Oliver Schott hat sich die Mühe gemacht, meinen Artikel über die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee ernst zu nehmen und eine Kritik daran zu schreiben. Aufgrund einiger Missverständnisse im Text möchte ich darauf antworten.
Schotts erster Vorwurf:
„Riedel positioniert sich in äußerster ideologischer Gegnerschaft zum Salafismus, doch dessen theologisch wie historisch völlig unhaltbaren Anspruch, zum »wahren«, ursprünglichen Islam zurückzukehren, scheint er für bare Münze zu nehmen.“
Ist dieser Anspruch „völlig unhaltbar“? Ich verweise dazu auf die Empirie: In vielen Regionen der Welt ist genau das den Salafisten längst gelungen und sie sind auf dem Vormarsch. (S. Riedel: Jungle World 31/2015)
Es ist auch historisch kein einmaliger Vorgang: Assassinen, Almohaden, Sufi-Jihads im Maghreb, die Wahabbiten, der Mad Mullah, das Sokoto-Kalifat, die Taliban, Boko Haram und hunderte von anderen Bewegungen und Strömungen vollziehen genau das: Die Rückkehr zu einer Gesellschaft, wie sie im Koran beschrieben und verordnet ist. Das meint Salafismus: Leben wie die Salafis, die Altvorderen der Gründungszeit. Salafisten konnten und können lesen, produzierten Bibliotheken theologischer Literatur und haben auch den Koran sehr gut gelesen. Schott liefert leider kein Beispiel dafür, warum dieser Anspruch völlig unhaltbar wäre, so dass die Widerlegung auf eine vollständige Geschichte des Salafismus hinausliefe.
Der zweite Einwand Schotts:
„Riedels Behauptung jedoch, im Islam hätten es liberale Strömungen nie über den Status minoritärer Sekten hinausgebracht, weil Liberalität eben »im Widerspruch zum Koran« stehe, ist doppelt falsch. Erstens historisch – über weite Strecken des Mittelalters und der Neuzeit hinweg war der Islam keineswegs illiberaler als das damalige Christentum.“
Ich trennte in meinem Text zwischen Kultur und Religion und argumentiere, dass das, was zwischenzeitlich liberal an den islamischen Gesellschaften war, deren kultürliche und in aller Regel gegen den Koran getroffene Wahl war. Eine Abkehr von Religion mehr als eine Reform.
Was aber heißt „keineswegs illiberaler als das damalige Christentum“?
Das Abbassidenreich wird oft als goldenes Zeitalter des Islam bezeichnet. Hier nahm Wissenschaft vor allem der Medizin, Mathematik und Geographie Fahrt auf, einige der Wissenschaftler waren arabische Christen und Juden.
Aber während des gleichen Kalifats kam es im 9. Jahrhundert zum Zandsch-Sklavenaufstand im Irak. Männliche Sklaven wurden durchweg kastriert, die Sklavenjagden hörten nie auf. Auch während des „goldenen Zeitalters“ setzte sich die militärische Expansion fort, bis sie ihre Grenze in einem Christentum fand, das vom Islam lernte. Im Osten wurde Indien zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert blutig erobert, was selbst die Gräueltaten und den Expansionsdrang der Kreuzfahrer in den Schatten stellte.
Und erst in der Konfrontation mit dem Islam entsteht etwas wie ein militärisches Märtyrertum. Das christliche Märtyrertum war zunächst eines von Opfern, die nicht im Kampf, sondern im Glauben und wehrlos starben. Und was die Juden angeht, revidieren Historiker die These vom „goldenen Zeitalter“. Der nach dem zweiten Kalifen benannte, von der Quellenkritik erst für das 10. Jahrhundert bestätigte Kodex Umar mit seinen Kleidungsvorschriften, Ghettoisierung der Juden und diskriminierenden inspirierte die Diskriminierungen des 4. Laterankonzil 1215 vor. Die großen Pogrome von Cordoba (1011), Fez (1033) und Granada (1066, 4000 Tote) lagen vor den ersten großen Pogromen der Kreuzfahrer (1096). Die Almovariden riefen 1042 den kriegerischen Djihad gegen Ketzer und Ungläubige auf. Und so geht es weiter in der islamischen Geschichte.
Ich argumentiere, dass liberales Denken im Islam gegen die Religion oder abseits der Religion entsteht, während Säkularismus und Individualismus im Christentum als Rückkehr zum wahren Christentum immerhin denkbar war. Das Christentum ist theologisch auf den Säkularismus und den Humanismus vorbereitet, der Islam ist es nicht.
Schott schreibt weiter:
„Nur kann ein solcher Vergleich sinnvollerweise nicht rein abstrakt und ahistorisch, allein mit Rekurs auf den Text der jeweiligen heiligen Schrift geführt werden.“
Der in dem gesteckten Rahmen unmöglich ist, weshalb mit Quellenverweisen an zwei konkreten Beispielen (Ehebruch und Schleier) gearbeitet wurde. Andere Beispiele bringe ich in früheren Texten im gleichen Medium. Auf diese Beispiele geht Schott weder ein noch liefert er eigenes Material, das Diskussionsgrundlage böte.
Nochmals Schott:
„Hier ergibt sich ein Dilemma für Riedels Argumentation: Man kann die These vertreten, der Koran sei ein deutlich schlechteres Buch als die Bibel, aber dann muss man offenbar zugeben, dass die Qualität der heiligen Schrift nicht ohne weiteres der Qualität der praktizierten Religion in ihrer historischen Gestalt entspricht.“
Schott verwirft offenbar ohne Argument meinen Vorschlag einer Trennung zwischen Kultur und Religion. Er geht davon aus, dass „die praktizierte Religion in ihrer historischen Gestalt“ die Religion sei. Er nennt aber keine historischen Gestalten, die diskutierbar wären. Es läuft auf die einfache Beobachtung hinaus, dass es historisch andere Verlaufsformen als den Salafismus gab. Das stelle ich aber nicht zur Diskussion, ich erwähne ausdrücklich Synkretismen.
Schott sieht meine Argumentation mit Fehlern behaftet:
„Dies führt auf den zweiten grundlegenden Fehler Riedels, nämlich seine maßlose Überschätzung des Stellenwerts theologischer Folgerichtigkeit in der Religionsgeschichte. Die Strömungen des Islam, die heute dominant sind, sind dies ja nicht in erster Linie deshalb, weil sie theologisch konsequenter wären oder dem Wortlaut des Koran besser entsprächen als ihre innerislamischen Konkurrentinnen.“
Hier ist die Antwort klar und einfach: Doch. Man sollte sich dazu die vier großen Rechtsschulen im Islam ansehen. Der Wortlaut des Korans ist allen heilig. Die „Schließung des Tores des Idschtihad“ im 10. Jahrhundert führte auch dazu, dass keine relevanten neuen Rechtsschulen entstehen konnten. Die theologische „Korrektheit“ ist allen ein Anliegen, auch wenn einige den individuellen Urteilsschluss höher stellen als andere und die Schafiitische Rechtsschule die in der Sunna verordnete Steinigung bei Ehebruch der im Koran verordneten Auspeitschung vorzieht. Und gerade dort, wo vom Koran abgewichen wird, haben heute die Salafisten Erfolg in der Rückführung der sufistischen Schulen auf den Koran. (Siehe oben)
„Warum sollte sich in der Konkurrenz verschiedener Glaubensrichtungen ausgerechnet größere intellektuelle Stringenz als der alles entscheidende Vorteil erweisen?“
Weil es in einer literalistischen Religion wie dem Islam nicht um intellektuelle Stringenz, um Vernunft, geht, sondern um theologische, inhaltliche Konsequenz.
„Auch das Christentum ist ja keineswegs zugunsten einer »nichtreligiösen Kultur« verschwunden.“
Auch hier ist die Antwort: Doch. Wo es zurückgegangen ist, entstand eine Kultur, die weniger oder nicht religiös war. Eine stetig wachsende Zahl von Menschen bezeichnet sich im Westen als nichtreligiös. Dass das nicht von selbst geschieht, und zu langsam und mit Gegenbewegungen verläuft, ist selbstverständlich.
„Wer wissen will, warum, kann das bei Marx nachlesen – und daraus schlussfolgern, dass auch der Islam wohl kaum schneller verschwinden wird als der Kapitalismus.“
Hier unterstellt Schott eine Ableitung von Religion aus systemischen Zwängen. Das ist gerade nicht die Konsequenz der materialistischen Religionskritik Marx‘, die damit endet: „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.“ Es muss nach Marx eben nicht zuerst der Kapitalismus verschwinden, sondern die Religion. Marx war Atheist und hat Religion aktiv bekämpft. Für die großen Aufklärer des 19. Jahrhunderts, Freud, Marx, Nietzsche, endet jeder einmal gültige Anspruch von Religion mit Darwin, nicht mit dem Kapitalismus. Daher ist ein nichtreligiöser Kapitalismus denkbar und in einigen Staaten dominant, nicht aber ein nichtideologischer. Selbst in dem von Schott kolportierten Sinn kann man fragen, warum der Islam nicht durch andere, womöglich humanistischere, religiöse Formen ersetzt werden kann.
Weiter Schott:
„Wenn in weiten Teilen Europas und Amerikas Humanität und Liberalität einen zwar immer noch beklagenswerten, aber zweifellos deutlich besseren Stand haben als etwa zu Zeiten des Dreißigjährigen Kriegs oder der Kreuzzüge, dann auch deshalb, weil sich vergleichsweise humane Formen des Christentums gegen sowohl theologisch als auch historisch wesentlich besser fundierte durchgesetzt haben.“
Das Christentum ist anders als der Islam eine säkulare Religion. Sie besteht über 300 Jahre als marginalisierte und diskriminierte Minderheit, die sich Staat unterwirft. Das spiegeln alle Gründungstexte wieder. Der Islam wird zu Lebzeiten Mohammeds Staatsreligion und sieht eine künftige Trennung in seinen Gründungstexten nicht vor. Das Christentum ist für eine Rückkehr zum jüdisch-christlichen Humanismus offen, ein universales Tötungstabu ebenso enthalten wie das Vergeben den Sündern gegenüber im Zentrum. Die beiden Hauptquellen des Islam, Koran und Sunna, enthalten solche humanistischen Elemente schlicht nicht oder nicht annähernd in ähnlicher Weise.
Schott schließt:
„Riedel empfiehlt, als »Gegenkultur zum Islamismus (…) vor allem eine nichtreligiöse Kultur (zu) fördern«. Dem ist unbedingt zuzustimmen. Doch wer als Linker seine Aufgabe in der Förderung nichtreligiöser Kultur sieht, sollte der Versuchung widerstehen, die religiöse Kultur noch schlechter zu machen, als sie ohnehin schon ist, indem er sich uneingeladen in theologische Debatten einmischt, um den Fundamentalisten zugutezuhalten, im Gegensatz zu den Liberalen wenigstens konsequent zu sein. Riedel macht einen falschen Gegensatz auf, wenn er den Reformislam in Konkurrenz zu einem nichtreligiösen Humanismus wähnt – als mache Ateş den Islam für enttäuschte Atheisten attraktiv. Der Reformislam konkurriert vielmehr mit konservativeren islamischen Strömungen. Deshalb bedeutet er, aus religionskritischer Sicht, nicht etwa »mehr Islam« (Riedel), sondern weniger.“
Das, was in Europa fälschlich unter Reformislam verstanden wird, konkurriert nicht ernsthaft mit konservativen Strömungen. Diese Konkurrenz wäre zu belegen. Die Hauptkonkurrenten der jeweiligen (in sich politisch, aber kaum theologisch zerstrittenen) Salafisten sind der meist auch nur sehr konservative Mystizismus der Sufi-Bruderschaften, ebenfalls konservative und synkretistische Sekten wie die Ahmadiyya, und die sunnitischen Strömungen, mit denen sie sich in den meisten Angelegenheiten meist einig sind. Gestritten wird um die Anwendung der Steinigung, der Verbrennung, des Selbstmordattentates, die Burka und andere Extreme wie der Hausarrest für Frauen. Nur an marginalen Rändern umstritten ist der Hijabzwang, die untergeordnete Stellung der Frau und der generelle Ruf nach Einführung der Scharia. Und das ist der Grund, warum die Abstimmung mit den Füßen Menschen, die in den Islam geboren wurden und ihn kennen, eher in das Christentum oder in die schrittweise Abkehr von Religion führt und nicht in liberale Moscheen.
Ich sehe auch nicht den Reformislam als ernsthafte Konkurrenz für einen atheistischen Humanismus, sondern letzteren als einzig zu fördernde Alternative zum Salafismus. Alles andere ist Augenwischerei über die theologische Krise des Islam und deren Auswirkung, unter der die ganze Präventions- und Deradikalisierungsarbeit leidet. Für das Christentum mag es einen Übergang gegeben haben, wer aus den theologischen Fallen des Islams herausmöchte, muss in den Bruch oder in die synkretistischen und mystizistischen Sekten.
Ganz kurz gefasst: Man kann schlichtweg nicht jeden Rückzug vom Religiösen ins Private einen reformierten Islam nennen und so das Private wieder aufs Religiöse verpflichten.