„Von Beverly Hills nach Accra – Zur Aktualität der Thesen zur Kulturindustrie“ – Einladung zum Workshop

27.3.2011: „Von Beverly Hills nach Accra – Zur Aktualität der Thesen zur Kulturindustrie.“ Workshop mit Felix Riedel, MA Ethnologe. 11:30 – 14:30 in Marburg.

Auf der Konferenz: „Traditionalität und Aktualität – Zur Aufgabe Kritischer Theorie.“

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Zur Anmeldung (kostenfrei)

Antiintellektualismus vs. Kriechertum – vom Skandälchen Guttenberg und Skandalen

Die beumfragte Mehrheit der Deutschen findet, der zurückgetretene Guttenberg habe gar nicht plagiiert oder sei zumindest trotz und wegen erwiesener Hochstapelei und Lügen noch ein respektabler Mann. Würde ein Arzt mit einem erschlichenem Abschluss Gesundheitsminister, der Skandal sähe anders aus. Abstraktere Wissenschaften allerdings genießen in Deutschland ohnehin eher den Ruch des Betrügerischen. „Hirnwichserei“ sei die überhebliche Bücher-Zitiererei, so kann man es sich jederzeit von jenen vergewissern lassen, die als Grundlage für die Philosophie und das politische Urteil den Alkohol am Stammtisch und nicht die Bibliothek setzen. Wenn also die Massen ihr Urteil über einen zu befinden haben, der im Verbund mit ihnen dieses Ressentiment durch seine ostentative öffentliche Geringschätzung der wissenschaftlichen Methode bestätigt, ist klar, dass ihr Antiintellektualismus ein Wörtchen oder gar einen ganzen Hauptsatz mitredet.

Man sollte allerdings von den solchermaßen Angegriffenen, den Intellektuellen, mehr erwarten dürfen, als ein deutschtümelndes Manifest, in dem es heißt:

„Forschung leistet einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung. Redliche und innovative Wissenschaft ist eine Grundlage des Wohlstands in unserem Land. Wenn der Schutz von Ideen in unserer Gesellschaft kein wichtiger Wert mehr ist, dann verspielen wir unsere Zukunft. Wir erwarten für unsere wissenschaftliche Arbeit keine Dankbarkeit, aber zumindest den Respekt, dass man unsere Arbeit ernst nimmt. Durch die Behandlung der Causa Guttenberg als Kavaliersdelikt leiden der Wissenschaftsstandort Deutschland und die Glaubwürdigkeit Deutschlands als „Land der Ideen“.“

Diese betuliche, kleingeistige Absage ans Kosmopolitentum, das den ersten intellektuellen Schritt in die wissenschaftliche Integrität bedeutet – und dieser bleibt den meisten GeisteswissenschaftlerInnen trotz aller Abschlüsse schon verschlossen –  ist bemerkenswert. Jede Ökonomie oder Philosophie, die ihren Marx gelesen hat, muss zum Schluss kommen, dass Deutschlands Mittelschicht und Eliten nicht aufgrund der großartigen Geisteswissenschaften zu Wohlstand gekommen sind, sondern mittels industrieller Kapazitäten, die eine positive Handelsbilanz gewährleisten. Für diese industriellen Kapazitäten sind neben regelmäßig gepiesackten Arbeitenden und Arbeitslosen spezielle Wissenschaften zuständig, die als dementsprechend hochbezahlte jene kriecherische Bescheidenheit weit von sich weisen würden, die von „Dankbarkeit“, „Respekt“ und „Ernst“ spricht, aber nicht von angemessener Entlohnung. Wie im Falle der  Proteste gegen Stuttgart 21 ist nicht dem Anliegen zu wiedersprechen, sondern dem Missverhältnis zwischen Skandälchen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Wegen eines Plagiats gehen auf einmal zehntausende WissenschaftlerInnen virtuell auf die Barrikaden:

„Da fühlen wir uns verhöhnt und persönlich angegriffen – als hätte unsere Arbeit, die wir als Doktoranden leisten, keinen Bezug zur realen Welt.“

Ihre bisherige Arbeit hatte offensichtlich schon wenig Bezug zur realen Welt. Dass man ihnen jahrelang die Lehrstühle und ganze Institute kürzte, die Forschungsaufträge austrocknete, sie durch den Bologna-Prozess in ein Korsett von straff durchdeklinierten Abschlusskategorien zwängte, dass man noch keine einzige Stellenanzeige gesehen hat, in der ein Bachelor der Philosophie oder der Kulturwissenschaften ein menschenwürdiges Gehalt versprochen bekam, dass auf promovierte Ethnologen entweder die Umschulung oder die Arbeitslosigkeit oder das immer vergeblichere Andienen an wissenschaftliche Moden, der Ausverkauf der eigenen Meinung und Interessen zugunsten marktgängiger Floskeln wartet, dass man aktuell keinen einzigen Haushaltentwurf gesehen hat, der irgendwie den Ansturm von zwei Abiturjahrgängen ohne Wehrdienst oder Zivildienst planbar machen würde, dass man also zur Zeit jedem und jeder finanziell nicht völlig Unabhängigen nur dringend davon abraten kann, überhaupt irgendetwas in Richtung Geisteswissenschaften zu studieren, das alles ist bereits die von den Doktoranden erst jetzt entdeckte „…Verhöhnung aller wissenschaftlichen Hilfskräfte sowie aller Doktorandinnen und Doktoranden, die auf ehrliche Art und Weise versuchen, ihren Teil zum wissenschaftlichen Fortschritt beizutragen.“

Wer in Guttenbergs Vorgehen nicht auch den Zwang eines zu sich gekommenen Systems sieht, verachtet in der surrealistischen Imagination einer ohne andere Nöte am Aufbau des Landes werkelnden Wissenschaft jene Studierenden, auf die nicht die Promotion, und oft schon nicht einmal ein Platz im notorisch ausgebuchten „Masterstudiengang“ wartet. Wer einen intimeren Blick ins System der nicht an die Industrie gebundenen Wissenschaften geworfen hat sieht dort recht häufig ganz und gar nicht ehrliche Günstlingswirtschaft bei der (Nicht-) Vergabe von Stipendien und Stellen, überforderte ProfessorInnen, die mitunter schon den Sprung von der Schreibmaschine zum Computer verpasst haben, ein paranoides Konkurrenzsystem, in dem jede und jeder sich mit niemandem überwerfen will, weil man von allen das schlimmste – keinen Zweijahresvertrag – und das beste – einen Zweijahresvertrag – zu erwarten hat, in dem Forschungsergebnisse geheim gehalten werden aus Angst vor dem Ideendiebstahl durch in der Hierarchie höher gestellte Personen. Man sieht zum Beispiel in Marburg, wie der  vom Theoretisierungsbedarf, Themenspektrum und Forschungsaufwand her aufwändigsten Geisteswissenschaft, der Ethnologie, eine einzige, kärglich ausgestattete Professur unter Drohungen ständiger weiterer Kürzungen oder Schließungen zugestanden wird, während ein reicher Unternehmer einen ganzen Lehrstuhl für Medizin stiftet und Physikstudenten noch vor dem Abschluss in die internationale Industrie abgeworben werden.

Es ist möglich, dass sich die Rechtswissenschaften, die Guttenberg studierte, irgendwo dazwischen aufhalten und insgesamt recht gute und wohlbezahlte Berufschancen haben. Die Unterzeichnenden des Aufrufs sind aber mitnichten nur RechtswissenschaftlerInnen. Sie verstehen sich als Vertreter einer fiktiven Entität der „Wissenschaften“ – und darin verleugnen sie den Zynismus eines von Beginn an widersprüchlichen Systems der Wissenschaften, in dem die einen industriell verwertbar sind und die anderen nicht zugeben dürfen, dass sie als bezahlte Korrektive im Sinne systemimmanenter, affirmativer Kritik allenfalls eine sehr mittelbare Funktion für die Wohlstandsproduktion haben und weitgehend austauschbare und verzichtbare Liebhaberobjekte und Sammlerstücke sind. Der Betrieb wird auch ohne eine weitere Promotion über Derridas Subjektbegriff reibungslos laufen, von der neuesten Entwicklungen in der Motorentechnik hängen dagegen Milliarden ab.

Nein, ich will nicht den wohlfeilen Dank oder Respekt der Kanzlerin für meine Arbeit als Ethnologe und Promotionsstipendiat. Ich will mindestens bescheidene 2000,- Euro pro Monat Einstiegsgehalt und eine halbwegs planbare Karriere als Universitätsdozent – und das im Bewusstsein, dass meine Forschungsergebnisse einzig den Verlagen einen minimalen Gewinn versprechen und sie keinesfalls zum Wohlstand Deutschlands beitragen wollen oder können. Und ich würde mir bei der Gelegenheit wünschen, dass gewerkschaftliche Arbeit in den prekarisierten Rändern der Universitäten ohne den Bezug auf das vorgeblich so bedeutende, wertschöpfende Moment geleistet wird,  dass also geisteswissenschaftliche Arbeit nicht als Voraussetzung für Wohlstand in die patriotische Pflicht und an die Kandare genommen wird sondern als Recht innerhalb einer zufällig zu Wohlstand gekommenen Gesellschaft eingefordert werden kann, dass Stipendien in Arbeitsverhältnisse umgewandelt werden und sie somit auf rechtlichen Verträgen und nicht auf Gönnertum beruhen, dass schließlich und endlich in Universitäten das System der unbezahlten Lehraufträge abgeschafft wird, weil das tatsächlich organisierter und massenhafter Diebstahl geistiger Arbeitskraft ist.

Sofern das alles eingefordert ist, könnte ich auch eine angemessene Kritik an Guttenbergs Verhalten nach dem Aufdecken des Plagiats unterschreiben und diese in Relation zu seiner  inzwischen beendeten, gänzlich unvisionären, strategielosen Arbeit als Verteidigungsminister setzen.

A call for Genocide-Prevention in Libya

Genocides can just be stopped, not prevented. To prevent genocide is impossible not in a military way but in logic. If it is prevented, then there is no proof that it would have happened. It is more easy to discuss accusations of genocide after the incident has happened. Many claims against Israel were evidentially cynical propaganda, repeated day and again mostly by those lusting for genocide against Jews in Israel. But: professional research would know about the character of these accusations and about the character of the Israeli army (maybe the most disciplined army worldwide) and therefore we can regard these accounts as highly unlikely if conveyed, though we have to examine any of the accusations for the sake of scientific integrity. While scientists and journalists now have gained profound insight into genocides in Turkey, Germany and Japan (both perpetrators of manyfold Genocides), Cambodia, Rwanda and Darfur (and organized mass-murders which were categorized apart from genocide like the Gulags in the Soviet-Union, the US‘ Carpet-Bombing in Laos, Cambodia and Vietnam, the Culture-Revolution in China, the war against and of Guerrillas in Indonesia, Guatemala, Peru, Columbia etc.) we can clearly define characteristics and conditions of a Pre-Genocide-Situation – and most are given in Libya.

As in Germany we have a totally neurotic and maybe psychotic dictator, identifying himself with the state, who is furthermore well-known for his ability for bloodshed, his  megalomania and his cynicist disregard of human lives – since decades. We have a situation, where this dictator is seriously cornered by an uprising the first time in his life. We have serious records of already commited crimes  against humanity that eclipses those of Ben Ali or Mubarak in their cynicism and total disdain of global protest: The use of hightech military industry (Tanks, Warplanes, Helicopters) against protesters. We have a death-toll that already goes beyond several hundred in one city (Bhengazi) alone. And most important: The dictator himself threatens hundreds of thousands  with brutal death and persecution, naming them „cockroaches“ (a genocidal term used for Tutsi in Rwanda) and „rats“ (the propaganda-term for jews in Germany) and announcing to kill them „house by house“. Those who defected from the regime believe in the threat of this denouncement as do the refugees reaching Egypt and Tunisia. We further know that the regime has an economic base to proceed with this plan and that it has  amassed weapons and hired mercenaries with no social ties to the protesters who seem to be organized last but maybe not least according to their ethnic/tribal categories.

The conclusion of all these indices is to call and to urge for immediate actions that should at least include:

1. Organizing support of the refugees and analyzing their reports.

2. Announcing the clearly defined will and the very conditions of an intervention  – to threaten the regime and to support the protesters in their risky uprising.

3. Clarifying the situation of those taken hostage and those who are the most vulnerable: The African refugees in the desert prisons that Ghaddafi organized in coordination with the infamous FRONTEX. Also in utmost threat are the already imprisoned political prisoners.

4. Making any information from intelligence reports public at least as far as crimes against humanity are concerned.

5. Cutting the existing economical and political ties with the Ghaddafi-Regime immediately and also cutting the ties with those who deny to do so.

6. Revising and recalling the European Immigration policies well-known for their failure to safeguard the survival of tens of thousands of refugees threatened with torture, murder and starvation and that lead to compliance with crimes against humanity in the course of outmoded notions of racial homogenous nation-states.

7. Organizing a well-informed, dynamic concept of how to deal with the actual and possible future developments  and aftermath of the revolutions in the Arab states and Iran – reflecting on the completely underestimated aftermath of the breakdown of the Soviet Union with shockwaves in sub-Saharan Africa (Rwanda, Congo, South-Africa), Ex-Yugoslavia and the Caucasus.

 

Literature recommended:

Kiernan, Ben: „The Pol Pot Regime: Race, Power and Genocide in Cambodia under the Khmer Rouge from 1975-1979“.

Prunier, Gerard: „Africa’s World war: Congo, the Rwandan Genocide and the making of a continental catastrophe.“

This text should be copied and cited at will.

 

Hommage an den Maulwurf

Der Maulwurf, Talpa europaea, ist ein wunderliches Tier. Trotz seines tagtäglichen Aufenthaltes unter der Erde erscheint er stets gepflegt in seidig glänzendem Schwarz. Seine wühlende Tätigkeit brachte ihm den Hass der deutschen Kleingärtner ein. Das Motiv des mit Spaten und Fallen Maulwürfe mordenden Rentners liegt allerdings tiefer als nur in der ästhetischen Störung des Gartenraumes oder der Versorgung der Pelzmanufakturen. Der Maulwurf in seiner sich durch enge Gänge pressenden Schwärze erinnert ihn an seine infantilen Begegnungen mit dem eigenen Kot. Der schien gleichsam mit Leben begabt, rumorte durchs Gedärm und hinterließ einen schönen Haufen, den die Mutter als Geschenk mit empörten Grimassen beseitigte. Dass dieses, in der Reinlichkeitsdressur besiegte, frech in gebärmutternden Höhlen lauernde und auf brustförmigen Hügeln trohnende Ding, nun ihm, dem gestandenen Mann exakt dort wiederkehren solle, wo er seine repräsentative Oase in Abwesenheit aller ödipaler Konkurrenz schaffen will, ist Grund genug, ihm aufzulauern und den kurzen Hals zu stutzen. Die Reinlichkeitsdressur hat man auf den Garten übertragen. Mit Flammenwerfern und Laubbläsern, Giftspritzen und biodynamischem Ultraschall-Arsenal wird ein Gleichklang erstellt, der vor Herrschaft dröhnt. Dabei macht sich längst keine zu bezwingende Natur mehr darüber lustig. Vor fahlen Maisäckern und stackenblochenen Fichtenforsten blamiert sich die überflüssige Machtdemonstration des ratzekurzen Rasens mit den uniformen Dekorations-„Ideen“ aus dem Baumarkt. Der darob selten gewordene Maulwurf erhielt gemäß dieser Entwicklung eine ambivalente Identität des Unterdrückten, hilflos statt aggressiv, mit Blindenbinde und Pranken, die jedes Kindchenschema erfüllen fand er Eingang in Bilderbücher als meistens etwas verschrobener Geselle. Reale Macht verspottete der Maulwurf nur noch andernorts. In geheimdienstlichen Organisationen unterwühlte er ein ums andere Mal den nationalökonomischen Konsens, die Lappalien Polizei und Mafia überlässt  er lieber seiner weniger ehrwürdigen Verwandten, der Ratte. Das regressive Unterirdische des Maulwurfes ist mit dem überirdischen Unsichtbaren verschwistert. Der Maulwurf repräsentiert das zu Unterdrückende im Kampf der Systeme, zugleich das Übermächtige. Niemand weiß, woher er kommt, wer ihn schickte. Auf einmal ist er da und seine Präsenz stürzt den Kleingarten ins Chaos, die Regierungen ins Verderben. Seine Tarnkappe ist das Unbewusste und Unterirdische der Kleingärten, zu denen Regierungen im Auftrag ihrer Kleingärtnergesellschaften oder gegen sie ihre Staaten machten. Manche, die sich gar zu sehr vor den verdrängten Trieben fürchtete, ließ sich einst einen Mantel aus hunderten der kleinen Insektenfresser anfertigen. Weitaus furchtbarere Zeitgenossen ließen hunderte und tausende von Menschen hinrichten, um einen vermeintlichen oder realen menschlichen „Maulwurf“ zu töten. Der Maulwurf symbolisiert Kleingärtnern und Staaten die Wiederkehr des Verdrängten. Dabei steht er in Wirklichkeit über allem: In der Ethnologie nannte man den supervidierenden Blick des funktionalistischen Ethnologen die „Maulwurfsperspektive“. Ungerührt von allem unter ihm blickt er von seinem Hügel herab auf seine Objekte und räsoniert, ohne sie sich je zu nahe kommen zu lassen. Das ist natürlich auch nur eine Projektion von Maulwurffeinden.

Mit Mubarak für Israel?

90 % der Ägypter hegen eine tiefe Abneigung gegen Israel. 60% wollen die Scharia. 20% wählten die Muslimbrüder bei den letzten Wahlen. In Interviews auf Demonstrationen wurde Israel ein Krieg angedroht, Bilder von Plakaten kursieren, auf denen Mubarak mit Davidsstern gezeichnet wird. Israels Regierungschef Netanjahu beschuldigt den Westen, Mubarak, einen treuen Verbündeten fallen gelassen zu haben. Und neue Meldungen vom Tahrir-Platz in Ägypten bezeugen jetzt die gespenstische Präsenz der Muslimbrüder, die beten und Parolen gegen Israel und die USA brüllen und angekündigt haben, ganz Ägypten gegen Israel mobilisieren zu wollen.

Die Freundinnen und Freunde Israels waren und sind gespalten. Die einen unterstützten die ägyptischen Proteste bislang, ja verfolgten sie mit freudigen Emotionen. Man hörte sogar Parolen aus längst vergangenen Tagen, Loblieder auf die internationale Solidarität und der Verdacht liegt nahe, dass hier wie während der Euphorie der antiimperialistischen Klimax Revolutionen an anderen Orten idealisiert werden, um der Starre zu Hause zu entfliehen. Die Anderen warnen vor einem zweiten Iran, vor einer vierten Front gegen Israel, halten der Diktatur Mubaraks gegen den volksbewegten Islamismus die Stange. Stimmen der Vernunft (s.u.) sind selten geworden.

Die Geschichte gibt Pessimisten recht. Nach einer kurzen Party der Demokraten in Tunesien und Ägypten könnte die Geschichte sich wiederholen. Was also bewegt mich und andere dazu, trotzdem die Revolten zu begrüßen? Ahmadinejads Grußworte jedenfalls sind eher als wahnhaftes wishful thinking einzustufen, denn als objektive Einschätzung der Lage.

Das erste Argument ist, das es auch bei einem bislang unwahrscheinlichen Abebben der Revolten nicht weitergehen kann wie bisher. Wenn der Islamismus der einzige Grund ist, warum Mubarak sich am Leben erhalten konnte, ist dies der beste Grund, von diesem Diktator nicht länger zu erwarten, dass er den Islamismus effektiv bekämpfen wird. Er würde sich künftig nicht an seiner Existenzgrundlage vergehen, sie womöglich noch fördern um die Bedrohung am Leben zu erhalten. Diese Dynamik sollte besser heute als morgen unterbrochen werden. Im Falle Ben Alis hat sich gezeigt, dass die Bedrohung durch Islamisten seit Jahren übertrieben wurde. Vielfache Berichte von Kennern der Materie belegen die Marginalität der Islamisten in Tunesien und er erweist sich als Gespenst, das durch seine ständige Beschwörung nur aufgewertet wurde und wird. Ägyptens Muslimbrüder sind gewiss kein Gespenst. Sie sind aggressive Feinde Israels und werden alles tun, um jeden Frieden zu torpedieren. Das Gute ist: Sie haben die Proteste nicht gestartet. Sie waren davon regelrecht überrascht. Je länger sie dauern, je länger der Westen Mubarak stützt, desto stärker können sich die Muslimbrüder als radikale Alternative gerieren. Wäre Mubarak bereits nach vier Tagen aus dem Amt gedrängt worden, der Sieger hätte Facebook geheißen und nicht El Baradei und schon gar nicht Muslim Brotherhood. Die reformerischen Sprüche aus den USA und Europa und verständlicherweise Israel haben Mubarak gestärkt und so haben sie die Muslimbrüder aufgewertet. Wenn die Revolte wegen der Zögerlichkeit der USA und dem Komplettausfall Europas scheitert, werden die Muslimbrüder die Ernte einfahren. Wenn sie noch länger dauert, werden die Muslimbrüder sich möglicherweise als die wirkliche revolutionäre Kraft verkaufen können.

Ein weiteres Argument: Nicht nur in Ägypten, sondern im Sudan, in Jemen und in Jordanien ächzt das Gebälk. Es handelte sich hier allem Anschein nach nicht um eine autoritäre islamistische Erweckungsbewegung, sondern um eine sehr stark auf Facebook ausgerichtete liberalistische Jugendbewegung, die trotz und wegen ihrer ödipalen Tendenzen,  der Fokussierung auf den Übervater, mit ökonomischen und politischen Missständen befasst war und ist. Welche Diskrepanz zu den antieuropäischen, antisemitischen Eruptionen beim „Karikaturenstreit“ vor wenigen Jahren. Mögen die Protestierenden Antisemiten sein oder nicht, sie haben das erste Mal ihren Antisemitismus berechtigten Interessen untergeordnet. Das ist begrüßenswert und gibt allen Grund zur Hoffnung.

Die arabischen Diktatoren sind mitnichten Freunde Israels – sie sind allenfalls bessere Strategen. Sie lassen keine Gelegenheit aus, der Bevölkerung zu versichern, dass es eines Tages wieder gegen Israel gehen werde und von ihnen ist jederzeit zu erwarten, dass sie für ihren Machterhalt die antisemitische Karte spielen werden. Das findet derzeit statt. Israelische Journalisten wurden von der Polizei verhaftet, das Gerücht wird gestreut, die Revolten seien von Juden initiiert worden, man habe israelisches Geld auf den Straßen gefunden. Mubarak hat nicht den Antisemitismus bekämpft, er hat in den Muslimbrüdern eine Machtkonkurrenz gesehen. Solange sie seine Macht nicht in Frage stellten, konnten sie ungehindert ihre antisemitische Propaganda verbreiten, die auch im Staatsfernsehen, in Schulbüchern und unter den Mubarak-Anhängern nicht fehlte. Der Antisemitismus durchzieht die Welt –  wenn es schon Antisemiten gibt, so sind freie Antisemiten mit Frauenwahlrecht und wechselnden Regierungen allemal das kleinere Übel. Es geht für Israel längst nicht  mehr darum, dass es geliebt oder nicht gehasst wird. Golda Meir hat das heute noch gültige Diktum geprägt, nach dem an jenem Tag Frieden herrschen wird, an dem die Araber ihre Kinder mehr lieben als sie die Juden hassen. Die relevante Frage ist, ob sie bis dahin eine militärische Bedrohung Israels darstellen können.

Mubarak erhielt jedes Jahr 1,5 Milliarden amerikanischer Militärhilfe, die Ägypter durften den M1Abrams-Panzer unter Lizenz bauen, während Israel zentrale Militärtechnologie noch immer verweigert wird. Sollten die Muslimbrüder diese stärkste Armee Afrikas mitsamt über 200 F-16 eines Tages demokratisch in die Hände bekommen, werden sie amerikanische, italienische und britische Waffen gegen Israel wenden. Wären diese Milliarden an Israel gegangen, es hätte nichts zu befürchten und könnte sich alle erforderliche Hochtechnologie, eine komplette Grenzmauer und eine Söldnerarmee leisten, die die gesamte Grenze überwacht und im Zweifelsfall auch Millionen von angreifenden Muslimbrüdern abwehren, sprich töten, könnte. Auch hier ist es besser, einen klaren Schnitt zu fordern. Wenn der Westen Israel unterstützt, so soll er das direkt tun und nicht über antisemitische Diktatoren mit Restvernunft.

Eine staatliche, offizielle Armee hat überdies kaum die Möglichkeiten der islamistischen Terrorbrigaden. Sie wäre verschiedensten Instanzen verantwortbar und ein klares Ziel für das israelische Militär. Ägypten hat kein Öl, es hat allein Menschen. Seine Kriege konnte es nur mit den immensen Waffenlieferungen aus der Sowjetunion und den USA führen und es hat alle verloren. Terrorismus bedarf einer kostspieligen Ökonomie und er bedarf staatlicher Förderer. Der Trick der Hamas ist, nicht genug Regierung darzustellen um internationale Konsequenzen für den Terror zu tragen.

Die Bedingungen, die der Westen an Mubarak stellt, kann er ebensogut an eine demokratische oder islamistische Regierung stellen  – sie waren Mubarak und zuvor Sadat von der militärischen Übermacht aufgezwungen und nicht aus einer Einsicht über den Antisemitismus heraus angenommen worden. Ägypten hängt anders als Iran am Tropf. Es ist nicht Iran, es kann nie die Bedeutung Irans erhalten, nicht einmal für einen Guerillakrieg taugt das flache Land. Der Suezkanal ist nicht die Straße von Hormus. Ägypten verdient an ihm. Und es wäre ein leichtes für Europa und die USA, diesen Kanal zu sichern. Das hat sogar Israel geschafft.

Es läuft also sehr deutlich darauf hinaus, dass das, wovor Israel sich wirklich fürchten muss die mangelnde Solidarität aus dem Westen ist. Die Angst vor einem zweiten Iran verdeckt die Unfähigkeit, etwas gegen den ersten zu unternehmen, in dem keine Protestbewegung mehr an den Folterern und Mördern vorbeikommt. Iran wäre längst kein Problem mehr, wenn nicht deutsche, österreichische, chinesische und russische Unternehmen den Ajatollahs die Devisen und die Technologie zum Waffenbau und zum Terror gegen Juden und die Bürger in Iran frei Haus liefern würden, wenn ein europäischer Konsens in der Verdammung dieser Diktatur hergestellt werden könnte. Nur 8 % wollen in Iran die Scharia. Warum stützt man Ahmadinedschad und seine Bassidschi? Wegen der Straße von Hormus sagen die einen, wegen des Ölpreises die anderen. Warum stützt man Mubarak? Wegen des Suezkanals, wegen des Ölpreises. Nicht wegen der Juden oder wegen der Scharia oder wegen großartiger Verhandlungserfolge oder der Beteiligung Ägyptens am ersten Golfkrieg.

Längst ist unklar, ob Europa nicht auf der Seite der Palästinenser in einen Krieg gegen Israel ziehen würde. Europas liberale Politiker folgten Israel allenfalls aus political correctness, niemals im Argument. Das Argument der Muslimbrüder führen die Europäer unisono in ihren Medien im Munde. Sie sind sich alle einig, dass der „Kindermörder Israel“ am besten nach Uganda oder ins Meer oder nach Schleswig-Holstein verpflanzt werden solle, und vorher die gesamte „rechtsextreme“ israelische Regierung wegen „Kriegsverbrechen“ nach Den Haag überstellt werden müsste. Jeder Verteidigungsschlag Israels hatte mahnende Worte aus Europa zur Folge und mehr Sympathien für Hamas und Co. Jeder Verteidigungsschlag Israels gegen Ägypten müsste Europas Agitation mehr fürchten als die amerikanischen Panzer der Ägypter. Nicht allein die überschätzten Muslimbrüder sind das bedenkliche an Ägyptens Revolution, sondern Europa und seine antiisraelische Presse. Es hat der antisemitischen Meinung der Ägypter nichts entgegenzusetzen. Niemand sagt den unter einer von Mubarak staatlich kontrollierten Presse herangezüchteten Antisemiten, was man wirklich von ihrer Meinung hält und warum man ihre Feindschaft zu Israel im Argument und in der Sache für falsch hält. Man überwies einfach Geld an Mubarak, der davon afrikanische Flüchtlinge in der Wüste erschießen ließ, der die demokratische Opposition und hier vor allem Blogger gewiss nicht wegen deren Antisemitismus terrorisiert und der die ägyptische Gesellschaft in die Armut treibt. Wenn der Westen Mubarak stützt, so soll er es laut sagen, dass dies allein wegen des Hasses der Ägypter auf Israel geschieht, dass und warum dieser Hass falsch ist und dass sobald dieser Hass aufhört auch die Diktatur aufhören wird. Aber das wäre, abgesehen von Israel, gelogen. Die Macht der Europäer war selten so groß wie heute. Sie untertreiben das, aber sie wissen es. Insofern ist es scheinheilig, wenn Westerwelle den Kameras versichert, auf der Seite der Protestierenden zu stehen und damit aber insgeheim schon die Muslimbrüder meint. Fälliger wären konkrete Zusicherungen an Israel, an die demokratische Opposition und eine Entschuldigung für die Borniertheit der Vergangenheit.

Das sind die Gründe, warum ich Mubarak lieber heute als morgen von den Revolten gestürzt sehen will. Ein Clean Cut wäre so wünschenswert wie utopisch: Dass mit den Diktatoren gebrochen wird, dass man nicht nur mit ihnen bricht, sondern sie dann auch konsequent angreift, sie schwächt, die demokratische Opposition stärkt, sie nach allen Regeln der Polemik gebührend kritisiert. An der Elfenbeinküste zeigt sich die Stabilität, die für Ägypten zu befürchten ist. Der korrupte Premierminister Gbabo hatte dort die Zentralbank überfallen, um mit den Millionen einen weiteren Monat seine Schlägertruppen zu bezahlen und sich die Armee warm zu halten. Sein vermutlich nicht minder korrumpierbarer Konkurrent, Qattara, ruft derweil den Generalstreik aus, der die Gesellschaft aushungert, die nach einem Tag ohne Lohn und Umsatz nichts zu essen hat. In Tunesien konnte Leila Ben Ali ungehindert die Bank ausrauben und einen gigantischen Goldschatz außer Landes fliegen. Derweil fliegt ein anderer Diktator, Baby Doc Duvalier, zurück in das Land, das er einst terrorisierte und plünderte. Er blieb ungestraft und verprasste die Beute derart schnell, dass er nun in Haiti auf Auszahlung seiner letzten gebunkerten, in der Schweiz gesperrten Millionen hofft. Der Westen hat allen Grund, die Muslimbrüder zu fürchten, die er militärisch und ökonomisch mit dem kleinen Zeh auslöschen könnte, wenn sie wirklich eine ernsthafte Bedrohung werden sollten. Sie sind sein schlechtes Gewissen. Erst wenn die Altlasten beseitigt sind, wäre ein radikaler Liberalismus vorstellbar, der anderen Staaten mit gutem Gewissen die Mindeststandards freies Wahlrecht und Frauenrechte abnötigen kann. Im Moment allerdings kann niemand behaupten, dass die Muslimbrüder Frauenwahlrechte und freie Wahlen verhindern. Das besorgt der Westen und seine Diktatoren.

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Siehe auch:

Tunis und die Kälte auf Nichtidentisches.

Erdbeben im Nahen Osten auf Lizas Welt

Nieder mit der Diktatur – Hoch… ja was? auf Spirit of Entebbe

Das Ägyptische Dilemma: 1979 oder ein neuer Anfang? auf Spirit of Entebbe

Pro-Mubarak rioters hurl Molotov Cocktails at Opposition auf Jerusalem Post

Der letzte Sieg von „1979“ auf Wadi-Blog

Ägypten ist nicht Gaza in der Jungle World

Und natürlich das Grundlagenwerk mit Informationen über Sadats Versuche, die Muslimbruderschaften zu instrumentalisieren und deren gezielte Förderung durch die „Panarabisten“:

Matthias Küntzel: Djihad und Judenhaß. Über den neuen antijüdischen Krieg.

Zensürliches zum „Tal der Wölfe“

Gewiß! Ist die Zensur einmal eine Notwendigkeit, so ist die freimütige, die liberale Zensur noch notwendiger. (Karl Marx, MEW 1: 2)

Eine eigentümliche Ironie der Geschichte zwang das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED die Marx-Engels-Werke mit einem Artikel von Karl Marx zu beginnen, der den Titel trug: „Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion.“

Das Vorwort der KpdSU fühlte sich zum Verweis darauf verpflichtet, dass es sich hier um die „reaktionäre preußische Zensur“ handelte. (MEW 1: XXVI) Die Leserschaft meiner noch mit eingeklebten Porträtzeichnungen von Marx/Engels versehenen Ausgabe von 1958 sollte nicht die Errungenschaft der revolutionären Zensur der Sowjetunion mit der überkommenen, „reaktionären“ der Preußen verwechseln. Nicht also aus frivoler, bourgeoiser Libertinage oder reaktionärem Preußentum blieben daher die Marx-Engels-Werke unverändert, sondern weil sie ein auserlesenes Kulturgut von nationalem Interesse seien:

„Der Marxismus ist das kostbarste Kulturgut des deutschen Volkes. Wir sind die rechtmäßigen Erben dieses großen Vermächtnisses; daraus erwächst uns die hohe Pflicht, es sorgsam zu bewahren und rein und unverfälscht unserem Volk zu vermitteln, um es zu befähigen, rasch auf dem Weg vorwärtszuschreiten, den ihm seine größten Söhne gewiesen haben.“ (MEW 1: IX)

Alles, was unterhalb dieser Heiligkeit sich anzusiedeln erfrecht hatte, konnte dagegen mit der gleichen hohen Pflicht verwässert, überwacht, zensiert, vergulagt und weggemordet werden.

Die offene Barbarei der Zensur, die in der McCarthy-Ära selbst die USA infiziert hatte, ist immerhin in den demokratischen Staaten weitgehend Geschichte. Ihr Fortleben in der Demokratie als demokratische, liberale Zensur, überhaupt die Idee ihrer Sinnhaftigkeit, ihres möglichen Gutseins in bestimmten Fällen, bereitet den Boden für radikalere Kastrationen gewohnter Freiheiten wie sie aktuell in einem sich faschisierenden Ungarn stattfinden. Das Einschleichen des Gedankens, die Zensur könnte etwas leisten, was eine freie Presse und die damit wünschenswerterweise auch zu assoziierenden freien Geister nicht zu leisten in der Lage wäre, bedeutet schon die gemütliche Zensur der Kränkung über die eigene Unfähigkeit, etwas Ausformuliertes beizutragen. „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“ – diese anmaßende Lösung des Theorie-Praxis-Problems wurde zum bequemen Argument, sich aufs Faustrecht zurückzuziehen, dem man immer nur solange huldigt, als man der Stärkere zu sein glaubt.

Der Film „Das Tal der Wölfe – Palästina“ sollte zunächst indiziert werden und läuft nun doch mit dem FSK 18 in vielen Kinos an. Ein Film, der Judenvernichtung propagiert und Geschichte fälscht, genießt jetzt sowohl die Atmosphäre des Verruchten, Subversiven als auch den Bonus der weitgehenden Unbedenklichkeitsprüfung. Eine derartige Aufwertung konterkariert das Werbeverbot, das bei indizierten Filmen stattfindet und „Tal der Wölfe-Palästina“ zugedacht war. Konsumiert  und verbreitet werden Filme heute ohnehin durch das Internet. Immerhin wurde durch die Freigabe eine kritische Lektüre des Filmes vereinfacht. Und die ist für alle unabdingbar, die sich eine eigene Meinung machen wollen und dies auch anderen Menschen zutrauen oder die einfach mal über einen schlechten Film lachen wollen.

Der paternalistische Ansatz, nach dem intellektuell oder moralisch nicht gereifte Menschen vor der Ansteckung mit gröbstem Unfug geschützt werden müssten, beschädigt die Autonomie des Individuums. An gerade jenem Unfug, seiner Teilhabe daran und der Reflexion darauf bildet sie sich erst heraus. Die Menschen müssen einer Flut an Unfug standhalten und der Unfug ist systemimmanent. Sie sollen die digitalen Kameras kaufen, die verschwommene, verpixelte, rotäugige Karikaturen einer Fotografie liefern, sie sollen die Messer kaufen, die vom Anschauen stumpf werden, die Wasserkocher, die Wasser lassen, die Wundermittel für die Wunden, die Plakatgesichter der Parteien, aber sie sollen auf keinen Fall einer bösartigen politischen Propaganda ausgesetzt werden. Im wahrscheinlich sogar falschen Glauben an die mediologische Dressur fürchtet man sich vor ihr logischerweise dort, wo sie der Kontrolle enträt. Den Kontrollverlust projiziert man auf die vermeintlich Schutzlosen – die dann sämtlich in der Imago des potentiellen Amokläufers oder Selbstmordattentäters aufgehen. Man will bei der Indizierung „die Jugend“ schützen, als gäbe es nicht genügend gewitzte Jugendliche, die in Sachen Medienkompetenz die gutväterliche Generation weit hinter sich gelassen haben und als wären die  regelmäßigen antisemitischen Demonstrationen in Deutschland Kinderkreuzzüge.

Unter dem Etikett des Jugendschutzes klopfen auch Forderungen nach einer Zensur des Internets an die Türe. Zwei Schülerinnen werden von einem staatlich finanzierten und parteilich kontrollierten Nachrichtendienst interviewt und bezeugen, auf einem Forum im Internet anonym beschimpft worden zu sein. Man sei doch sonst harmonisch unterwegs an der Schule, das schlimmste sei, dass man nicht wisse, wer da geschrieben habe. Den Zwang zur Harmonie mit solchen verdrückten, sadistischen Aggressionen zusammenzudenken ist in Deutschland fremd. Ähnlich  verdrückt wird der alles „erklärende“ Kommentar eingeflochten: „Deutschland hat keine Internetzensur“. Schlimmer noch: Die Läster-Seiten seien in den USA angemeldet. Was für fürchterbare Blüten die von der Leine gelassene Meinungsfreiheit dort zu treiben weiß, ist dem notorisch adstringierten deutschen Volksmund allgemein bekannt. Man redet dort sogar schlecht über fremde Staatsoberhäupter. In Deutschland verkneift man sich den Ärger oder die Lust und sprüht nachts auf eine Hauswand: „XY ist eine Nutte/bläst jedem/ist schwul!“ liest man an jedem Bushaltehäuschen und die sind beileibe nicht in den USA angemeldet. Die Mentalität gleicht sich den Klotüren an. Hygiene – das heißt Zensur, Verbot und Abschiebung – scheint als einzige Maßnahme denkbar. Die Alternative, die Immunisierung durch Aufklärung, ist selbst den Aufklärern bisweilen zu anstrengend – sie lassen sich von der eigenen Ohnmacht dumm machen.

Aufklärung ist in Deutschland in der Tat schwach auf der Brust – das macht allerdings die Zensur von „Tal der Wölfe-Palästina“ um so fragwürdiger. Warum soll ein Film verboten werden, mit dessen Kernaussage weite Teile der Parteienlandschaft und Journalisten d’accord gehen? Geschichtsfälschung hat sich durchgesetzt: Der Angriff der militanten Gruppe an Bord der Mavi Marmara auf Israel wird durchweg als Angriff Israels auf ein harmloses Schiff bezeichnet. Dass der Filmheld das Existenzrecht Israels mit einem flotten Spruch negiert und ihnen ein Land unter der Erde als versprochenes ankündigt trifft sich mit dem Tenor jener Linken, die Israel sein eigentümliches Beharren auf Nationalstaatlichkeit als Romantizismus in Zeiten des so universalen Völkerrechts vorhalten.

Ein schlechter, antisemitischer Film entfaltet keine bombastische Wirkung aufgrund irgendwelcher magischer unbewusster Bild-Inhalt-Codes, sondern weil jenseits der deutschen und europäischen Borniertheit in Bezug auf Israel beachtliche Teile der türkischen Meinung inklusive der AKP bereits Antisemiten sind und diesen Film produziert haben. Hätte er eine so gigantische Wirkung, es wäre ein leichtes, nach dem gleichen Prinzip einen ähnlich wirksamen Film gegen den Antisemitismus und den Antiamerikanismus zu produzieren. Bis dahin bleibt als einziges, auf die Parodien auf Youtube zu warten.

Tunis und die Kälte

Die pathische Kälte,  mit der Deutschland Tunesien behandelt, klirrt durch die Berichte im Fernsehen. Die einzige Sorge wird um heimzubringende Touristen verlautbart. Nach zwanzig Jahren Abfeiern der demokratischen Revolution gegen das DDR-Regime ist heute die kalte Schulter alles, was demokratische Revolutionäre von Deutschland und Europa erwarten dürfen. Die Stille ist das schlechte Gewissen Europas. Eine seit Urzeiten akzeptierte Diktatur in Weißrussland und eine heraufziehende in Russland, ein sich faschisierendes Ungarn und die Barbarei zwischen antiquierten Monarchien des Nordens, mafiösen Staatsrackets im Süden und xenophoben Abschiebefetischisten der Mitte – Europa hat jeden Anspruch verloren, sich überhaupt glaubwürdig zu äußern und es will ja auch niemand mehr etwas glauben oder nicht glauben wollen, wo man doch Entertainment hat.

Im Land, das sich für die Bastion des Fortschritts hält, wird die Höhe von Minaretten diskutiert und es werden Suren auf ihre Gewalttätigkeit hin analysiert, akribische Abschiebepläne müssen täglich aufs Neue erstellt werden, und unbedenkliche Dioxinmengen fürchten die Arbeitenden mehr als die Rente mit 67. Zurückgeblieben ist Europa auf dem höchsten Stand der technischen Möglichkeiten, ein wandelnder Anachronismus, der gefährlicher ist als alle maroden Diktaturen der arabischen Staaten. Der Liebesentzug, der die tunesischen Revolutionäre trifft, ist ein finaler Ausdruck der offenen Kumpanei Europas mit den verlässlichen Diktatoren Afrikas.

Wenn ein Fernsehkommentar die Stimmung nach der Flucht Ben Alis mit der Assoziation „wie bei einer Fußball-WM“ beschreibt, ist der Verfall des kulturindustriell abgetöteten Bewusstseins am Endstadium angelangt. Im Stande der Meinungsfreiheit zensieren sich Nachrichten um jede Information, die auch nur andeutungsweise ein nationales Interesse übersteigt oder gar den Geist fordern würde. Südlich der europäischen Union hört die Meinung auf und fangen andere Kulturen an. Die tunesische Jugend tut gut daran, sich an den USA zu orientieren. Deren Präsident immerhin pries den Mut der Revolutionäre, während aus Paris „Kenntnisnahmen“ zu vernehmen waren und Deutschland Flugzeuge für seine Urlauber organisiert.

Die beliebte Formel, dass eine Entwicklungsdiktatur noch besser sei als ein Wahlsieg von Islamisten, klingt hohl aus einem Europa, in dem Faschisten stabil und expandierend die Parteienlandschaft prägen und von staatstragenden Parteien Islamisten als kultürliche Eigenheiten beweihräuchert und hofiert werden. Fast jede Woche reisen Mitglieder des deutschen Bundestages auf Staatskosten nach Iran, um dem Regime ihre unbedingte Dialogbereitschaft zu beweisen. Europa hat mit seiner Unterstützung von Diktaturen nur geklärt, dass es einer gewählten islamistischen Diktatur ebenso wenig entgegenzusetzen hätte wie es in der Vergangenheit und aktuell gewählten Faschisten in Europa entgegenzusetzen hatte. Im Antlitz der tunesischen Revolution wird Europa seine eigene Katatonie zurückgespiegelt.

Schwarz in Deutschland

In einem Regionalzug zwischen Siegen und Erfurt stehen zwei Jugendliche im Eingangsbereich. Die nähere oder entferntere Verwandtschaft des einen ist aufgrund des Akzentes eher in Südosteuropa zu verorten, die des anderen aufgrund der Hautfarbe und der Haare im subsaharischen Afrika. Der Hellhäutige prustet plötzlich los und zeigt nach oben auf den Aufkleber über der Türe: „Damit sie sich nicht schwarz ärgern!“ ermahnt der Werbeträger der Bahngesellschaft Menschen zum Kauf eines Tickets. Der Dunkelhäutige verdreht die Augen.

 

Korrekturen am „Hinterland“

Das „Hinterland-Magazin“ des bayrischen Flüchtlingsrates hat die jüngste Ausgabe Afrika gewidmet. Dabei liest man manche interessante Meinung und leider auch einigen Unfug. So wird im Artikel „Panafrikanismus reloaded“ vom „Arbeitskreis Panafrikanismus München“ eine Neuauflage des Panafrikanismus vorgeschlagen, die im Prinzip die gleiche Leier des dagewesenen auflegt und nicht ohne alte Helden auskommt. Da wird das Loblied auf Kwame Nkrumah gesungen, der einst Ghana in die Unabhängigkeit geführt habe. Wie groß Nkrumahs Verdienst daran tatsächlich war, ist umstritten. Dass er das Land Goldküste nach dem alten Königreich Gana benannte war schon Ausdruck einer Großmannssucht, die sich im späteren Verlauf seiner Herrschaft ausprägte. Im Rahmen der „Unification“, das Hauptargument aller späteren afrikanischen Diktatoren, wurden Gewerkschaften aufgelöst und Jugendorganisationen zu staatstreuen Spitzelsystemen umfunktioniert. In der „Hinterland“ wird dies einfach verschwiegen:

„Nkrumah war ein unermüdlicher Streiter für die Befreiung des ganzen afrikanischen Kontinents von geistiger Sklaverei, politischer Fremdherrschaft und wirtschaftlicher Ausbeutung. Durch seine Bemühungen wurde die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU, heute AU) gegründet. Nach Meinung Nkrumahs ist die wirtschaftliche Unabhängigkeit nur durch die Einheit aller afrikanischen Länder möglich. Auf dem Gründungstreffen der OAU 1963 sagte er: „Die afrikanische Einheit ist in erster Linie ein politisches Königreich, welches nur durch politische Instrumente erreicht werden kann. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Afrikas wird ausschließlich innerhalb dieses Königreichs stattfinden und nicht andersherum.“

Wie ein solches Königreich funktioniert wurde spätestens 2009 in Ghana noch einmal demonstriert: Von einigen finanziell hörig gemachten Chiefs und Königen wurde Muama Gaddafi, der Diktator Libyens, zum „König von Afrika“ gekrönt. (1, 2) Die demokratische Mehrheit Ghanas wählte indessen den westlichen Antagonisten zum Popstar, Sexsymbol und virtuellen Präsidenten Afrikas: Barak Obama.

Die Parole „Africa Unite“ ist eine der Eliten und Afroromantiker. Der Mehrheit auf der Straße sind bereits die Nachbarregionen suspekt oder unbekannt, manche halten ihren Landstrich für ganz Afrika und Europa für ein Nachbarland. Sie wissen zudem genau, was sie von einer Regierung eines geeinten Afrika zu erwarten hätten: noch mehr Korruption. In Diskussionen mit Panafrikanisten auf Kongressen werden vor allem „Wir“-Formeln gewälzt und autoritäre Charaktere durchdekliniert. Von einer Emanzipation der Individuen liest man wenig, es geht um „our culture“ und „Tradition“. Diese Parolen dichteten Afrika immer dort ab, wo es am reaktionärsten war und am lautesten hört man sie von jenen, die am meisten von der Ablenkung eines Klassebewusstseins hin zu einem nationalistischen panafrikanistischen Antiimperialismus und traditionalistischem Bauchpinseln und Zeremonienhubern profitieren. Ein wirklich fortschrittliches Afrika wird nicht geeint sein, sondern ein diversifiziertes, in dem Verschiedenheit ohne Angst möglich sein wird. Und dafür wiederum geben nicht wenige Staaten Afrikas Grund zur Hoffnung.

Ein anderer Artikel mit dem Titel „Arm, krank, abhängig“ täuscht ebenfalls über Realitäten hinweg. Richtig wird noch darauf verwiesen, dass Afrika nicht arm sei, sondern „verarmt“. Zu gut bekannt ist Nigerias Absturz von einer der größten Ökonomien der Welt zu einer pauperisierten Brutstätte von Gewalt und Korruption. Leider folgt die übliche Verschwörungstheorie:

„Die Massenmedien berichten nicht, worum es in vielen Konflikten wirklich geht, weil das die westliche Gesellschaft moralisch erschüttern würde. Es wird Krieg geführt, damit die Industrie weiter produzieren kann, damit die Waffen weiter verkauft werden, damit ihre Bevölkerung zur Arbeit gehen kann, damit ihre Bevölkerung zufrieden bleibt. So verhindert man Unruhe bei sich, damit man weiter regieren kann, oder um im kleinen Kreis, zum Beispiel der G8, die Welt weiter zu regieren. Es wird kaum berichtet, dass es im Kongo Kindersoldaten und -soldatinnen geben muss, damit die Kinder hier Handys tragen können. Die Hutu und Tutsi haben nicht ohne Grund gegeneinander gekämpft, aber es wird nicht über die Mitverantwortung der Regierungen in Deutschland, Frankreich, Belgien und der UNO geredet.“

Ein solcher Jargon macht noch jede afrikanische Gräueltat zum Agenten westlicher Interessen. Das entmündigt Afrikaner auf eine perfide Art und Weise: die Intelligenz und Kreativität, die für jene bösen Taten nötig ist, wird ihnen abgesprochen und den verschwörerischen Weißen zugeschlagen, die naive Afrikaner zu solchen entsetzlichen Taten regelrecht ausbilden müssten. Dieses naivisierte Bild Afrikas ist nicht weniger rassistisch als das jenes, das die Konflikte dort auf die Hautfarbe zurückführt: es blendet die Fähigkeit zur extremen Aggression aus, entmenschlicht AfrikanerInnen zu passiven, Befehlsempfängern westlicher Verschwörungszentralen. Kein Kind „muss“ zum Kindersoldat werden, damit „die Kinder hier Handys“ haben. Abgesehen davon hat virtuell jeder Afrikaner und auch viele ihrer Kinder ein Mobiltelefon. Der Rohstoffreichtum bedeutet eben nicht Afrikas Fluch, weil die westlichen Demokratien ihr perfides Spiel damit treiben würden (was sie unbestritten auch taten und tun in ihrer Kollaboration mit afrikanischen Diktatoren), sondern weil Rohstoffe ohne angeschlossene Industrie eine starke Verteilungstendenz bedingen und staatliche Strukturen sowohl stärken als auch korrumpieren und dies erst recht, wenn die Einheits- und Harmonieideologie so stark ist wie in Afrika. Leider ist mit der Parole des Informationszeitalters und dem gleichzeitigen Fokus auf Rohstoffe wie Erdöl außer Acht geraten, was Marx und andere als wesentliche Grundlage für die Wertschöpfung herausstellen: Die Hinzufügung menschlicher Arbeitskraft zu Rohstoffen. Und die funktioniert gerade im Informationszeitalter über Industrien. Das immerhin hatte Nkrumah noch verstanden. Die historisch und logisch aus den Industrien hervorgehenden Gewerkschaften waren ihm zuviel des Guten.