Die Führung der AAA hat dennoch eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, die im Sinne der Resolution von der israelischen Politik unverhältnismäßige Maßnahmen (etwa den Abbau von Checkpoints und Sicherheitsmaßnahmen) fordern.[6]

Die DGV hat eine dreifache Verantwortung, sich öffentlich gegen jeden Ruf nach einem Boykott Israels auszusprechen. Sie ist erstens an der Wahrung wissenschaftlicher Standards interessiert, die durch die kritiklose Annahme des Task-Force-Berichts durch die AAA verletzt wurden. Sie ist zweitens aus grundlegenden ethischen Gründen zur Solidarität mit dem jüdischen Staat gegen eine genozidale Bedrohung durch islamistische Bewegungen verpflichtet. Sie steht drittens als deutsche Ethnologie in besonderer Verantwortung, gegen aktuelle und künftige Bedrohungen des jüdischen Staates durch den modernisierten Antisemitismus Stellung zu beziehen.

 

 

[1] https://anthroboycott.wordpress.com/signatories/.

[2] Perez, Ramona/Besnier,  Niko/Clarkin, Patrick et alii 2015: Report to the Executive Board. The Task-Force on AAA-Engagement on Israel-Palestine. Via:  http://s3.amazonaws.com/rdcms-aaa/files/production/public/FileDownloads/151001-AAA-Task-Force-Israel-Palestine.pdf.

[3] Task-Force-Report: 5.

[4] „creating a system of oppression with echoes of the very system they had managed to escape.“ Task-Force-Report: 71.
„Israelis have their own powerful claims to victimhood and the irony of a situation in which they have recreated some of the same forms of victimization to which they were subjected.“ Task-Force-Report: 15.
„Concentration Camp“. Task-Force-Report: 18.

[5] „Palästinian Territory has shrunk by about 90%.“ Task-Force-Report: 15.

 

[6] S. Waterston, Alisse 24.6.2016: http://www.americananthro.org/ParticipateAndAdvocate/AdvocacyDetail.aspx?ItemNumber=20835&navItemNumber=592-