Gesellschaft im Brutkasten

Die BILD hat ein Filmchen produziert, in dem Brutkästen die Gebärmutter ersetzen. Explizit ist von einer „Idee“ die Rede und auch wenn die Brutkasten für Frühchen immer ausgereifter werden, wird solche Technologie auf absehbare Zeit nicht existieren, weil die Nidation einfach ein sehr komplexer Prozess ist und spätere Umverpflanzungen des Embryos ein unzumutbares Risiko darstellen werden. Der Uterus ist unter optimalen Bedingungen eine recht ausgereifte Technologie. 

Auffälliger ist eher, dass auf einen Reiz hin alle sich befleißigt fühlen, etwas zu diskutieren, das nicht existiert. In die Gegenrichtung zu blicken ist bei solchen kurzlebigen vormanipulierten Massenobsessionen ratsam. Um was geht es wirklich? Werbung für das Immergleiche: Eine sterile bourgeoise Familie, die sich im Homeoffice nützlich macht und im Austausch für ein bisschen Wein und Naturkost die Doppelbelastung systemgerecht auf neue Standards bringt.
Das, was Eltern und insbesondere Frauen fertig macht, ist nicht die Schwangerschaft, sondern die Zeit danach und insbesondere die Lebensjahre 3-7, die aus hunderten täglichen Ermahnungen und Verboten bestehen, den tausenden von Entscheidungen, die damit einhergehen: vom Schulranzen über die Schuhmarke bis zum Hauskauf. Die Ortsbindung durch das Kind schränkt die Berufswahl empfindlich ein, in einem hochspezialisierten Arbeitsmarkt auf Mindestlohnjobs oder Schlimmeres. In den Akademien ist es für beide Geschlechter überhaupt nicht mehr ratsam, nach dem Studium und vor der Professur Kinder zu bekommen. Frauen beschäftigt in der Regel nicht die Frage, ob man die Schwangerschaft nicht an eine Maschine abtreten kann. Sondern dass sie nach der Schwangerschaft mit Maschinen und dynamisierten kinderlosen hyperflexiblen und doch hochspezialisierten „Hochleistungsmenschen“ in Konkurrenz treten oder zumindest einen solchen aufziehen sollen. Ob Problem oder Utopie – der Brutkasten ist ein Ablenkungsmanöver, das Versprechen, gesellschaftliche Regression mit technologischem Fortschritt zu begleiten.

Alles bleibt

Die fortschrittlichste Forderung im Wahlkampf äußerte ausgerechnet eine Partei, die noch nie in ihrere Geschichte einen nennenswerten Fortschritt für die Freiheit erstritten hat: Die FDP.
In ihrem Parteiprogramm heißt es:

„Wir Freie Demokraten halten das Menschenrecht auf Asyl für nicht verhandelbar. Wir lehnen deshalb auch jede Form von festgelegten Obergrenzen bei der Gewährung von Asyl klar ab. […] Um Menschen die lebensgefährliche Flucht zu ersparen, möchten wir es ermöglichen, Asylanträge auch bereits im Ausland zu stellen. Ein Visum aus humanitären Gründen sollte nach Schweizer Vorbild ebenfalls erteilt werden, wenn im Einzelfall offensichtlich ist, dass Leib und Leben des Antragstellers oder der Antragstellerin unmittelbar, ernsthaft und konkret gefährdet sind.“

Das wäre eine erfreuliche Wendung, wenn sie glaubhaft wäre. Schließlich war es die FDP, die einst das Grundrecht auf Asyl zu stürzen half. Und in Koalitionsverhandlungen mit der CSU wird deren rechtlich ohnehin unhaltbare Forderung nach einer Obergrenze rasch gegen die FDP-Forderung nach einem „Botschaftsasyl“ eingetauscht werden, so dass beide als Sieger auftreten können ohne etwas zu verändern. Alles bleibt. Ob nun mit gelbgrün oder nach Neuwahlen doch mit der SPD: Die CDU/CSU ist von den Wählern nicht für ihre Verbrechen gegen das Menschenrecht abgestraft worden, sondern weil sie zu wenige davon begangen hat. Das weiß die CSU und sie wird mit der AFD im Bunde die CDU genüßlich vor sich hertreiben, routiniert mit Koalitionsbruch drohen, und am Ende doch den mörderischen status quo erhalten und das Ganze – aus ihrer Perspektive völlig zu Recht – als Sieg verkaufen.

Die Aufregung über die AFD ist Spektakel. So war es bei den Erfolgen der NPD in den 1960-ern, mit der DVU und Republikanern in den 1990-ern. Die rechtsextremen Parteien entstehen gerade weil sie wissen, dass die CDU/CSU ihre Forderungen umsetzen wird. So konnte CDU/CSU im Bündnis mit der FDP die Massaker an Flüchtlingen durch Abschneiden von Fluchtmöglichkeiten und Treiben in lebensgefährliche Situationen (Wüsten, Meere, Flüsse), die Privatisierung von Post und Krankenhäusern, die Zerschlagung eines halbwegs funktionierenden Universitätswesens und die weitere Verschärfung der den Grünen von der SPD aberpressten HartzIV-Reformen organisieren, bevor man von der AFD je hörte. Die Furcht, dass die AFD nun mit ihren 94 Abgeordneten und dem dazugehörigen Mitarbeiterstab marodieren kann ist so begründet, wie sie verhamlosend ist. Ohne die von der CDU/CSU und der SPD vorbereitete Verdummung von Schülern und Studierenden, ohne die generelle ideologische Obdachlosigkeit, die der intellektuelle Infarkt der Linken hinterlässt, gäbe es nichts zu befürchten. Der Schaden ist schon längst angerichtet. Die AFD ist das Ergebnis dessen, was die CDU/CSU den Wählern jahrzehntelang vor Augen führte: Dass man ohne Strafangst sadistische, aggressive Gelüste gegen Schwächere in Politik umsetzen, in ein paar rationalistische Floskeln verkleiden und damit langfristige Erfolge feiern kann.

 

https://nichtidentisches.de/2016/12/die-besondere-widerwaertigkeit/

Zum Engagement der Linkspartei gegen Filme in denen Deutsche sterben

Eine „seltene Dummheit und Geschmacklosigkeit“ nannte der Bundessprecher der Linkspartei, Hendrik Thalheim, einen Facebook-Eintrag von Sarah Rambatz. Geschmacklosigkeit, das ist eines der verräterischen, euphemistischen Anstandswörter, an denen man eine bigotte Position erkennt.

Sarah Rambatz (24) aus Hamburg hätte es riechen müssen. Man kann in Deutschland von durchrasster Gesellschaft sprechen, aber: don’t mention the war. Sie wollte von ihren Twitterfreundinnen und -freunden „antideutsche Filme“, in denen „Deutsche sterben“. Unter Filmwissenschaffenden, die weitaus rüderere Genrebildungen gewohnt sind, würde nun einfach gesammelt: Inglorious Bastards, Inglorious BastErds, Iron Sky, Defiance, Raiders of the lost Ark, Captain America, The Rocketeer, X-Men First Class, Enemy at the Gates, etc. pp.
Filmwissenschaffende würden auch darauf verweisen, dass die korrekte Genrebezeichnung eher „Nazi-punching“ lautet, als „Filme, in denen Deutsche sterben“. Aber im Prinzip läuft es auf dasselbe hinaus.

Was überparteilich abgewehrt wird, ist die alte Kollektivschuld. Von „Deutschen“ zu sprechen, und damit Nazis zu meinen, ist die eigentliche Tabuverletzung. Die spezifische Abwehr der Linken ist hingegen schlichtweg Projektion. Erinnern wir uns: Oskar Lafontaine hatte vor „Fremdarbeitern“gewarnt – ohne auf Kandidaturen verzichten zu müssen. Das Wort „Fremdarbeiter“ wurde von historischen Nazis verwendet, um Zwangsarbeit zu verharmlosen. Nun wird es von Oskar Lafontaine in der Gesinnung der aktuellen Nazis verwendet, um weiße Arbeiter aufzuputschen gegen ihre Konkurrenten, die ihnen die Arbeitsplätze „wegnehmen„. Seine Genossin, Sahra Wagenknecht, schlägt in die gleiche Bresche: „Wer Gastrecht missbraucht, der hat Gastrecht dann eben auch verwirkt.“ Als wäre das Asylrecht ein „Gastrecht“. Inge Höger und Annette Groth ließen sich mit einem Schal fotografieren, auf dem Israel in ein „Palestine from the River to the Sea“ verwandelt wurde. Christine Buchholz unterstützte die Teilnahme von Linken an der Gaza-Flotilla. Und Wolfgang Gehrke lieferte in Buchform die zusammenhangslose Leugnung dieses Antisemitismus in der Linken ab.

Das „kalte Kotzen“ will der Spitzenkandidat Fabio de Masi aber erst bei Rambatz‘ Tweet bekommen haben. Eine Karte, deren Aussage die Forderung nach 6,5 Millionen toten israelischen Juden ist, eine Bootsfahrt mit den Leuten, die das in terroristische Praxis umsetzen, Agitation mit Nazipropaganda an der Parteispitze, das alles führt nicht zu Aufständen der Basis – aber eine aussichtslose Kandidatin darf ihre wie auch immer zu analysierenden Rachephantasien gegen Deutsche nicht tweeten. Das ist die Realität der Linkspartei und der einzige Vorwurf, der Rambatz zu machen ist: Dass sie dachte, man könne in einer Linkspartei mitmachen, die es auch nach Jahrzehnten nicht geschafft hat, rudimentäre zivilisatorische Schranken wenigstens für die Parteispitzen aufzurichten. Die sexuelle Gewalt, die Rambatz nun von rechten Trolls erfährt, ist Resultat der breiteren Vergesellschaftlichung solcher Schrankenlosigkeit ebenso wie der Solidaritätsentzug, den sie von der Linkspartei erfahren hat.

Tod einer Fledermaus (P. Pipistrellus) in meinem Kaktus (Mammilaria spec.)

Ein betrüblicher Morgenfund. Eine Zwergfledermaus (Pipistrellus pipistrellus) hatte sich in den Hakenstacheln meiner Mammilaria verfangen.

Bei genauerem Hinsehen waren keine Lebenszeichen zu sehen, die Leichenstarre hatte schon eingesetzt. Gegen die Widerhaken hatte das vermutlich am Vorabend zufällig eingeflogene Tier mit seinen 4-7 Gramm Gewicht keine Chance.

Der graue Penis unterscheidet Pipistrellus Pipistrellus von Pipistrellus pygmaeus. Das zweite Merkmal am Flügel war aufgrund der Leichenstarre nicht zugänglich.

Eine Wunde am Hals, die vermutlich vom Reißen an den Kaktusstacheln verursacht wurde.

 

Zu Shlomo Sands Brief an Macron

Emmanuel Macron hatte an Gedenkfeiern zu den Vel d’Hiv-Deportationen am 16/17 Juli 1942 teilgenommen und den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu eingeladen. Mehr noch, Macron verurteilte den Antizionismus als „Neuauflage des Antisemitismus“.

 Gegen dieses in Europa leider immer noch revolutionäre Bekenntnis wendet sich der an der Universität Tel Aviv lehrende israelische „Historiker“ Shlomo Sand in einem offenen Brief. Bemerkenswert ist seine Professur an der Universität Tel Aviv insbesondere deshalb, weil ein „Task-Force-Bericht“ der „American Association of Anthropologists“ (AAA) behauptet, regierungskritische Positionen würden an den israelischen Universitäten unterdrückt. Sand war Mitglied der Matzpen-Partei, die 1962 gegründet und 1970 und 1972 in PLO-nahe Gruppen zerfiel.

Sein Schluss aus Macrons Rede:

Yes, we must continue to fight all forms of racism. I saw these positions as standing in continuity with the courageous statement you made in Algeria, saying that colonialism constitutes a crime against humanity.

Im nächsten Satz kommt diese Gleichsetzung auf ihren Grund, die Täter-Opfer-Umkehr:

But to be wholly frank, I was rather annoyed by the fact that you invited Benjamin Netanyahu. He should without doubt be ranked in the category of oppressors, and so he cannot parade himself as a representative of the victims of yesteryear.

Benjamin Netanyahu ist Zielscheibe von tausenden antisemitischen Karikaturen. Sein Bruder Yonatan Netanyahu wurde im Einsatz gegen eine antisemitische Geiselnahme in Uganda getötet. Er ist als Vertreter des jüdischen Staates nicht nur legitimer Repräsentant der Opfer des Nationalsozialismus, er ist selbst Opfer des Antisemitismus. Sands Versuch der Historisierung als „yesteryear“ ist in sich eine Abwehr der Kontinuität des Antisemitismus und für sich eine Entwertung des Gedenkaktes und der Opfer. Sand fährt fort:

I stopped being able to understand you when, in the course of your speech, you stated that “Anti-Zionism . . . is the reinvented form of antisemitism.”

Was this statement intended to please your guest […]?

Hier suggeriert Sand eine umgekehrte Hierarchie: Frankreichs Präsident würde Netanyahu „schmeicheln“ oder „zufriedenstellen“ wollen und nicht aus innerer Überzeugung,  sondern aus politischem Kalkül handeln.
Sand beruft sich auf eine Reihe von Juden, die er als „antizionistisch“ versteht und die demnach keine Antisemiten sein könnten. Nicht zufällig arbeitet er seinem Publikum die Information zu, dass Marcon für eine Rothschild-Bank gearbeitet habe und führt dann ein Zitat Nathan Rothschilds an, in dem dieser Herzls Plan Skepsis entgegenbringt.

Nonetheless, I suppose that you do not particularly appreciate people on the Left, or, perhaps, the Palestinians. But knowing that you worked at Rothschild Bank, I will here provide a quote from Nathan Rothschild. […] A Jewish state “would be small and petty, Orthodox and illiberal, and keep out non-Jews and the Christians.”

Sands nächster Schritt ist die Gleichsetzung von antizionistischem Antisemitismus und einem vermeintlichen zionistischen Antisemitismus:

Of course, there have been, and there are, some anti-Zionists who are also antisemites, but I am also certain that we could find antisemites among the sycophants of Zionism. I can also assure you that a number of Zionists are racists whose mental structure does not differ from that of utter Judeophobes: they relentlessly search for a Jewish DNA (even at the university that I teach at).

Selbst wenn es eine solche Forschung gäbe (gemeint ist vermutlich die medizinisch sinnvolle Genom-Forschung an tatsächlich in bestimmten jüdischen Gruppen entstandene Neigung zu bestimmten Krankheiten), ist diese Gleichsetzung ein völlig aus den Fugen geratene Verhältnis. Den antizionistischen Antisemitismus kann Sand offenbar weder in seiner Genozidalität erkennen noch kritisieren. Das macht das Chiastische der gleichzeitigen Verharmlosung des Antisemitismus und Dämonisierung Israels so typisch.

Sands historische Analyse läuft auf die Aussage hinaus, dass Juden auch in die USA hätten emigrieren können:

Up until that point, the mass of the Yiddish-speaking people who wanted to flee the pogroms of the Russian Empire preferred to migrate to the American continent. Indeed, two million made it there, thus escaping Nazi persecution (and the persecution under the Vichy regime).

Die zwei Millionen flohen vor dem Zarismus. Diese Fluchtbewegung in den Nationalsozialismus auszudehnen ist schlicht und einfach eine Lüge. Die USA verweigerten jüdischen Flüchtlingen systematisch Obdach und Fluchtmöglichkeiten. Lediglich 200.000 schafften es, bis 1941 zu fliehen, ab dem Zeitpunkt war es praktisch unmöglich, in die USA zu gelangen. 1938 war außer Haiti keine Nation mehr bereit, auch nur mehr als zehntausend jüdische Flüchtlinge aus Europa aufzunehmen. War der russische Antisemitismus bereits Auslöser und Grund genug für die Schaffung eines jüdischen Staates, so belegte spätestens der Holocaust den Sachverstand Theodor Herzls und der Zionisten. Sands aggressiver Verharmlosung der Situation jüdischer Flüchtlinge folgt sein Hauptziel, die Gleichsetzung von Zionismus mit dem Nationalsozialismus:

A child born as the result of a rape does indeed have the right to live. But what happens if this child follows in the footsteps of his father? And then came 1967.

Der hier offensichtliche Bruch mit jeder noch so marginalen Restvernunft, der vollständige Aufklärungsverrat, führt eher in die Frage,  was für ein absurd liberaler Staat Israel ist, dass er diese aggressive Inkompetenz Sands mit einer Professur honoriert hat.

„Rechtslastige und islamophobe Internetseite“ – Replik auf Bernd Nitzschke

In seiner begeisterten Rezension des neuen Buches von Moshe Zuckermann nennt Bernd Nitzschke mein Blog eine „rechtslastige und islamophobe Internetseite“:

Warum stellen ausgerechnet „renommierte Zeitungen“ in Deutschland Zuckermann eine Plattform für Kritik an der Regierungspolitik des Landes zur Verfügung, in dem er lebt und arbeitet? Liefert er damit nicht wohlfeile Argumente für als ‚Israelkritiker‘ verkleidete Antisemiten? So steht es auf einer (von vielen) rechtslastigen und islamophoben Internetseiten geschrieben: „Das eigentliche Rätsel von Moshe Zuckermanns Texten ist nicht, warum er sie schreibt, sondern warum renommierte Zeitungen sich befleißigt sehen, sie zu drucken. Zuckermann insistiert … auf einer Täter-Opferumkehr, die charakteristisch für den Antisemitismus nach und wegen Auschwitz ist“ (https://nichtidentisches.de/2015/02/taeter-israel-die-opferumkehr-bei-moshe-zuckermann/ Aufruf 23.06.2017).

Die zitierte Aussage ist Teil der Fake-News-Kampagne, mit der rechte Fanatiker jeden zu diskreditieren versuchen, der sich ihrer politischen Zielsetzung – Stichwort ‚Groß-Israel‘ – widersetzt.

Ein solches Zitat gibt Auskunft über den Zustand der redaktionellen Arbeit von „literaturkritik.de“. Man wird schwerlich eine andere „rechtslastige Internetseite“ finden, die derart systematisch das Recht auf Asyl verteidigt und die aktive Aufnahme von Flüchtlingen direkt aus den Herkunftsländern fordert.  Ich spare mir jede weitere Arbeit an dieser projektiven Verkehrung von den „Fake News“ mit einigen Originalzitaten von Moshe Zuckermann, die ich in meinem Blog kritisierte:

Israel hat den Antisemitismus nie bekämpft, auch nie bekämpfen wollen, sondern vielmehr zum Argument erhoben, ja war nachgerade immer schon daran interessiert, dass es ihn gebe, um eben mit dem Angebot der historischen Alternative für die Juden, dem Zionismus, aufwarten zu können.“

„Und gerade weil er [der Zionismus] dies Ideologische immer wieder zum Faktor der Selbstvergewisserung erhob, mithin „Beweise“ zur Rechtfertigung des von ihm begangenen historischen Wegs suchte, musste er den Antisemitismus gleichsam als ideologischen Odem seiner Existenzberechtigung stets am Leben halten.“ 

Israel ist in seiner Existenz durch keines seiner Nachbarländer bedroht, auch nicht durch den Iran und schon gar nicht durch die Palästinenser. Jedes Land der Region, das Israel in seiner Existenz zu bedrohen trachtete, würde (aus bekannten Gründen) unweigerlich seinen eigenen Untergang mit festschreiben.“

Nicht zuletzt wegen der von Netanjahu und seinesgleichen betriebenen Politik ist das Leben von Juden schon seit Jahrzehnten gerade in Israel wie nirgendwo sonst gefährdet.“

Schon 2006 dokumentierte ich, wie sich Zuckermann endgültig aus jeder Diskursfähigkeit verabschiedete:

Aber der Antisemitismus wird heute auch durch die Geschehnisse im nahen Osten gespeist. Ich sage nicht, dass der Nahostkonflikt den Antisemitismus schafft. [ggvgl. oben MZ: „Der Hass speist sich aus dem Nahostkonflikt und nicht umgekehrt“ d.A.] Aber die israelische Politik verleiht dem Antisemitismus Legitimation.

Solche Sätze könnten ebensogut auf einer rechtslastigen, ziophoben Internetseite stehen wie in den eher linken Medien, in denen sie gedruckt werden.

Replik auf die Replik von Oliver Schott: „Keine Angst vor der Imamin“

Oliver Schott hat sich die Mühe gemacht, meinen Artikel über die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee ernst zu nehmen und eine Kritik daran zu schreiben. Aufgrund einiger Missverständnisse im Text möchte ich darauf antworten.

Schotts erster Vorwurf:

„Riedel positioniert sich in äußerster ideologischer Gegnerschaft zum Salafismus, doch dessen theologisch wie historisch völlig unhaltbaren Anspruch, zum »wahren«, ursprünglichen Islam zurückzukehren, scheint er für bare Münze zu nehmen.“

Ist dieser Anspruch „völlig unhaltbar“? Ich verweise dazu auf die Empirie: In vielen Regionen der Welt ist genau das den Salafisten längst gelungen und sie sind auf dem Vormarsch. (S. Riedel: Jungle World 31/2015)

Es ist auch historisch kein einmaliger Vorgang: Assassinen, Almohaden, Sufi-Jihads im Maghreb, die Wahabbiten, der Mad Mullah, das Sokoto-Kalifat, die Taliban, Boko Haram und hunderte von anderen Bewegungen und Strömungen vollziehen genau das: Die Rückkehr zu einer Gesellschaft, wie sie im Koran beschrieben und verordnet ist. Das meint Salafismus: Leben wie die Salafis, die Altvorderen der Gründungszeit. Salafisten konnten und können lesen, produzierten Bibliotheken theologischer Literatur und haben auch den Koran sehr gut gelesen. Schott liefert leider kein Beispiel dafür, warum dieser Anspruch völlig unhaltbar wäre, so dass die Widerlegung auf eine vollständige Geschichte des Salafismus hinausliefe.

Der zweite Einwand Schotts:

„Riedels Behauptung jedoch, im Islam hätten es liberale Strömungen nie über den Status minoritärer Sekten hinausgebracht, weil Liberalität eben »im Widerspruch zum Koran« stehe, ist doppelt falsch. Erstens historisch – über weite Strecken des Mittelalters und der Neuzeit hinweg war der Islam keineswegs illiberaler als das damalige Christentum.“

Ich trennte in meinem Text zwischen Kultur und Religion und argumentiere, dass das, was zwischenzeitlich liberal an den islamischen Gesellschaften war, deren kultürliche und in aller Regel gegen den Koran getroffene Wahl war. Eine Abkehr von Religion mehr als eine Reform.

Was aber heißt „keineswegs illiberaler als das damalige Christentum“?

Das Abbassidenreich wird oft als goldenes Zeitalter des Islam bezeichnet. Hier nahm Wissenschaft vor allem der Medizin, Mathematik und Geographie Fahrt auf, einige der Wissenschaftler waren arabische Christen und Juden.

Aber während des gleichen Kalifats kam es im 9. Jahrhundert zum Zandsch-Sklavenaufstand im Irak. Männliche Sklaven wurden durchweg kastriert, die Sklavenjagden hörten nie auf. Auch während des „goldenen Zeitalters“ setzte sich die militärische Expansion fort, bis sie ihre Grenze in einem Christentum fand, das vom Islam lernte. Im Osten wurde Indien zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert blutig erobert, was selbst die Gräueltaten und den Expansionsdrang der Kreuzfahrer in den Schatten stellte.

Und erst in der Konfrontation mit dem Islam entsteht etwas wie ein militärisches Märtyrertum. Das christliche Märtyrertum war zunächst eines von Opfern, die nicht im Kampf, sondern im Glauben und wehrlos starben. Und was die Juden angeht, revidieren Historiker die These vom „goldenen Zeitalter“. Der nach dem zweiten Kalifen benannte, von der Quellenkritik erst für das 10. Jahrhundert bestätigte Kodex Umar mit seinen Kleidungsvorschriften, Ghettoisierung der Juden und diskriminierenden inspirierte die Diskriminierungen des 4. Laterankonzil 1215 vor. Die großen Pogrome von Cordoba (1011), Fez (1033) und Granada (1066, 4000 Tote) lagen vor den ersten großen Pogromen der Kreuzfahrer (1096). Die Almovariden riefen 1042 den kriegerischen Djihad gegen Ketzer und Ungläubige auf. Und so geht es weiter in der islamischen Geschichte.

Ich argumentiere, dass liberales Denken im Islam gegen die Religion oder abseits der Religion entsteht, während Säkularismus und Individualismus im Christentum als Rückkehr zum wahren Christentum immerhin denkbar war. Das Christentum ist theologisch auf den Säkularismus und den Humanismus vorbereitet, der Islam ist es nicht.

Schott schreibt weiter:

„Nur kann ein solcher Vergleich sinnvollerweise nicht rein abstrakt und ahistorisch, allein mit Rekurs auf den Text der jeweiligen heiligen Schrift geführt werden.“

Der in dem gesteckten Rahmen unmöglich ist, weshalb mit Quellenverweisen an zwei konkreten Beispielen (Ehebruch und Schleier) gearbeitet wurde. Andere Beispiele bringe ich in früheren Texten im gleichen Medium. Auf diese Beispiele geht Schott weder ein noch liefert er eigenes Material, das Diskussionsgrundlage böte.

Nochmals Schott:

„Hier ergibt sich ein Dilemma für Riedels Argumentation: Man kann die These vertreten, der Koran sei ein deutlich schlechteres Buch als die Bibel, aber dann muss man offenbar zugeben, dass die Qualität der heiligen Schrift nicht ohne weiteres der Qualität der praktizierten Religion in ihrer historischen Gestalt entspricht.“

Schott verwirft offenbar ohne Argument meinen Vorschlag einer Trennung zwischen Kultur und Religion. Er geht davon aus, dass „die praktizierte Religion in ihrer historischen Gestalt“ die Religion sei. Er nennt aber keine historischen Gestalten, die diskutierbar wären. Es läuft auf die einfache Beobachtung hinaus, dass es historisch andere Verlaufsformen als den Salafismus gab. Das stelle ich aber nicht zur Diskussion, ich erwähne ausdrücklich Synkretismen.

Schott sieht meine Argumentation mit Fehlern behaftet:

„Dies führt auf den zweiten grundlegenden Fehler Riedels, nämlich seine maßlose Überschätzung des Stellenwerts theologischer Folgerichtigkeit in der Religionsgeschichte. Die Strömungen des Islam, die heute dominant sind, sind dies ja nicht in erster Linie deshalb, weil sie theologisch konsequenter wären oder dem Wortlaut des Koran besser entsprächen als ihre innerislamischen Konkurrentinnen.“

Hier ist die Antwort klar und einfach: Doch. Man sollte sich dazu die vier großen Rechtsschulen im Islam ansehen. Der Wortlaut des Korans ist allen heilig. Die „Schließung des Tores des Idschtihad“ im 10. Jahrhundert führte auch dazu, dass keine relevanten neuen Rechtsschulen entstehen konnten. Die theologische „Korrektheit“ ist allen ein Anliegen, auch wenn einige den individuellen Urteilsschluss höher stellen als andere und die Schafiitische Rechtsschule die in der Sunna verordnete Steinigung bei Ehebruch der im Koran verordneten Auspeitschung vorzieht. Und gerade dort, wo vom Koran abgewichen wird, haben heute die Salafisten Erfolg in der Rückführung der sufistischen Schulen auf den Koran. (Siehe oben)

„Warum sollte sich in der Konkurrenz verschiedener Glaubensrichtungen ausgerechnet größere intellektuelle Stringenz als der alles entscheidende Vorteil erweisen?“

Weil es in einer literalistischen Religion wie dem Islam nicht um intellektuelle Stringenz, um Vernunft, geht, sondern um theologische, inhaltliche Konsequenz.

„Auch das Christentum ist ja keineswegs zugunsten einer »nichtreligiösen Kultur« verschwunden.“

Auch hier ist die Antwort: Doch. Wo es zurückgegangen ist, entstand eine Kultur, die weniger oder nicht religiös war. Eine stetig wachsende Zahl von Menschen bezeichnet sich im Westen als nichtreligiös. Dass das nicht von selbst geschieht, und zu langsam und mit Gegenbewegungen verläuft, ist selbstverständlich.

„Wer wissen will, warum, kann das bei Marx nachlesen – und daraus schlussfolgern, dass auch der Islam wohl kaum schneller verschwinden wird als der Kapitalismus.“

Hier unterstellt Schott eine Ableitung von Religion aus systemischen Zwängen. Das ist gerade nicht die Konsequenz der materialistischen Religionskritik Marx‘, die damit endet: „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.“ Es muss nach Marx eben nicht zuerst der Kapitalismus verschwinden, sondern die Religion. Marx war Atheist und hat Religion aktiv bekämpft. Für die großen Aufklärer des 19. Jahrhunderts, Freud, Marx, Nietzsche, endet jeder einmal gültige Anspruch von Religion mit Darwin, nicht mit dem Kapitalismus. Daher ist ein nichtreligiöser Kapitalismus denkbar und in einigen Staaten dominant, nicht aber ein nichtideologischer. Selbst in dem von Schott kolportierten Sinn kann man fragen, warum der Islam nicht durch andere, womöglich humanistischere, religiöse Formen ersetzt werden kann.

Weiter Schott:

„Wenn in weiten Teilen Europas und Amerikas Humanität und Liberalität einen zwar immer noch beklagenswerten, aber zweifellos deutlich besseren Stand haben als etwa zu Zeiten des Dreißigjährigen Kriegs oder der Kreuzzüge, dann auch deshalb, weil sich vergleichsweise humane Formen des Christentums gegen sowohl theologisch als auch historisch wesentlich besser fundierte durchgesetzt haben.“

Das Christentum ist anders als der Islam eine säkulare Religion. Sie besteht über 300 Jahre als marginalisierte und diskriminierte Minderheit, die sich Staat unterwirft. Das spiegeln alle Gründungstexte wieder. Der Islam wird zu Lebzeiten Mohammeds Staatsreligion und sieht eine künftige Trennung in seinen Gründungstexten nicht vor. Das Christentum ist für eine Rückkehr zum jüdisch-christlichen Humanismus offen, ein universales Tötungstabu ebenso enthalten wie das Vergeben den Sündern gegenüber im Zentrum. Die beiden Hauptquellen des Islam, Koran und Sunna, enthalten solche humanistischen Elemente schlicht nicht oder nicht annähernd in ähnlicher Weise.

Schott schließt:

„Riedel empfiehlt, als »Gegenkultur zum Islamismus (…) vor allem eine nichtreligiöse Kultur (zu) fördern«. Dem ist unbedingt zuzustimmen. Doch wer als Linker seine Aufgabe in der Förderung nichtreligiöser Kultur sieht, sollte der Versuchung widerstehen, die religiöse Kultur noch schlechter zu machen, als sie ohnehin schon ist, indem er sich uneingeladen in theologische Debatten einmischt, um den Fundamentalisten zugutezuhalten, im Gegensatz zu den Liberalen wenigstens konsequent zu sein. Riedel macht einen falschen Gegensatz auf, wenn er den Reformislam in Konkurrenz zu einem nichtreligiösen Humanismus wähnt – als mache Ateş den Islam für enttäuschte Atheisten attraktiv. Der Reformislam konkurriert vielmehr mit konservativeren islamischen Strömungen. Deshalb bedeutet er, aus religionskritischer Sicht, nicht etwa »mehr Islam« (Riedel), sondern weniger.“
Das, was in Europa fälschlich unter Reformislam verstanden wird, konkurriert nicht ernsthaft mit konservativen Strömungen. Diese Konkurrenz wäre zu belegen. Die Hauptkonkurrenten der jeweiligen (in sich politisch, aber kaum theologisch zerstrittenen) Salafisten sind der meist auch nur sehr konservative Mystizismus der Sufi-Bruderschaften, ebenfalls konservative und synkretistische Sekten wie die Ahmadiyya, und die sunnitischen Strömungen, mit denen sie sich in den meisten Angelegenheiten meist einig sind. Gestritten wird um die Anwendung der Steinigung, der Verbrennung, des Selbstmordattentates, die Burka und andere Extreme wie der Hausarrest für Frauen. Nur an marginalen Rändern umstritten ist der Hijabzwang, die untergeordnete Stellung der Frau und der generelle Ruf nach Einführung der Scharia. Und das ist der Grund, warum die Abstimmung mit den Füßen Menschen, die in den Islam geboren wurden und ihn kennen, eher in das Christentum oder in die schrittweise Abkehr von Religion führt und nicht in liberale Moscheen.

Ich sehe auch nicht den Reformislam als ernsthafte Konkurrenz für einen atheistischen Humanismus, sondern letzteren als einzig zu fördernde Alternative zum Salafismus. Alles andere ist Augenwischerei über die theologische Krise des Islam und deren Auswirkung, unter der die ganze Präventions- und Deradikalisierungsarbeit leidet. Für das Christentum mag es einen Übergang gegeben haben, wer aus den theologischen Fallen des Islams herausmöchte, muss in den Bruch oder in die synkretistischen und mystizistischen Sekten.

Ganz kurz gefasst: Man kann schlichtweg nicht jeden Rückzug vom Religiösen ins Private einen reformierten Islam nennen und so das Private wieder aufs Religiöse verpflichten.

Spielraum Anticapitalismus

Das Problem mit dem Widerstand im Kapitalismus ist, dass er sich nicht als Ganzer bekämpfen lässt, solange man auch kein Ganzes als Gegenmodell aufbauen kann. Beschränkt man sich nämlich auf die Teile, so gerät man in die Mühle der allseitigen Konkurrenz: die deutschen Gewerkschaften verteidigen deutsche Jobs, wodurch sie den rumänischen oder moldawischen schaden, die auf ebenjene Jobs hoffen. So sinnvoll der Streik im einen Betrieb ist, so wenig kann er gegen die globale Konkurrenz ausrichten. Widerstand bleibt pragmatische Spielraumbestimmung: Was ist objektiver Zwang, wie kann das eigene Interesse verteidigt werden, welche anderen Interessen werden dadurch gefährdet. In jedem Tauschakt steckt ein solcher Spielraum.

Spielräume

Das Problem ist, dass selbst die bestmöglichste Nutzung des Spielraums (etwa als „fair trade“ oder Soli-Euro) den Kapitalismus nicht abschafft, aber jede Nutzung die Konkurrenz verschärft und anheizt. Es gibt kein Draußen und auch die Aussteiger vertrauen auf das Gewaltmonopol, das ihr Eigentum schützt.
Die Bühne für diese meist stinklangweilige Arbeit heißt Sozialdemokratie, ihre Pole sind der Konservativismus und der Sozialismus. Eine verzweifelte Veranstaltung, die Opfer produziert und verlagert, manches verzögert, im Prinzip stets „ideeller Gesamtkapitalist“ bleibt, der die Kooperation der konkurrierenden Akteure in deren eigenem Interesse erzwingt.

Das wirklich verwirrende am Kapitalismus ist die abstrakte, vermittelte Herrschaft. Wer dagegen ist, hat keinen anderen Gegner als sich selbst und Milliarden anderer Menschen, mit denen man sich konsensuell und friedlich auf rationale Anwendung der Produktionsmittel einigen müsste. Die sehen das System aber aus ihrer individuellen Perspektive als etwas außer ihrer Gewalt stehendes, obwohl sie es zu einem winzigen individuellen Anteil aus insgesamt hunderten Milliarden von Tauschakten hervorbringen. Diese abstrakte, vermittelte Herrschaft bietet jedweder bewussten Aneignung Raum, also auch konkreten Kleptokraten und Faschisten, zynischen Ausbeutern ebenso wie farblosen Charaktermasken, Verwaltern und Räten. Das System bringt sie nicht als Einzelne hervor, es hängt nicht von ihnen als Einzelne ab. Es ist bewusstloser Prozess aus verketteten Einzelprozessen, der ebenso ziellose Zerstörungswut und schlimmstenfalls auf Schwächere kanalisierte Aggressionen, Pogrome, völlig absurde Konkretisierungen des Abstrakten in Minderheiten strukturell, aber eben nicht zwangsläufig hervorbringt.

Zielloses System, ziellose Gegnerschaft

Der Verlust von Gegenständen, um die sich zu kämpfen lohnte – Freiheit von bestimmten Regimes, Solidarität, Pressefreiheit, Arbeiterrechte, Emanzipation – lässt sich in der Linken schon länger beobachten. Ebenso wie das global wirkmächtige System, seines stalinistischen Gegners beraubt, ziellos die ökologische Krise auf Andere abzuwälzen versucht und kein ideologisches Obdach mehr bietet, treibt die Gegnerschaft zum System frei von konkreten Vorstellungen einer rationalen Gesellschaft. Man ist abstrakt gegen Krieg oder Kapital oder Waffenhandel oder Ausbeutung, aber nicht konkret für etwas. Man ist gegen die objektiv zynische Macht der Reichen, aber zu Enteignungen und Umverteilungen kommt es nicht, weil das Gewaltmonopol vorerst stärker ist und darauf achtet, dass einmal etablierte Eigentumsverhältnisse weiter bestehen. Diese erlauben die fortschreitende Bereicherung der Reichen auf Grundlage des Rechtes, des freien Vertrages zwischen doppelt freien Lohnarbeitern, die kaum noch jemand braucht, und einer Elite, die mit ihrem Reichtum gar nichts mehr anzufangen weiß, als ebenso ziellos privaten Luxus zu produzieren und Natur in Kitsch zu verwandeln.

Es gibt keinen Ausweg und mit ein wenig Bildung lassen sich die bürgerlichen Ideologien vom Konsens der Staaten, vom Umweltschutz auf Grundlage der bürgerlichen Produktionsweise, als Augenwischerei entlarven. Eine logische Folge ist endlose Frustration. Die sorgt auch bei den Abgeklärteren für klammheimliche Schadenfreude im Angesicht der brennenden Barrikaden. Wären nicht die meist doch sehr reaktionären, nicht selten linksantisemitischen Inhalte der angereisten antiimperialistischen Autonomen, enthielte der Rauch das Versprechen, dass im Ernstfall ein wenig Verteidigungswissen da ist. Das Barrikadenfeuer wirkt als symbolische Flaschenpost an künftige Hungerrevolten oder sogar an eine ferne Revolution, und sei es eine partielle, die noch die bürgerliche Gesellschaft gegen den in ihr aufkeimenden Faschismus und Menschen gegen den sich verschärfenden Klassenkampf von oben nach unten verteidigt. Oder, und das ist es eben auch, als Ventil für gestaute Frustration, vielleicht nicht das allerschlechteste wenn man sich die stabilisierende Funktion phallischer Aggression im Gegensatz zur projektionsfördernden Wirkung von verdrängter, zum analen Sadismus neigender Aggression als Selbstbestrafung am anderen Objekt vergegenwärtigt.

Analer Sadismus

Aber was an den optimistischsten Interpretationen auch sei, es schrumpft der Gegner des „antikapitalistischen“ schwarzen Blocks von einem abstrakten Prozess auf dessen sichtbare Manifestation, die Hüter des Gewaltmonopols zusammen, die Polizisten. Sie sind falsch-konkrete Ziele, mitunter überzeugte Mittäter des mörderischen Abschieberegimes, oft selbst ausgebeutete Söldnerinnen und Söldner. Werden sie nicht als Hindernis zu konkreten Zielen, sondern als konkretisiertes Ziel gewählt, wird die Projektion pathisch, der „Bulle“ zum Weltfeind, zum „Schwein“ an sich, den man mit Steinen nach Belieben traktieren und verkrüppeln dürfe. Offene Knochenbrüche und Todesfolgen werden in Kauf genommen für den Adrenalinkitzel. Der eigene Empathieverlust wird konsequent der dämonisierten Gegenseite angelastet.

Simulationen von Revolten

Das naturgemäße Produkt einer um Arbeiterorganisation und echter, als Differenzierungsvermögen erwiesene Bildung gleichermaßen beraubten Linken ist die Simulation einer Revolution, die man bestenfalls als Manöverspiel verstehen kann. Wo südamerikanische Guerillas teils aus Selbstverteidigung gegen Faschisten, teils aus totalitärem Castrismus heraus Polizisten Waffen entwendeten und gezielt kleine Areale (Foci) unregierbar machten, in der meist größenwahnsinnigen Hoffnung, von hier aus größere Areale zu besetzen, bleibt die Konfrontation des Black Block am brutalen Spiel des Hooliganismus orientiert: Man will gar nichts aneignen, nichts verteidigen, nichts erobern, man will Sport und ein wenig Freibier aus dem geplünderten Supermarkt als Trophäe. Wie auf Seiten der Staatsführungen ersetzen beim Black Block Symbole die eigentlich notwendige Realpolitik. Aus der Propaganda der Tat wird Propaganda der inszenierten Tat, aus Barrikaden werden Kulissen.

Das ist kritikabel. Aber es ist auch evident, dass dieser brutale Sport alt ist und gewissen Spielregeln gehorcht, die sich dynamisch und dialektisch tradieren und entwickeln. Deeskalation und Nulltoleranz bewegen sich dabei entlang relativ unberechenbarer Koordinaten, beide können scheitern oder erfolgreich sein. Es gab bei den Punkertreffen des letzten Jahrhunderts sowohl friedliche „Bierbrunnenfeste“ als auch Chaostage. Es gab mit dem Schwarzen Block weitgehend friedliche Großdemonstrationen, als auch rituelle Ausschreitungen. In Genua war eine faschisierte Polizei das Hauptproblem, in Rostock wollten Autonome die Eskalation um jeden Preis, in Hamburg war die „Hölle“ ein von den Autonomen offenherzig angekündigtes, aber von beiden Seiten begonnenes Kräftemessen mit relativ glimpflichem Ausgang ohne Tote. Nichts ist neu an den einzelnen Bildern, berechenbar ist es deshalb noch lange nicht. Eines aber hätte man wissen können: Terrain und Zahl der Gegner bilden eine kritische Masse, in deren rituellen Gesetzen jede als ungerecht empfundene oder stilisierte Repression nur als sportive Aufforderung zur Konfrontation verstanden werden konnte. Die konnte die Polizei als Institution nur verlieren, die Autonomen nur gewinnen, obwohl sie Zweck, Symbolik und Ziel ihrer Aktionen weniger als je trennen und bestimmen können.

Die wütenden Bürger

Ebenfalls nicht ganz neu ist die abspaltende Projektionsleistung von protofaschistischen Teilen des Bürgertums. Die Lynchstimmung macht aus den Autonomen Monster und Dämonen, ruft nach Schusswaffengebrauch und vorauseilender Abschaffung von Grundrechten. In einer verkitschten Vorstellung von Politik als fortschreitende, friedliche Zivilisation hat man jede Erinnerung an die relative Traditionalität und Universalität von solchen symbolischen Ritualrevolten verloren. Man will in einer der reichsten Städte der Welt generell nicht an Wut, an Unzufriedenheit erinnert werden. Die brennenden Mülltonnen und Autos erscheinen schon als Bürgerkrieg, weil man im arbeiterpazifistischen Deutschland gar keinen Begriff von sozialen Kämpfen, von Klassenkampf mehr hat. Jeder Lokführerstreik sorgt für Irritation und Nichtbegreifenwollen von Dissens und Konflikten. Dieser Harmonismus ist unrealistisch und neigt zur Überreaktion, zum Vernichtungswunsch beim Auftreten geringster Störungen. Wenn nur ein Zug aufgrund von Gewittern ausfällt, schreien Deutsche Bahnpersonal an, zeigen Stinkefinger und verhalten sich recht rasch wie ein schwarzer Block auf Butterfahrt.

Verlagerung der Zerstörung

Was aber andernorts an Störungen angerichtet wird vom eigenen Reichtum, blendet bürgerliche Ideologie als Naturnotwendigkeit aus. Das vermittelte Resultat deutscher politischer Entscheidungen ist die Verwüstung indonesischer Torfwälder und afrikanischer Fischgründe, die Folterung, Vergewaltigung und Dezimierung von Flüchtlingen in Libyen, das Anwachsen saudi-arabischer und iranischer Mittel zur Finanzierung des Djihadismus. Der Zustand der Welt ist letztlich auch das Ergebnis solcher Staatstreffen. Auch innerhalb der Spielräume allseitiger Konkurrenz gedacht ist Deutschland ein extrem mächtiger und dennoch aggressiver Akteur, der Konkurrenz nach Kräften verschärft und im globalen Maßstab Klassenkampf von oben nach unten betreibt,  die rücksichtslose Aneignung von Ressourcen auf Kosten anderer befördert. Sei es Soja, Öl, Kaffee, Bananen oder Holz für den deutschen Markt, der friedliche Wohlstand im hamburgerischen Luxusstädtchen ist wie überall im irrationalen Ganzen an Gewalt und Zerstörung andernorts gekettet. Die angedrehte Wut der rechtsnationalistischen Medien – Mittel für weit Schlimmeres als nur Randale – und die politische Verdummung und Selbstverharmlosung bürgerlicher Ideologen stammen aus dem rudimentären Bewusstsein der eigenen, auf die Autonomen projizierten Gewaltneigung.
Die dringend zu leistende Kritik an Martialismus, Sportivität, Ritualcharakter und Ziellosigkeit der Autonomen ist ohne die Kritik an der Zerstörungslust, Tödlichkeit und Ziellosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft unvollständig.

 

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In einer fernen Vergangenheit, vor 10 Jahren, wollte die Linke auf einmal vom Black Block nichts mehr wissen und fabulierte von agents provocateurs:

http://nichtidentisches.myblog.de/nichtidentisches/art/166440992/-Das-Proletariat-hat-nichts-zu-verlieren-als-seine-Goldkettchen-Die-G8-Proteste-als-Chiliasmus

 

 

Anstehende Veranstaltungen

Mittwoch, Marburg: Der islamische Antisemitismus. 18 Uhr ct. Vortragsort ist der Hörsaal +1/0030 im Hörsaalgebäude der Philipps-Universität Marburg.

https://www.facebook.com/events/320783311712106/

Münster, Donnerstag: Akademischer Antisemitismus im Westen. 18:30. Hörsaal JO 1 (Johannisstraße 4 Münster).

https://www.facebook.com/events/350582125356376

„Judenmord“ – Kurze Kritik eines Begriffs

Dutzende Bücher und zahllose Zeitungsartikel tragen im Titel das Wörtchen „Judenmord“. Ein eingehenderes Bewusstsein der Geschichte des Antisemitismus würde äußerstes Misstrauen gegen die mangelnde Präzision des Begriffs und seine Polysemie anempfehlen. Faschistische Propaganda lebt von der ständigen Verwischung und Vermischung von Täter- und Opferanteilen. Das Wort „Judenmord“ ist syntaktisch mehrdeutig: es kann den Mord an Juden oder den Mord DER Juden bedeuten. Anders: Es kann Juden als Opfer meinen – oder als Täter. Letzteres ist keine weit hergeholte Assoziation: Jahrhunderte hindurch hat antisemitische Propaganda erst den Gottesmord, dann Ritualmorde und heute „Kindermord“ als spezifisch jüdisches Verbrechen gekennzeichnet, also Juden einen bestimmten „Mord“ als Habitus zugeschlagen.

Weiter unbestimmt bleibt die Zählform: Ist der „Judenmord“ ein Mord an einem Juden oder Massenmord an vielen Juden? Auch die Qualität ist unklar: Ist der „Judenmord“ als spezifischer schlimmer oder weniger schlimm als der unbestimmte Mord? Wird ein Jude ermordet, oder ein Mensch, der auch Jude ist und weil er Jude ist? In der Zusammenziehung von zwei Reizwörtern bedient „Judenmord“ nur Sensationismus auf Kosten begrifflicher Präzision. Eine unartikulierte Empörung will sich kürzestmöglich Luft verschaffen. „Der Massenmord an den polnischen Juden“ wäre als Buchtitel spezifischer als „der Judenmord in Polen“, verkauft sich aber womöglich schlechter. „Judenmord, Frauenmord, heilige Kirche“ – ein Werk, das voll von Fehlern ist – stellt explizit auf den Schlagwortcharakter ab. Bei „Judenmord im Reichsgebiet“ weiß man gar nicht mehr, ob es sich dabei um eine NS-Schrift voller Ritualmordlegenden handelt, oder um eine Abhandlung über den Holocaust auf deutschem Staatsgebiet.
Die semantische Offenheit des Begriffs führt in derartige Abgründe, dass man zur Vermutung gehalten ist, er werde gerade wegen dieser Offenheit verwendet.