Schwarze Ernte

Die Waffenlieferungen an die Peshmerga – 30 MILAN, 16000 Sturmgewehre und diverses Gerät – erfolgen gegen den Willen der Mehrheit der deutschen Gesellschaft. Dass sie nach endlosen Wochen endlich verladen werden, dürfte einigen Verfolgten im Irak das Leben retten – die Umstände bleiben katastrophal.

Wird nicht die zutiefst peinliche Beteiligung an der Bewaffnung der IS stets auf Neue ins Gedächtnis genommen, der systematische Verrat des gesamten Westens an der syrischen Revolution erinnert, bleiben auch die Waffenlieferungen und die euphorisch kommentierten Luftschläge nur eine neue Etappe in der wahnsinnigen suizidalen und genozidalen Nicht-Strategie des Westens gegen den Islamismus.

Man hätte denken können, dass im Zustand der Totalüberwachung jeglicher Telekommunikation und Öffentlichkeit im Westen einige Informationen über konkrete Pläne und Strategien dieser islamistischen Armee gesammelt und in Aktivität umgesetzt worden wären – stattdessen gab sich die US-Regierung  ebenso wie die irakische Armee „überrascht“ von der Offensive des IS, die nunmehr auch schon Monate andauert. Die nicht aktiveren großen Medien, von deutschen Geheimdiensten und Regierungsorganen zu schweigen, schlossen sich dieser „Überraschung“ dankbar an. An der fehlenden Plausibilität solcher Überraschungei-Mentalität entzündeten sich Wahnvorstellungen bei zahllosen Verschwörungstheoretikern, die nicht glauben können, dass auf der höchsten politischen Ebene derartig barbarische Dummheit vorherrschen kann.

Über die letzten drei Jahre hinweg breitete sich kontinuierlich ein islamistisches Kalifat in Nordsyrien aus, das lediglich noch nicht als das Kalifat ausgerufen war, das es nun ist. Viel älter ist Al-Qaida im Irak, aus dem IS wesentlich hervorging und deren ganz ähnlich verlaufender Versuch der Machtergreifung im Irak halbwegs erfolgreich von US-Truppen und ihren sunnitischen Bündnispartnern abgewehrt wurde. Seit drei Jahren beobachteten Aktivisten – kurdische, syrische, westliche – die schrittweise Ausbreitung und Verhärtung islamistischer Staatenbildung, die schon immer grenzüberschreitend war und mit der Eroberung Raqqas durch die Al-Nusra-Front im März 2013 eine Hauptstadt bekam.

Die Probleme von möglichen Interventionen in Syrien waren bekannt, aber nie unlösbar. Primat für die westliche Politik hatte das politische Gesicht, das nach dem C-Waffen-Massaker an syrischen Zivilisten durch die Neutralisierung eines Gutteils der Chemiewaffenbestände Assads gewahrt werden wollte.

Putin hat den Westen in gewisser Weise vor größeren Peinlichkeiten bewahrt, die durch eine halbgare („incredibly small and limited strikes„) Intervention, wie sie Obama ankündigte, entstanden wären. Putin wurde aber durch seinen diplomatischen Erfolg – die mittelfristige Sicherung der Macht seines Waffenbruders und Geschäftspartners Assad – quasi mit Gewalt darauf gestoßen, dass der Westen nach Jahren des „War on Terror“ keinerlei strategisches Konzept hat und noch weniger Willen, tatsächlich diese Region oder irgendeine Region aktiv zu gestalten. Die Ideologie des Luftkrieges wurde durch die kurzfristigen Erfolge der Einsätze in Libyen und Mali noch einmal verstärkt. So war es fast im Sinne des Westens, dass Putin auf Assad beharrte – ohne Bodentruppen des Westens, ohne dezidiertes Konfliktmanagement hatte eine Strafaktion kaum Aussicht auf stabilisierende Effekte. Und es war ebenso logisch, dass Putin die beispiellose Chance nutzte und sein Areal auf der Krim und nun in der Ostukraine mit derselben Strategie erweiterte, die seine Medien in Syrien testeten: Die Propaganda der Terrorismusbekämpfung, des Antifaschismus, der Stabilität und die Verschwörungstheorie, dass Islamisten die Gasangriffe gestartet hätten. Nachdem diese Behauptung ernsthaft auf fruchtbaren Boden fiel, konnte er sich gewiss sein, mit jeder noch so absurden Manipulation Erfolg zu haben – so auch mit dem „Referendum“ in der Krim oder mit dem „antifaschistischen“ Kampf der Separatisten im Donbass. Die Ukraine-Krise ist ein direktes Resultat der Absenz westlicher Politik in Syrien und Irak.

Hinzu kam, dass die mit der vergleichsweise banalen Ukraine-Krise völlig überforderte westliche Diplomatie und Medienlandschaft über Monate hinweg Syrien dankbar vergaß – es war, als hätte es eine Medienzensur zu Syrien gegeben. Jeder Schritt russischer Truppen auf der Krim und im Donbass stärkte Assad, der im Schatten dieser Ereignisse ungestört mit Chlorgas und Barrel-Bombs vorgehen konnte. Die syrischen Flüchtlinge wurden im deutschen Fernsehen wie Opfer einer Naturkatastrophe präsentiert.

Eben diese Ideologie der Naturkatastrophe wird mitgeschleppt mit den neueren Statements zu den Waffenlieferungen. Ausgeblendet wird die aktive Partizipation durch Inaktivität an der genozidalen Situation in Syrien und Irak. Allein aus den USA wurden seit 2005 modernste Waffen für 8 Mrd. US-Dollar in den Irak gepumpt, während gleichzeitig US-Truppen abgezogen wurden, um der Ideologie vom angeblich „gescheiterten Irakkrieg“ des George W. Bush gerecht zu werden und vor allem, um dieses enervierend große Leck im amerikanischen Haushalt zu stopfen.

Unter den an den Irak gelieferten Waffen waren zum Beispiel M198 Haubitzen, wie sie Kämpfer des Islamischen Staates in Irak und Syrien eroberten. Diese „erreichen eine Geschwindigkeit von bis zu 6000 Metern pro Sekunde und töten ungeschützte Menschen innerhalb eines Radius von 50 Metern mit höchster Wahrscheinlichkeit und verursachen in bis zu hundert Metern Entfernung Verletzungen.“ (Quelle: Wikipedia)

Die mehreren tausend erbeuteten HMMWV mögen zwar reparaturanfällig sein, sie sind aber immer noch in Verwendung in der US-Armee und der militärische Standard. Auch wenn der Ausbau eines Motors zur Reparatur wohl mehrere Tage dauert, reichen einige Dutzend von ihnen, um hunderte von Kämpfern rasch und relativ sicher durch feindliche Linien, zumal durch schlecht bewaffnete, zu bringen. Hinzu kommen die gewaltigen erbeuteten Bargeldvorräte und geplünderte Wertgegenstände, zu denen auch antike Kunstwerke von beispiellosem Wert gehören dürften, sofern IS sie nicht schon zerstört hat.

Die Hoffnungen der letzten Demokraten im Westen sind wieder einmal naiv und auf Stellvertreter ausgerichtet: weibliche kurdische Kämpfer würden IS in die Flucht schlagen, weil deren Kämpfer nicht von einer Frau getötet werden wollten. Das dürfte eine Facebook-Ente sein. IS hat selbst Frauenbatallione und lehrt Frauen in Rape Camps das Fürchten. Die Präsenz von Kämpferinnen in der YPG war IS bekannt, die dennoch den Angriff auf die PKK-Hochburg Kobane durchführte.

Dass die Peshmerga, Kampfmacht des bislang friedlichsten Teils des Irak, eher schlecht auf die Bedrohung durch IS vorbereitet waren, wurde durch ihre Geländeverluste und die Intervention syrisch-kurdischer YPG-Truppen gegen IS-Elitegarden am Mosul-Damm in Irak sichtbar. Vormals galt dieser Teil Kurdistans als Bastion, die Peshmerga als kampferprobt gegen Saddam Hussein. Die syrisch-kurdische YPG hat ihr diesen Rang abgelaufen.

Die YPG hingegen ist und bleibt trotz aller Erfolge in der Defensive und hat es noch längst nicht geschafft, alle kurdischen Dörfer und Städte in Nordsyrien von IS zu befreien. Die PKK-nahe YPG steht für ihre totalitäre Politik in der Kritik, was Hoffnungen auf einen kurdischen Staat als „zweites Israel“ trübt – das wahrscheinlichere Szenario ist ein innerkurdischer Bürgerkrieg. Unheilige Allianzen, beispielsweise der Peshmerga mit Iran, sind Vorzeichen für eine weitere Expansion eher als für eine baldige Eindämmung des Krieges. Nicht nur für einige Berliner Antifaschisten wurde das allerdings prompt wieder zur Ausrede gemacht, sich äquidistant zu verhalten und vom Sack, in dem es wohl keinen falschen treffe, zu klagen – aus der obligaten Mahnung gegen prokurdische Euphorie wurde eine Ausrede für das eigene Wohlbefinden beim prolongierten Zusehen.

Die just beschlossenen deutschen Waffenlieferungen sind dagegen ein gutes Zeichen, man würde den Kurden zum irgendwann versprochenen fünf Unimog-Dingos auch Schützenpanzer vom Typ Marder 2 wünschen, um die selbstgebastelten Panzer zu ersetzen. Auch wenn Gabriel nun ächzt, ausgerechnet die Entscheidung, gegen einen Genozid Waffen zu liefern, sei die schwerste in seinem Leben gewesen, hat auf einer politischen Ebene der Pazifismus nicht mehr das alleinige Wort, was Christian Geyer in der FAZ unter dem etwas verfrühten Titel „Pazifismus – ein Abgesang“ verzeichnet. Die Alternative zur dringend notwendigen Bewaffnung der Kurden wurde in Deutschland gar nicht erst verhandelt – ein Bundeswehreinsatz zur Verhinderung genozidaler Akte in Irak und Syrien. Dasselbe gilt für die USA, deren „no boots on the ground“-Ideologem nach all den Opfern und im Angesicht der ökonomischen Kosten verständlich ist, aber noch lange nicht legitim. Mit ein paar Luftschlägen gegen die eigenen Waffensysteme ist wenig erreicht, der Straßenkampf in bewohntem Gebiet ist aus der Luft nicht zu gewinnen. In Deutschland schwebt über den Verlautbarungen Merkels über den Völkermord an den Yeziden und Christen im Irak auch der Hautgout der religiösen Präferenz – als Muslime von IS und Assad in genozidalen Akten umgebracht wurden, als die Kurden in Kobane von vollständiger Auslöschung bedroht waren, als kurdische Kinder in Syrien entführt und kurdische Kämpfer massenhaft geköpft und gekreuzigt wurden, hörte man nichts ähnlich drastisches. An deutschen Kirchen prangen demnach nur Solidaritätsbotschaften „mit verfolgten Christen in Syrien und Irak“.

Aus den jüngeren Genoziden zu lernen hieße zuallererst eines: Dass internationale Einsätze zu spät kommen und diese Konflikte nicht dauerhaft befrieden konnten. Soviel ist wahr am Argument gegen militärische Lösungen. Es bedarf auch eines Konzeptes und des äußersten Willens, diese Regionen dauerhaft zu gestalten, zu befrieden und zu befreien. Das ist eine Binsenweisheit aus der Counterinsurgency in Südamerika, Afrika und Asien. Solche groß angelegten Konzepte aber laufen auf die langwierige Kolonisierung auf vielen Ebenen hinaus und davor schreckt der Westen zurück. Er hängt gleichsam noch marxistischen Krisentheorien nach, dass durch Sanktionen Krisen erzeugt werden könnten, die zum Sturz der Unterdrücker führen könnten. Damit scheiterte der Westen in Irak, in Iran, in Nordkorea, in Ungarn und es wird dennoch gegen Russland wieder auf Sanktionen gesetzt.

Obamas Klage, man könne ja nicht „whack a mole“ mit Islamisten spielen, die sich erdreisten, nicht nur in Mali, sondern eben global zu agieren, blieb ohne Folgen für eine echte, ausgereiftere Strategie. Das Problem ist altbekannt aus dem Kalten Krieg. Wo der Westen aus Kostengründen oder aus diplomatischen Problemen heraus nicht in der Lage war, die Konfrontation mit Guerillas direkt zu suchen, hatte er das Instrument der Counterinsurgency genutzt – meist zum Nachteil der Gesellschaften, die in Südamerika und Asien prowestlichen faschistischen Todesschwadronen ausgesetzt waren und durch diese dann genozidale Gewalt erlitten, nicht selten schlimmere als sie die marxistischen und maoistischen Guerillas androhten. Das bedeutet aber nicht, dass das grundlegende Konzept der Counterinsurgency verloren wäre.

Heute braucht der kriegsmüde Westen dringend eine kostengünstige und engagierte Counterguerilla gegen die gar nicht kriegsmüden Islamisten unter ihrem aktuellen Franchise-Label „IS“. Kämpfer der zwar widersprüchlichen, aber immer noch existierenden FSA wie auch die YPG hätten alle Chancen, IS und Assad gleichermaßen den Garaus zu machen, wenn man ihr Luftraumdefizit mit einer Flugverbotszone austarierte. Davon aber ist seit einem Jahr nicht mehr die Rede gewesen. Die zögerlichen und sehr späten Waffenlieferungen der USA an einzelnde FSA-Gruppen sind indes noch kein eindeutiges Bekenntnis zu einer konsequenten Parteinahme.

Seit drei Jahren wurden von den meisten Staaten größere Waffenlieferungen noch an die diszipliniertesten kleineren Rebellenfraktionen in Syrien mit ihren bisweilen nur wenige hundert bis tausend Kämpfern ausgeschlossen mit dem Verweis darauf, dass die Waffen in falsche Hände fallen könnten, dass die FSA kein effektiver und berechenbarer Partner sei. Wie ernst es mit diesem Argument war, zeigte IS überdeutlich. Es war ein Vorwand.

Da hat man noch die vielversprechendsten Rebellenfraktionen, und die gab und gibt es, auflaufen lassen, zuletzt mit dem Argument, dass sie nicht groß genug seien und beklagt nun, da viele von ihnen tot, geflohen oder in Foltergefängnissen sind, über mangelnde Bündnispartner und Zwangslagen. Die hohen Standards, die an syrische Rebellenfraktionen angelegt wurden und werden, gelten aber spätestens dann nicht mehr, wenn es um die Kooperation mit Iran geht, um IS-Bastionen auszuheben oder um irakische Politik sozialverträglicher zu gestalten. In Iran läuft, unbefleckt von Völkermordvorwürfen durch Merkel, die ethnische Säuberungskampagne gegen die Bahai, gegen Homosexuelle und Opposition weiter, die meisten Gesetze, die IS in seinem Kalifat durchsetzt, sind auch in Iran in Kraft. In Nordnigeria ruft derweil die der IS vergleichbare Terrorgruppe Boko Haram ihr Kalifat aus, in Kenia bleiben die Strände leer, nachdem somalische Al-Shabab-Kämpfer  Touristen erschossen haben.

Hinter den Kulissen wird sich zumindest eine Regionalmacht langfristig in Irak und Syrien engagieren müssen: Israel. Das Programm der IS ist nicht die Emanzipation der Sunniten in Irak oder der Sturz Assads. Das Kalifat ist Mittel zum Zweck aller islamistischer Bestrebungen: Die Vernichtung des einzigen demokratischen und überdies jüdischen Staates im traditionellen islamischen Herrschaftsbereich.

„Rather, its [IS] actions  speak louder than its words and it is only a matter of time and patience before it  reaches  Palestine  to fight the barbaric jews and kill those  of  them  hiding  behind the gharqad trees – the trees of the jews.“ (Werbebroschüre des IS)

Nur hat Israel mit seiner winzigen Armee und seinen begrenzten ökonomischen Ressourcen wesentlich weniger Mittel als die NATO-Staaten. Sich von hier spontanes Eingreifen in den erforderlichen größeren Maßstäben zu erhoffen, ist müßig. Auf einen politischen Kurswechsel mit den nächsten Wahlen in den USA bestehen ebensowenig Hoffnungen. Die Tea-Party hat die Republikaner in der Mangel, die Kriegsmüdigkeit der Demokraten steigt mit der Unabhängigkeit vom arabischen Öl. Es bleibt vorerst den Kurden überlassen, den Westen gegen seine ärgsten Feinde zu verteidigen. Indes: es gibt nur wenig Hoffnung darauf, dass die Kurden die IS-Hochburgen in Syrien befreien können, nur um sich dann auch noch Assad oder Al-Nusra oder der Islamic Front entgegenzustellen. Man braucht eine internationale, hochmobile, militärisch, diplomatisch und intellektuell gut ausgerüstete Counterinsurgency gegen jegliche islamistischen Gruppierungen, die sich nicht auf das Niveau der CIA und faschisierter Folterknechte herablässt. Und es bedarf eines größeren Demokratisierungsplanes, der den Westen aus seiner elenden Langsamkeit und Defensive herausdenkt. In Wahrheit hat sich der Westen vom antiaufklärerischen britischen Kolonial-Ideologem der „indirect rule“ nie entfernt. Es ist kostengünstiger, Chiefs und Machthaber einzusetzen, die effektiv unter Wahrung der Traditionen regieren. Man will eigentlich mit den komplexen Verhältnissen auf lokaler Ebene nichts zu tun haben und erst recht nicht mit rückständigen Verhältnissen, die man mühevoll und unter Einsatz von differenzierter Kritik ändern müsste, Kritik, die am Ende im Westen selbst treffen könnte, etwa den säkularen Grundwerten selbst gerecht zu werden.

Es ist womöglich das Fehlen von bürgerlicher Ideologie, das jede Initiative gegen den Islamismus hemmt. Im Bewusstsein der Uneinlösbarkeit des eigenen Glücksversprechens, dass man den zivilisatorisch Befreite stets nur „das letzte Gute nehme und das Bessere nicht gebe“ (Adorno) florieren Relativismus, Besitzstandswahrung, Nihilismus und Verdrängung. Das fehlende Maß wird allenfalls partiell und mühsam in extremen Notständen, wie eben der akuten genozidalen Situation restauriert. Dann vermag selbst Gabriel, wenngleich mit vielen Bauchschmerzen noch zu differenzieren zwischen Peshmerga und Genozideuren unter schwarzer Flagge. Zwischen Assad und Hazzm-Movement oder YPG allerdings wird dann schon wieder nicht mehr getrennt. Da winkt man lieber mit dem Sack, in dem es keinen falschen trifft.

„Deutschland serviert“ – Nazistische Bild-Text-Kombination in der Süddeutschen

Eine Karikatur geistert durchs Netz, publiziert von der Süddeutschen. Zuerst gefunden habe ich sie bei http://twitpic.com/d0d5f1:

Die @SZ macht heute auf Stürmer in bunt: "Deutschland serviert (dem) gefräßigen Moloch" Israel.

Diese Karikatur mit so einer Unterschrift ist bösartigster Antisemitismus. Das muss jedem Redakteur heute klar sein und bedarf keiner weiteren Analyse oder Klärung. Eine Zeitung, die unkritisch so ein Bild publiziert und so untertitelt, gehört geschlossen.

Der Zeichner hat offenbar nichts von dieser Verwendung gewusst:

„Ich bin entsetzt«, sagt Ernst Kahl. Der Künstler hat durch Anrufer erfahren, dass eine seiner Zeichnungen am Dienstag in der »Süddeutschen Zeitung« in einem Kontext erschienen ist, der Dieter Graumann von »fast schon ›Stürmer‹-Niveau« sprechen lässt.http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/16410

Schlamassel Munich hat ein wenig recherchiert und dem „Stürmer von 1949“ zwei weitere antisemitische Karikaturen nachgewiesen: http://schlamassel.blogsport.de/2013/07/03/242/

Das Simon-Wiesenthal Zentrum äußert sich:

„Further, the characterization of the Jewish State as a ravenous Moloch – an idol to whom children were sacrificed – is a blatant anti-Semitic canard. The attempt to mention a Jewish critic of Israel is a failed fig leaf that neither justifies nor covers up the hate masquerading as political commentary,“ Cooper added.

http://www.wiesenthal.com/site/apps/nlnet/content2.aspx?c=lsKWLbPJLnF&b=4441467&ct=13190317#.UdPnSdiAh7O

Und derweil stellt sich Hannah Franziska Augstein, Schwester von Jakob Augstein und Tochter von Rudolf Augstein, die ein wissenschaftliches Buch über den Rassismus im 18. Jahrhundert schrieb, die Frage, ob „ein gehörntes Monster antisemitisch“ sei:

„In der Großen Konferenz der Süddeutschen Zeitung wurde heute über das Bild auf der Seite „Das Politische Buch“ diskutiert. Manche meinten, das sei geschmacklos, antiisraelisch. Andere fanden daran nichts auszusetzen.“

Offenbar geht die Courage bei denen, die das geschmacklos fanden nicht weit genug, den Hut zu nehmen. Und offenbar ist deren Kritik völlig irrelevant, solange andere daran nichts auszusetzen haben. Anscheinend hat sich auch im ganzen Produktionsprozess bis hin zum Drucker und Auslieferer keiner gefunden, der über etwas politische Bildung verfügt. Weiter schreibt Augstein:

„Ernst Kahls gehörntes, hungriges Monster hat mit den antisemitischen Klischees nichts zu tun. Man muss das Bild zusammen mit der Bildunterschrift anschauen.“

Genau das haben wir ja getan und das ist auch das Argument der Jüdischen Allgemeinen: OHNE die Bildunterschrift wäre die Zeichnung Kahls, der gerne Monstrositäten beim Essen malt, nicht antisemitisch.

Augstein erklärt uns ihre Perspektive:

„Da heißt es: „Deutschland serviert. Seit Jahrzehnten wird Israel, teils umsonst, mit Waffen versorgt. Israels Feinde betrachten das Land als einen gefräßigen Moloch. Peter Beinart beklagt, dass es dazu gekommen ist.“ Also: Nur die Feinde Israels sehen Israel in der Weise, die dem abgebildeten Monster ähnelt. Außerdem ist der Staat Israel nicht mit dem Judentum gleichzusetzen.“

Das ist eine windelweiche Argumentation, die merkwürdigerweise nie auftaucht, um den pluralistischen Charakter des jüdischen Staates Israel zu unterstreichen. Sondern ausschließlich, wenn es darum geht, Israel zu dämonisieren, ohne gleich Antisemit sein zu müssen. Besorgt ist Augstein nun allemal, aber gewiss nicht um Juden oder Israel, sondern um den schönen Artikel, der das Opfer eines Missverständnisses geworden sei:

„Nachdem das Bild aber zu Missverständnissen geführt hat, wäre es besser gewesen, ein anderes zu wählen. Denn es soll ja über den Artikel diskutiert werden, nicht über die Bebilderung. Der Text von Heiko Flottau über zwei Israel-Bücher, deren Autoren für die Demokratie in Israel fürchten, lohnt das Lesen und die Debatte.“

http://www.sueddeutsche.de/politik/bebilderung-der-seite-das-politische-buch-ist-ein-gehoerntes-gieriges-monster-antisemitisch-1.1710600

Eines kann man Hannah Franziska Augstein versichern: Es gab und gibt keinerlei Missverständlichkeiten in dieser Kombination von Untertitel und Bild. Es ist unmissverständlich antisemitisch.

Lizas Welt hat sich die Süddeutsche geschnorrt und arbeitet das Ganze nochmal am Text auf, in weitaus besserer Qualität als hier geschehen und kommt zu identischen Schlüssen:

„Was aber, wenn da jemand in Augsteins Beritt Flottaus Beitrag gar nicht miss-, sondern im Gegenteil völlig richtig verstanden, in der Bildunterschrift präzise zusammengefasst und – so viel Demagogie genehmigen sich Judenfeinde nun mal – unter hinterhältiger Instrumentalisierung eines keineswegs israelfeindlichen Künstlers pointiert bebildert hätte? Was also, wenn da jemand einfach etwas zu offensiv mit dem Common Sense der Süddeutschen Zeitung umgegangen wäre und ausgeplaudert hätte, was die »Israelkritik« in Wahrheit speist, gebe sie sich auch noch so sehr als »Furcht« um den »demokratischen Charakter Israels« aus? Honi soit qui mal y pense.“

http://lizaswelt.net/2013/07/03/das-arschgeweih-des-feuilletons/

Henryk M. Broder benennt in der Welt das Phänomen der Nichtpathologie der Antisemiten, das man genausogut „nichtantisemtischer Antisemitismus“ nennen könnte:

Aber es gibt Grenzüberschreitungen, deren Urheber so unheilbar gesund sind, dass sie nicht einmal merken, was da in ihnen rumort. Es ist der Sieg des Es über das Ich. Der Antisemit denkt nicht, es denkt in ihm.

[…] So weit wie die „Süddeutsche Zeitung“ ist bis jetzt noch keine bürgerliche Zeitung in Deutschland gegangen. In dieser Karikatur tritt „Israel“ an die Stelle des „Juden“, die „Süddeutsche Zeitung“ setzt dort an, wo der „Stürmer“ 1945 aufhören musste.

Betrifft: Polemos #5, Prodomo#17 Beschneidungsdebatte

Man kann darüber streiten, wie vergeblich die Mühe ist, Beiträge in Zeitschriften zu kritisieren, die wie ihre Tante „Bahamas“ alles, aber keine Diskussionsforen sind, und die im Zuge dessen auch keineswegs Kritische Theorie machen, sondern Publizistik.

Zur Beschneidungsdebatte, deren politisches Fazit jeden Säkularismus in Deutschland wie auch in den mit Argusaugen auf den Westen blickenden arabischen neuen Staaten auf Jahre hinweg kalt gestellt hat, muss man eigentlich nichts mehr schreiben. Gleich vier Autoren sehen sich trotzdem ein Jahr, nachdem kritische Positionierung relevant und riskant gewesen wäre, dazu gezwungen, irgendwas Äquidistantes, materialistisch angehauchtes über Recht, Staat und Nation zusammenzuzimmern. Das alles kann man selbst nachlesen, wenn man es noch der Bedeutung verdächtigt. Hier geht es nur kurz um das gröbste Missverständnis, das jenseits der Beschneidungsdebatte relevant ist, weil es einen grundfalschen Begriff von Psychoanalyse voraussetzt:

Dies geschah ungeachtet des Umstands, dass der Islam im Verlauf der Diskussion auch von den Beschneidungsgegnern immer wieder dafür gelobt wurde, dass die Beschneidung hier relativ spät vorgenommen wird und man sie vielleicht nur noch ein paar Jährchen weiter zu verschieben bräuchte, damit sie der Forderung genüge trage, die Beschneidung in einem Alter freier Entscheidungsfähigkeit durchzuführen.

Dass allerdings eine bereits entwickelte Reflexionsfähigkeit und gemachte Schmerzerfahrungen eine Beschneidung in höherem Alter verglichen mit einer im Säuglingsalter durchgeführten ungleich angstvoller und damit auch schmerzhafter machen, liegt jedoch auf der Hand (5).

Anders als bei der jüdischen Beschneidung des Säuglings dürfte die Beschneidung nach dem einmal entfachten ödipalen Konflikt ihrerseits direkt durch die dann mit einer Beschneidung unvermeidlich einhergehende Kastrationsdrohung motiviert sein. Bei der Säuglingsbeschneidung müsste die Kastrationsangst allerdings ausbleiben. (Leo Elser, Polemos #5)

In der Fußnote heißt es:

Nicht bestritten ist damit, dass auch Säuglinge Schmerzen empfinden können. Schmerzen sind aber ihrerseits immer auch durch Individualität und Erfahrung vermittelt, weshalb sich die Qualität des Schmerzes nicht rein empirisch (z.B. durch Beobachtungen der Gehirnströme o.ä.) feststellen lässt.

Wir wissen nicht, welche Säuglingsforschung Elser hier einbezieht, und müssen uns wie er auf das Moor der Einfühlung, der Introspektion und Logik wagen. Elsers Herleitung lautet:

Kastrationskomplex plus Beschneidung ist gravierender als Oralität plus Beschneidung. Warum? Weil „mehr Individuum“, „mehr Reflexion“ möglich sei, also „mehr Angst“, bzw. qualitativ anderer Schmerz.

Das beinhaltet eine Verkehrung der psychoanalytischen Befunde, dass alle Erfahrungen auf früheren aufruhen, durch diese hindurch gefiltert werden. Der Säugling ist nicht einfach weniger erfahrungsfähig als das Kleinkind, sondern die Erfahrungen des Säuglings sind essentieller Grundstein der Erfahrungswelt des Kleinkindes, Störungen in der oralen Phase wirken auf das Gelingen beispielsweise der Triangulierung zurück. Wenn ein Säugling am 8. Tag seines Lebens unsägliche Schmerzen erleidet, die ihn in die Schockstarre zwingen, dann hat er nach diesem Tag bereits ein Achtel seines postnatalen Lebens Schmerzen erlitten und kann noch nicht einordnen, ob diese jemals wieder aufhören werden, er muss auch befürchten, diese jederzeit wieder zu erleiden. Erst im Lauf der Zeit lernt der Säugling, Versagungen zu tolerieren und Triebregungen aufzuschieben oder zu sublimieren. Das junge Kind kann bereits symbolisieren, er kann einordnen und er kann auch getröstet werden durch Sublimierungen und die Versicherung, dass es nun eben vorbei sei. Das bedeutet: Die Beschneidung im Säuglingsalter ist keineswegs weniger angsterzeugend als die im Knabenalter.

Noch falscher ist, durch die frühe Beschneidung nicht den Kastrationskomplex aktualisiert zu sehen oder wie Niklaas Machunsky in islamische Beschneidung als Inzestverbot und jüdische Beschneidung als Unterwerfung unter ein Gesetz zu trennen. Würde man diese doch sehr naive Auffassung wirklich zu Ende denken, wäre zuerst einmal der gesamte Kastrationskomplex des Mädchens hinfällig. Das ist bekanntlich gar nicht kastriert, missversteht sich aber genau so und beschuldigt die Mutter für den vermeintlichen Defekt oder vermutet eine Strafe für eine unbekannte Tat.

Der beschnittene Junge wird jedoch darüber hinaus immer ein Bewusstsein davon haben, dass er tatsächlich eine Narbe trägt, dass er in einer grauen Vorzeit für irgendein ihm unbekanntes Vergehen kastriert wurde. Spätestens bei der Beschneidung von Brüdern, Söhnen oder anderen Verwandten wird diese Frage akut. Nicht zu wissen, wer dieser unbekannte Kastrator war, wofür man bestraft wurde, das dürfte dann doch ungleich angsterzeugender sein, als eine Konkretion der Ängste vor sich zu sehen, die man wenigstens Zeit seines Lebens hassen darf. Die Konkretion von Ängsten wurde übrigens in der psychoanalytischen Märchenforschung Bettelheims respektabel, unter der logischen Voraussetzung, dass sie im Märchen auch bleibt.
Auch die jüdische Beschneidung ist gegen den Inzest gerichtete Kastrationsdrohung. Gesetz als psychologische Instanz, als gesellschaftlich sanktioniertes Über-Ich ist gemeinhin in der Psychoanalyse gar nicht denkbar ohne die Internalisierung der kastrierenden Vater-Instanz.

Das Judentum als religiöser Kanon beinhaltet immerhin einige Regelungen, die zumindest nahelegen, die aggressiven Aspekte des Rituals weitgehend in den Schein der Zärtlichkeit, der Integration und der Homoerotik zu kleiden.  Das entspricht der Doppelgestalt aller Beschneidungsinitiationen, wie sie Theodor Reik beschreibt: homoerotische Zärtlichkeit und Aggression/Kastration. Es bleibt aber intendiert als aggressiver Akt, als verstümmelnde Kastration, die sich spätestens dann als Traumatisierung ausweist, wenn sie um jeden Preis am eigenen Kind wiederholt werden muss. Dem wirklich komplizierten Sachverhalt stellen sich alle Autoren nicht oder allenfalls als Illustrationsmaterial elegischer Staatstheorien: Dass die Beschneidung nun einmal archaisch und barbarisch ist, obwohl genau das die Antisemiten den Juden als Wesenszug anlasten – natürlich nur, um im zweiten Atemzug die modernsten Errungenschaften wie gerade den bürgerlichen Rechtsstaat als jüdische Erfindung zu verdammen und sich  mit Tradition und Barbarei zu identifizieren.

Jan Huiskens begründet in der Prodomo mit viel Adorno, Marx und Schmalz,  „warum außerdem die Juden mitsamt ihren Bräuchen gegenüber allen „Kinderschützern“ und sonstigen Staatsfetischisten verteidigt werden müssen.“ Das ist martialischer Heroismus, der hohl klingt, weil er längst mit dem staatlichen Konsens konform geht. Die selbsterklärte Avantgarde der Kritischen Theorie folgt damit den poststrukturalistischen Beschneidungsverharmlosern, sie gibt sich lediglich etwas mehr Mühe, Adorno selektiv zu lesen und Staat raffiniert, aber ganz undialektisch von Gesellschaft zu trennen, was ihnen darauf hinausläuft, im Recht des Kindes gegen das Kollektiv den Volksstaat der Nationalsozialisten zu bestimmen. Das setzt zwar ganz hahnebüchene Relativierungen und Kategorienfehler voraus, weist aber ebensowenig Empathie für jüdische oder muslimische Kinder auf wie die Gesetzgeber.

Jan Gerber hat in seinem eigenwilligen Beitrag leider auch nicht viel Bereicherndes hinzuzufügen, er wiederholt eigentlich das prüde Ressentiment gegen das historisch vermutlich erste, wenngleich reichlich verkrampfte gesellschaftliche Gespräch über die Verwundbarkeit männlicher Genitalien:

Aller Rhetorik vom Wohl der Kinder, den „Lehren aus der Geschichte“ oder dem säkularen Staat zum Trotz war die Beschneidungsdebatte damit vor allem eins: die publizistische Variante eines traditionellen Schwanzvergleichs. (Jan Gerber, Polemos #5)

Man fragt sich, warum er trotz dieser Einsicht daran teilnimmt.

Der ewige Trauma

Der Spiegel ließ in der Ausgabe 8/2013 eine tendenziöse Rezension der israelischen Dokumentation „The Gatekeepers“ mit einem Zitat eines ehemaligen israelischen Shin-Bet-Chefs einleiten: „Wir sind ein grausames Volk geworden.“ Das klingt in Deutschland, dem Land der Ritualmordlegenden, gleich doppelt fetzig: ein Kronzeugenzitat mit israelischem Persilschein und allem Geheimdienst-Pipapo.

Fürs neue Cover (13/2013) genierte dann wirklich nichts mehr. „Das ewige Trauma – Der Krieg und die Deutschen“. Ein mitleidserweckend zersauster Soldat blickt uns klagend an, hinter ihm ein Flüchtlingsstrom und, Kitsch komm raus, das Brandenburger Tor, um wirklich sicherzustellen, dass hier Deutsche nach Deutschland fliehen und nicht etwa Juden nach Shanghai. In der unteren Bildhälfte dann Farbe: Ein Foto, das aus der Ferne betrachtet vormarschierende GI-s zeigen könnte, ein Blick ins Heft legt aber nahe, dass es Bundeswehrsoldaten in Afghanistan sind. „Verwundete Nation“ titelt ein Beitrag im Heft: „Immer wieder arbeiten die Deutschen das Trauma der NS- und Kriegszeit neu auf – und bleiben eine verwundete Nation. Der Psychiater Hartmut Radebolt analysiert das „Erschrecken über uns selbst“.“ Dann noch einmal: „Die Wunde der Vergangenheit“ als Schlagzeile.

Was soll aber am Trauma ewig sein in einem Land, dem Franz Josef Strauss 1969 versicherte: „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Ausschwitz nichts mehr hören zu wollen?“ Zur selben Zeit, in dem der erste und einzige Aufstand gegen die ungebrochene nazistische Hegemonie in der Demokratie von ein paar tausend pubertierenden StudentInnen organisiert werden musste? Ein aktueller FAZ-Leserbrief beklagt, dass vor allem Deutsche Opfer der Nazis gewesen seien, eine Verwandte sei als Krankenschwester an die Front versetzt worden, weil sie gegen Euthanasie war. Wenn das so massenhaft so war, dann wundert doch die friedliche Stille und Eintracht sehr, in der Deutschland über 20 Jahre lang wieder aufgebaut wurde. Nota bene, damals waren weite Teile beispielsweise des hessischen Landtags in der NSDAP gewesen, inklusive Justizministerium, weite Teile der Bürokratie wurden niemals entnazifiziert, Grundstein für den späteren Erfolg der nationalsozialistischen Terrorwelle. Paradox war: Schuld im eigentlichen psychologischen Sinn empfanden fast ausschließlich Opfer und jene, die gescheitert waren in ihren mal verzweifelten, mal dilletantischen Versuchen des Widerstandes. Hätte Strauss gewonnen und wären die pubertierenden Studierenden nicht irgendwann doch erwachsen und mitunter erschreckend kompromissbereit geworden, man könnte noch viel ungestörter die traditionelle deutsche Wundversorgung betreiben: Kriegerehrenmäler, Kameradentreffen, SS-Vereinsabende.

Überlebende Altnazis und Opfer heute wissen genau, was sie mit dem „ewigen Trauma“ assoziieren sollen: den NS-Propagandafilm „Der ewige Jude“. Und genau auf diese den meisten wohl eher unbewusste Assoziation baut der Spiegel-Titel: Das „ewige“, weil narzisstische Trauma ist den Deutschen „der ewige Jude“, jene Juden, die als Überlebende und Nachkommen an die Verbrechen, zumindest aber an Feigheit, Mitmachen, Zusehen erinnern.

Im Spiegel heißt es auch nicht „Die Deutschen und der Krieg“. Das würde Kriegsschuld suggerieren. „Der Krieg“ ist vorangestellt, um die Suggestion von etwas äußerlichem, abstrakten zu bewahren, das unter anderem eben auch über die Deutschen gekommen sei und von dem sie sich immer noch nicht erholt hätten. Die beschworene Wunde erscheint nun nicht bedrohlich, weil sie die paradoxesten Reaktionen inklusive für alle möglichen Minderheiten bedrohlichen Wiederholungszwang zeitigt, sondern weil sie angeblich heute die gebotene Effizienz der Bundeswehr blockiert, die ausnahmsweise Demokratie und Freiheit verteidigen sollen. Dieser Effizienzverlust durch nationales Trauma schadet also wiederum nur: den Deutschen.

Das neueste Cover ist sicher kein Testballon und keine Aberration. Der Spiegel ist spätestens seit der Augstein-Affäre auf Trotz-Kurs und muss sich in jeder Ausgabe seiner neuen, selbsterteilten Definitionsmacht über den Antisemitismus vergewissern. Das Cover ist Ausdruck eines kühlen, marktorientierten Opportunismus, der mit viel bewährtem Schmalz und ins Detail berechneter und erprobter Manipulation die bestehende Popularität einer Fernsehserie ausbeutet. Die explizite Botschaft, dass man sich offenbar für gar nichts mehr schämen muss und damit ökonomisch (und militärisch) Erfolg haben wird, das vereint Spiegel und Strauss. Verwandt ist das allemal mit der Auslöschung jedweden rationalen und irrationalen moralischen Bedenkens durch den berüchtigten nationalsozialistischen „Anstand“: Dass man wie Himmler die Erschießungsgräben besichtigt und hinterher meint, „anständig“ geblieben zu sein, was für Himmler bekanntermaßen bedeutete, ein paar Schwindelanfällen wegen der vielen Leichen getrotzt zu haben.

„Verbrennt sie alle!“ – „Hänsel und Gretel: Hexenjäger“ als zynische Exploitation

„“Hansel & Gretel: Witch Hunters“ has a lock on No. 1 at the box office with an expected opening of about $30 million, according to people who have seen pre-release audience surveys.“ (LA-Times)

Das Märchen von Hänsel und Gretel wurde mitsamt einigen anderen von den Alliierten nach dem Krieg verboten. Es stand unter Verdacht, die Fixierung der Deutschen auf die Verbrennung von vermeintlichen Bösewichtern aus der vor allem in Deutschland grassierenden Hexenjagd des 16. und 17. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert hinein konserviert zu haben. In den Öfen von Auschwitz kehre nur zu deutlich das Märchenmotiv wieder, das Faible der Nazis für romatische Märchen war evident. Die temporäte Identifikation mit den Hexen als vermeintliche germanische Urreligion vollzog der Okkultist Himmler, er wollte den Juden die Hexenjagden unterschieben und arbeitete dabei schon selbst am monströsen Autodafé, dem Holocaust. Ob Juden nun zu Hexen oder Hexenjägern oder beidem gleichzeitig erklärt wurden, der Kontext der Hexenjagden ist für den Nationalsozialismus erheblich. Spätestens in den 1950-ern wurde aber schon wieder munter das Volkslied gesungen von Hänsel und Gretel, die die böse Hexe in den Ofen stoßen: „Die Hexe musste braten, die Kinder gehn nach Haus.“ Dazu wird dann oft noch ein Kindergartentheater aufgeführt, in dem die Hexe dann jämmerlich kreischen muss zum Beifall der Kleinen. Wenn Kinder Märchen brauchen, dann sicher nicht dieses.

Der Splatter-Kracher aus dem Hause Paramount Pictures langweilt nicht nur durch flache folienhafte Durchführungen bekannter Genre-Elemente – das ist schon hinreichend dem Trailer zu entnehmen, der als eigenständiger Kurzfilm gelten kann. Dass Splatter auch reflektiert, spannend, ironisch, lustig und politisch sein kann, beweist Tarantino mit „Django unchained“. „Hänsel und Gretel“ aber entbehrt jeden Schuldgefühls, jeder Reflexion auf irgendeine Problematik, jeden Intellekts.  Wenn da Hänsel vom Leder zieht: „Ich aber sage: Verbrennt sie alle!“ dann sollte dieser gezielt installierte pseudoironische Radikalismus Angst erzeugen. Dieser Film meint exakt das, was er sagt. Das Böse wird hier vollständig rein dargestellt, eine Technik, die extremsten unreflektiertesten Sadismus erlaubt und überaus anfällig ist für Rassisierungen. Das Problem ist nun, dass dieses hier im Film vorgestellte Böse nicht auf einer symbolischen Ebene stattfindet.

Hexenjäger in unterschiedlichen Stufen der Grauamkeit sind Realität in weiten Teilen der Erde. Sie werden unter anderem inspiriert von Filmen. Zwar wird zwangsläufig eine Trennung im durchschnittlichen afrikanischen Publikum vollzogen: westlichen Special-effects wird eine andere Botschaft zugeteilt als den afrikanisierten, die als dokumentarisches Abbild der okkulten Vorgänge gelten. Dennoch ist die Wirkung eines solchen Filmes auf ein zutiefst hexengläubiges Publikum abzusehen, wie es ja auch in den pfingstkirchlichen und volkstümlichen Teilen der westlichen Religionsangehörigen millionenfach präsent ist.

In Nordghana berichtete mir eine Frau, wie man ihr eine Nadel längs in den Finger trieb, um von ihr ein Geständnis zu erwirken. Andere wurden mit Dornen oder Lastwagenkeilriemen ausgepeitscht, man zerschmetterte ihre Fußgelenke mit Steinen oder Hämmern. Wenn ein westliches Publikum heute johlend sich über visualisierte Gewalt an „Hexen“ aufreizt und eine gänzlich unreflektierte Werbesprache das auch noch überall als Kurzweil anpreist, dann widert das an in einem unbeschreiblichen Maße.

„Hänsel und Gretel“ ist offensichtlich nicht nur faschistoid in seinen unironischen Rechtfertigungsmustern von Gewalt, den kalten Identifikationen mit Steampunk-Waffentechnik, die schon das nachgeordnete Computerspiel andeuten. Das ohne jeden echten Witz stattfindende Abfeiern der Gewalt gegen ein böses mythologisches Konstrukt ist im Kern ein nationalsozialistisches. Die unbewussten Nazis weltweit werden mindestens beim Konsum des Trailers im Geiste „Hexe“ und „Jude“ gleichsetzen und die Botschaft „Verbrennt sie alle!“ mit nach Hause nehmen. Den besonders eifrigen Exekutoren bietet man schon „Spiele“ an, in denen Kinder vor herbeifliegenden Hexen geschützt werden sollen. Das verkrampfte Understatement, man glaube ja sicher heute nicht mehr an so etwas, und deshalb dürfe man ja wohl noch gerade so etwas mimetisch nachspielen, ist schon die Schlussstrichmentalität des Postnazismus.

Der nette kleine Handala

„Der Palästinenser Naji al Ali gilt als einer der einflussreichsten Künstler des letzten Jahrhunderts und ist für viele eine große Inspiration. Als die wichtigste von ihm geschaffene Figur gilt Handala, die dem Leser immer den Rücken zuwendet. Handala ist barfuß und trägt geflickte Klamotten. Er ist ein kleiner Junge aus einem palästinensischen Flüchtlingslager. Zusammen mit den Lesern betrachtet er die Erlebnisse seines Volkes, die Naji al Ali in stark symbolischen Bilder gezeichnet hat. Der palästinensische Autor Amer Shomali erinnert sich, dass er als Kind in den Bildern von Naji al Ali zum ersten Mal Blut sah. Schwarzes Blut, da al Ali nur in Schwarzweiß malte. Durch diese Bilder lernte auch der jordanische Künstler Mike V. Derderian, dass Comics viel mehr sein können als Unterhaltung.“ (Quelle: Goetheinstitut: 1)

Ein Kind als Comicfigur, wer könnte da Böses vermuten. Kinder sind ein narzisstischer Spiegel von Reinheit, Unschuld, Omnipotenz und Weisheit. Daher eignen sie sich auch perfekt zur Immunisierung von Propaganda gegen Kritik. Handala, das ist die Figur eines ewigen Zehnjährigen, der den Betrachter über seine Schulter blicken lässt. Diese altbekannte Technik adaptiert die Bildsprache der Romantik. Caspar David Friedrichs Gemälde machten die Rückenansicht populär, Sehnsucht und Identifikation als Ausdruck einer im bildlichen Sinne rückwärtsgewandten Epoche.

Was für Szenen halluziniert dieser Junge Handala nun seinen Zuschauern vor? Zum Beispiel folgende: die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem vor schwarzem Himmel, aus dem Wolken von Fallschirmjägern fallen. Einer tritt bei der Landung einen unbewaffneten jüdischen Soldaten ins Gemächt. Der geht zu Boden, seine Hakennase entsetzt auf das Sturmgewehr des grimmig dreinblickenden Überwältigers gerichtet. (2)

Oder: einem mit enormer Hakennase ausgestatteten Schneckenwesen mit Davidsstern, feist grinsend, geben zwei weitere Schnecken die Hand, sie sollen Palästinenserführer symbolisieren. Denen tippt ein Mann auf den Kopf, seine Faust droht durch den offenen Hosenlatz. Sicher keine Aufforderung zum Dialog. (3)

Einem am Boden liegenden ausgemergelten Mann zeichnet Naji al Ali Operationsnarben auf den Leib, dort, wo vielleicht lebenswichtige Organe waren. Die Narben bilden einen Halbmond und ein Kreuz. Davidssterne erfüllen den Hintergrund. Wohl kein Verweis auf die Organtransplantationen, die Arabern in israelischen Krankenhäusern das Leben retten, eher ein Zitat der gebräuchlichen Modernisierung der Ritualmordlegende zur antisemitischen Organraublegende. (4)

Der Versuch, das islamisch-christliche Bündnis gegen den jüdischen Staat zu installieren findet sich in zahlreichen weiteren Karikaturen. Ein israelischer Jet wirft eine Bombe auf eine weinende Taube mit Ölzweig, wie zufällig ragt ein aus Trümmern herausgebrochenes Holzkreuz aus blutenden Leichen hervor. (5) Jesus himself wirft Steine vom Kreuz herab, (6) schaut neben dem Halbmond auf eine palästinensische Mutter mit weinendem Kind herab, (7) trägt den Schlüssel des Rückkehrrechts um den Hals. (8)

Überhaupt dieser Schlüssel. Er ist das wohl häufigste Symbol auf palästinensischen Karikaturen. Symbolisieren soll er das Rückkehrrecht. Und das ist die codierte Forderung nach der Vernichtung Israels. Dafür steht folgende Karikatur: Einer naiv und gutmütig dreinblickenden Schnecke ragt ein Geweih aus Richtungspfeilen aus dem Kopf. Die richtige Richtung gibt Handala vor: er zeigt auf eine Karte eines von den Karos des Palästinensertuchs ausgefüllten Gesamtisraels. (9) Vernichtungswünsche sind dem Kind offenbar nachgesehen: Mit Steinen wirft Handala auf eine israelische Fahne, die zwischen den Steinen entstehenden Funken entzünden sie. (10)

Mütterchen Palästina und ihre Tochter hingegen haben in der Erde Wurzeln geschlagen. Sie reichen dem kleinen Handala die Steine, mit denen er gegen den Willen von offenbar verweichlichten Nacktschnecken Steine wirft auf einen nackten Juden. (11) Es fehlt auch  nicht das jüdische Spinnennetz (12), das hier die UN-Resolution 242 (Forderung nach Rückzug hinter die Grenzen von 1969) wirkungslos macht. Ebenfalls diese 242 zeichnet eine Tube, auf der Handala herumtrampelt. Heraus kommt eine mit Davidssternen gezeichnete Schlange. (13) Frau Palästina tritt auch gerne mal zu, hier dem israelischen Soldaten in die Genitalien. (14) Oder sie lehnt keusch den ihr von einem lüstern hinter ihr herhumpelnden Juden angetragene freizügigen Badeanzug mit Davidssternen ab. (15) Was dem jüdischen Soldaten gefallen würde, malt ein hier zuletzt zitierter Cartoon aus: Vor seinen Augen tanzt eine Frau im Bikini, als Hut trägt sie den abgeschlagenen Kopf eines Fedajin. (16)

Fassen wir noch einmal die Welt aus der Sicht des kleinen Handala zusammen: Juden sind für ihn feist grinsende, hakennasige, ölhungrige Folterbuben, die palästinensischen Frauen hinterhersteigen, Moscheen zerstören wollen und den lieben Herrn Jesus nicht einen guten Mann sein lassen wollen. Dann gibt es in Handalas Welt palästinensische Nacktschnecken, die nur verhandeln wollen, nicht wissen wo es langgeht und im Zweifelsfall den Widerstand verraten. Für Handala achtbare Autoritäten sind kampfbereite Männer und Kinder, die mit Steinen, Bomben und Patronengürteln den jüdischen Soldaten Angst einflößen. Für den Boden und die Kampfmoral des kleinen Handala zuständig sind palästinensische Frauen und Mädchen.

Jedem, der einmal einen Blick auf Stürmerkarikaturen geworfen hat (17), wird die inhaltliche Nähe der gesamten Symbolik ins Auge springen. Wo Juden zu gering geschätzten Tieren gezeichnet werden, bereitet man schon ihre Vernichtung vor. Die unterstellten ökonomischen Motive, der ihnen eingezeichnete fröhlich-feiste Sadismus, (18) das sind reine Projektionen der Motive der Antisemiten. „Stark symbolisch“ ist das fürwahr, aber nicht schwer zu entschlüsseln. Diese Cartoons zelebrieren die Vernichtung Israels, stacheln die nie aus Israel geflohenen Flüchtlinge ebenso wie ihre aus unterschiedlichen Gründen von dort geflohenen Großeltern dazu auf, ihr primär in den arabischen Staaten verursachtes Elend den Israelis anzurechnen. Eigenverantwortung gibt es nicht in den Bildern, nur ödipale Aggression und Kastrationsängste und – wünsche, abgemischt mit einer guten Portion christlichen Antisemitismus. Nur logisch, dass dieser Junge nicht heranreift – seine infantile Daseinsform steht für die, in der jene palästinensischen Organisationen ihre Klientel halten wollen, die das „Rückkehrrecht“ ernsthaft als Forderung vertreten. Emanzipation wird den Palästinensern in den arabischen Staaten seit je und auf absehbare Zeit vorenthalten, in der antisemitischen Hoffnung, die so Aufgehetzten irgendwann doch siegreich in den jüdischen Staat einfallen zu lassen.

„Blut muss fließen – Undercover unter Nazis“ – Filmkritik

Ein ausverkaufter Cineplex-Saal: Das Interesse ist groß an der investigativen Recherche Thomas Kubans unter der Regie Peter Ohlendorfs. Der unbestritten pädagogisch wertvolle Film wurde für die Verhältnisse passabel durchgeführt, weist aber auch einige unnötige narzisstische Überhöhungen und Ungereimtheiten auf.

Das Projekt wird als einzigartige Pionierleistung vorgestellt. Hier entsteht der Verdacht, ob das nicht als sehr bewusster Affront gegen die Antifas inszeniert wird. Die nämlich wird mit keinem Wort erwähnt, obwohl sie seit Jahrzehnten die einzige gesellschaftliche Kraft darstellt, die nennenswert engagiert brisantes Material zum Neonazismus zusammengetragen hat: unter erheblichem Risiko, nicht nur von Nazis, sondern auch von der Polizei und von Staatsanwälten verfolgt zu werden. Professionelle Antifaschisten werden daher nur ein müdes Lächeln für den behaupteten „Neuigkeitswert“ der Beobachtungen übrig haben. Kuban lässt sich immerhin dazu herab, drei antifaschistische Hacker zu interviewen und ihm ist gerade da die konsequente Anonymisierung in Bild und Ton und Inhalt hoch anzurechnen: das ist selten im medialen Betrieb. Auch ein antifaschistischer Rechtsrock-Plattensammler kommt zu Wort, einige andere Experten. Was es aber bedeutet, in den national befreiten Zonen tatsächlich Antifa-Arbeit zu leisten, das verschweigt der Film in seiner Selbstglorifizierung des vermeintlich notwendigen Undercover-Einsatzes.

Stärke und Inhalt der neonazistischen Bewegung sind seit Jahrzehnten bekannt und beobachtet, sie meldet sich selbst zu Wort in Wort und Bild und brüstet sich online auf allen Foren mit entsprechenden Veranstaltungen, Filmchen von Wehrsportübungen, Happy Slappings und Flash-Mobs. Sie sind längst vom Exotismus des Dokutainments entdeckt worden. Die Konspirativität eines harten Kerns zu durchdringen erfordert zweifellos riskantes und nervenaufreibendes Engagement. Hier stellt sich die Frage, ob Kuban im Verschweigen der krypto-ethnographischen Methodologie nicht Nachahmer mit falschen Erwartungen füttert. Im Film erscheint er problemlos als ewiger Vereinzelter, der weder Konversationen unternehmen muss, noch sich an den kollektiven Hitlergrüßen beteiligt. Anscheinend kann man nach ein paar Hürden recht problemlos ohne je mit Fragen belästigt zu werden auf Rechtsrockkonzerte gehen. Es mag sein, dass das Buch zum Film hier mehr Auskunft gibt.

Gesellschaftliche Entstehungsfaktoren des Nazismus schrumpfen im Film auf Krise und Musik zusammen. Die Krise hätte soziale Institutionen im Osten erodiert und diese Musik würde nun mal jede Botschaft ins Gehirn hämmern können. Dass dieser „Rock“ so sehr zieht dürfte eher umgekehrt erklärbar sein: Solche Musik richtet ihre Radikalität nach den Inhalten und kein Nazi-Metal-Hörer kann behaupten, er hätte bei so einer Musik ein zartes Liebeslied als Inhalt vermutet. Nach kulturindustriell prämanipulierten Bedürfnissen nach konformistischen Revolten fragt der Film aber nicht, lediglich an einer Stelle demontiert er seine Hauptthese, als Nazis zu Discomusik Polonaise tanzen. Der Dub des Nationalsozialismus dröhnt nicht nur im Nazi-Metal, er swingt zu Volksliedchen und den Jamben eines Günther Grass, er kann zu den Klängen der Tagesschau rappen wie auch zu den jazzigen Rhytmen einer Truther-Ska-Band.

Wahlweise wird vom Film auch die Untätigkeit von Polizei und Innenministerium kritisiert – zu Recht, aber zu kurz. Denn auszugehen ist längst nicht mehr nur von Unwissenheit, sondern von Unterwanderung – die Kuban für Norditalien und Ungarn sehr viel deutlicher anspricht. Das Überdauern des Nazismus in deutschen Institutionen ist für Ministerien, für Bundeswehr und Polizei und für den Verfassungsschutz hinlänglich erforscht worden. Was für eine Massenwirkung die Straflosigkeit des grauenvollsten Massenmordes in der Menschheitsgeschichte hat, die fortgesetzte Straflosigkeit seiner Verherrlichung lässt sich schwer darstellen. Zu zahlreich sind die Facetten dieser Straflosigkeit, als dass man sie auf den Hitlergruß reduzieren könnte. Nur eine kleine Faser des Ganzen ist etwa, dass eine rotgrün regierte „Universitätsstadt“ wie Marburg an kriegsverherrlichenden Kriegerdenkmälern jedes Jahr opulente Kränze ablegen lässt.

Krise, so erklärt Ohlendorf am Ende im Publikumsgespräch, sei eben ausgelöst durch Nadelstreifen-Anzugsträger, die Investmentbanker, dafür erhält er dann auch Applaus. An allem schuld sind also die Investmentbanker. Man könnte da einiges über strukturellen Antisemitismus räsonieren, es reicht aber schon darauf zu verweisen, dass Neonazi-Szenen im baden-württembergischen Wohlstandsbauch Europas fett werden. Das erklärt sich nicht aus schlechter Infrastruktur oder Plattenbauten. Hier wie dort sind Altnazis das Standbein, eine beinharte Tradition nationalsozialistischer Gesinnung IN den Institutionen und nicht abseits davon.

Wesentlich relevanter aber dürfte das größte vom Film verschwiegene Moment des modernen Nazismus sein: der Hass auf Israel. In eben den Schulen, die den Film nun zur Aufklärung bestellen, kursieren Schulbücher, in denen Geschichtsfälschungen ein kollektives antisemitisches Grundressentiment gegen Israel unterfüttern, gestützt vom common sense in Tageszeitungen und Fernsehen. Im Film gezeigt wird ein archaischer, noch fast vorchristlicher Antisemitismus der Barbaren, die aus unbestimmten Gründen etwas gegen Juden haben wollen. Dieses genozidale Ressentiment hält sich aber in ideologische Netzen auf, deren Hauptfäden die gesellschaftlich respektierliche antiisraelische Hetze sind, die ewigen dümmlichen Konkretisierungen von vermeintlichen Krisenauslösern, der eklatante Antipsychologismus, die von Tätern bereinigten Filmchen über den Nazismus, die generelle Verdummung im Zeichen kulturindustriellen Massenbetrugs.

Das letzte kritikable Moment: Suggeriert wird eine Überbewertung des Islamismus durch den Verfassungsschutzbericht und durch Journalisten. Gerade hier könnte der Film gründlicher arbeiten und herausstellen, welche Finanzierungsnetzwerke von Neonazis und Islamisten geteilt werden, wo ideologische und personelle Überschneidungen bestehen, wo die Trainingslager geteilt werden – stattdessen entsteht doch der Eindruck des Ausspielens. Das ist insofern Unfug, als Norwegens und Schwedens Juden nicht wegen der dort ansässigen Hardcore-Naziszene das Land weitgehend verlassen haben, sondern wegen dem flächendeckenden Bündnis von sozialdemokratischem und islamischem Antisemitismus.

Wenn insbesondere junge Leute in diesem Film einmal leibhaftige Blood-and-Honor-Nazis sehen, verabscheuen und als Bedrohung erkennen lernen, so ist das schon ein Fortschritt. Leider entsteht im Film doch der Eindruck einer klar begrenzbaren kriminologischen, polizeilichen und zivilgesellschaftlichen Herausforderung. Das suggeriert der Film vor allem am Beispiel Kirtorfs. Dort sei eine nazistische Szene durch die hartnäckige Arbeit einiger weniger Aktivisten ausgetrocknet worden. Das bürgerliche Engagement war unbestritten bemerkenswert. Aber auch hier wird geschwiegen von der Antifa-Arbeit, die öffentlich Druck machte, die 2004 noch vor dem Eingreifen von Polizei und Bürgern in Kirtorf, Gladenbach und Marburg Demonstrationen organisierte – von denen eine in Kirtorf verboten wurde.

Rezension: „Der ewige Sündenbock – Heiliger Krieg, die ‚Protokolle der Weisen von Zion‘ und die Verlogenheit der sogenannten Linken im Nahostkonflikt“

Bislang sind gut gearbeitete Bücher über den sogenannten Nahostkonflikt auf dem deutschsprachigen Markt rar. Broders „Der ewige Antisemit“, Küntzels „Djihad und Judenhass“, Gremlizas „Hat Israel noch eine Chance, Giniewskis „Das Land der Juden“ und einige wenige mehr mussten bislang ausreichen, um der Flut an plumpen Medienfälschungen und Propaganda bis in die Schulbücher hinein etwas entgegenzusetzen.

Tilman Tarachs Werk schafft es, ohne große Wiederholungen in die Geschichte und Struktur des Antisemitismus einzuführen und zugleich in den spezifischen Feldern über die genannten Werke hinaus zu verweisen. Methodologisch arbeitet Tarach wissenschaftlich und präzise, er belegt brisante Befunde in aller Regel mehrfach, lediglich an wenigen nebensächlichen Thesen wünscht man sich mitunter einen etwas ausführlicheren Faktencheck. Vier zentrale Diskurse greift Tarach auf:

1. Hitler und die Nationalsozialisten waren die Ur-Antizionisten, sie bekämpften den noch entstehenden Staat Israel und entsandten bereits erprobte Massenmörder zur Endlösung der Judenfrage in Palästina. Sie beherbergten, assistierten und bezahlten den palästinensischen Großmufti und SS-Offizier Al-Husseini üppig und bis zuletzt für den antijüdischen Krieg und für die Aufhetzung der Muslime. Der Großmufti und seine Bedeutung für die Faschisierung der muslimischen Araber in Palästina und weltweit ist zwar durch Küntzels Arbeit bereits bekannter geworden, Tarach liefert allerdings noch reicheres Quellenmaterial aus Nazi-Akten und ausführlich zitierten zeitgenössischen Dokumenten, mit denen er die genozidale Gesinnung und Praxis des Großmufti belegt.

2. Die Palästinenser werden nicht in Israel, sondern von islamisch-arabischen Potentaten unterdrückt und diskriminiert. Tarach weist nach, wie rassistisch die Behandlung der Palästinenser in den arabischen Staaten tatsächlich ist und wie egal diese Behandlung der ewig über Israel empörten Palästinasolidarität ist. Palästinenser unterliegen herkunftsspezifischen Steuern, sie erhalten keine Staatsbürgerschaft, werden in Ghettos belassen, damit sie „eine rieseige, im Elend lebende Manövriermasse gegen Israel“ bilden können. Ohne die Diskriminierung der Palästinenser würde das „Rückkehrrecht“, Euphemismus für die demographische Vernichtung Israels, sich so abschwächen, dass es am Ende zu einer Aussöhnung kommen könnte. Ein Alptraum für die 30.000 Angestellten der UNRWA,  die dann arbeitslos würden und das Gegenteil dessen, was die Förderer des Djihad wollen: Die Vernichtung Israels und die andauernde Versklavung der islamisch-arabischen Welt unter archaische Feudaltheokratien. Tarach überrascht die Leser mit Informationen über Demonstrationen von Palästinensern in Ostjerusalem für eine Erweiterung der Mauer auf palästinensisches Land – damit sie einen israelischen Pass erhalten oder behalten dürfen. Oder mit der Tatsache, dass Fatah-Kämpfer aus Gaza nach Israel flohen und nicht nach Ägypten. Palästinenser sind in Israel freie Staatsbürger, in allen arabischen Staaten aber entrechtete und ausgebeutete Menschen.

3. Israel ist kein imperialistisches Projekt, sondern ein antiimperialistisches. Tarach bringt nicht nur reiches Quellenmaterial für die Beteiligung von geflohenen Nazis an den arabischen Armeen, sondern auch für die britische Unterstützung der jordanischen Armeen im Unabhängigkeitskrieg Israels: Der Oberbefehlshaber der arabischen Legion Transjordaniens „war der britische General John Glubb („Glubb Pascha“), das Offizierskorps war britisch, und die Finanzierung ebenso.“

Israel sah sich bei der Staatsgründung sogar dem heftigen Widerstand der USA ausgesetzt, die eine imperialistische Lösung vorgezogen hätten, sprich: Besetzung der Region durch die USA. Die Sowjetunion wird von Tarach demnach in der Gründungsphase als einzige unterstützende Macht gewertet, allerdings handelte es sich dem Autor zufolge auch hier um instrumentelle Diplomatie mit dem Ziel, die britische Präsenz im arabischen Raum zu brechen. Die halbherzige Anerkennung durch die USA sei nur durch den Druck erfolgt, Israel vor einem kompletten Überdriften in den Ostblock abzuhalten. Auch später diagnostiziert Tarach den USA eine im besten Fall „neutrale“ Haltung, niemals jedoch eine verlässliche. In zahllosen Fällen arbeitete die CIA mit Terroristen zusammen, nicht selten auch mit Altnazis. Der globale Charakter des Antisemitismus, seine Fähigkeit zur internationalen Kooperation und Täuschung wird von Tarach einer zutiefst bigotten, kleingeistigen und halb vom islamischen Faschismus faszinierten Haltung der Demokratien  gegenübergestellt, die ihre Todfeinde üppig bezahlen.

4. Die üblichen Medien sind nicht annähernd geeignet als Informationsquelle über Israel. Tarach setzt bei der langen Geschichte der „Protokolle der Weisen von Zion“ an und bringt auch für den informierten Leser noch neue Informationen über die globale Attraktivität dieser Mutter aller Verschwörungstheorien – bei weitem nicht nur in arabisch-islamischen Universitäten. Als einführenden Aufhänger für eine unendliche Reihe von Medienfälschungen wählte Tarach ein wenig bekanntes Beispiel, das von Tuvia Grossmann. Der jüdische Student wollte die Klagemauer besuchen und wurde auf dem Weg dahin von einigen Dutzend Palästinensern als Jude erkannt, überfallen und gelyncht. Mit letzter Kraft konnte er schwer verwundet fliehen zu einem israelischen Polizisten. Sein blutüberströmtes Porträt vor dem Polizisten lieferte ein Foto, das als Foto eines misshandelten Palästinensers um die Welt ging und von allen renommierten Zeitungen abgedruckt wurde, es fand seinen Weg in palästinensische Boykott-Kampagnen und djihadistische Banner.

An oddballs ist die Geschichte so überreich, dass das gesamte Buch von Aha-Effekten durchzogen ist. Von Chomsky, Carter, Clinton, Trittin, Solana weiß Tarach Zitate auszugraben, die auf einen massiven Aufklärungsverrat verweisen. Tarach erklärt das zum Teil als Identifikation mit dem Aggressor, zum Anderen mit der naiven Hoffnung, sich von der Wut der Islamisten freikaufen zu können, indem man Israel opfert – so geschehen vor allem nach dem Massaker von München 1972.

Ein unvermeidlicher Nebeneffekt der Lektüre ist der dringende Wunsch, nach Israel auszuwandern. Aber zumindest darüber lässt Tarach keine Illusionen aufkommen: Israel ist zwar eine der fortschrittlichsten Demokratien weltweit, führend in der Wissensproduktion, aber es ist eben auch nur fast so groß wie Belize und seine Fläche beträgt nur 2/3 der Fläche Kretas, die Hälfte davon ist von Wüsten bedeckt. Strittig ist daher, ob das Land dem Auftrag, im Notfall weitere Millionen von geflohenen Juden aufzunehmen überhaupt noch gerecht werden kann.

Für das Westjordanland und Gaza hat Tarach hingegen ein einfaches, logisches und gerechtes Rezept parat: Den Anschluss des Westjordanlandes an Jordanien und den Anschluss Gazas an Ägypten. Über 70 % der Jordanier sind sogenannte Palästinenser, in Sprache und Kultur von den restlichen 30 % nicht unterschieden – allein würde das das Ende der Monarchie bedeuten, das bereits Arafat verhinderte, der vom Endziel der Vernichtung Israels durch die Maximalforderung des „Rückkehrrechts“ niemals abrückte. Allerdings stellt sich aktuell wieder die Frage, ob eine solche für die Palästinenser günstige Option tatsächlich eine Erleichterung für Israel darstellen würde, da es die Kontrolle über das strategisch bedeutsame Jordantal verlieren könnte, und der Friedensvertrag mit Jordaniens reaktionärem Königshaus in einer ohnehin fragilen Konstellation eine immens wichtige Grenze sichert. Eine aktualisierte strategische Perspektive auf dieses Problem wäre hilfreich zu einem weiteren Verständnis der Komplexität der Situation im Westjordanland.

Wer schon glaubte, er kenne alle Argumente für Israel, wird von Tarach noch einige Dutzend obendrein erhalten. Wer glaubt, er wisse gegen Israel Bescheid, wird mitunter feststellen, dass er professoralen Fälschungen aufgesessen ist und sein unartikuliertes Ressentiment hoffentlich in produktive Scham verwandelt sehen.

Man wünscht sich daher vom Autor für die hoffentlich zahlreichen Neuauflagen lediglich eine neue Umschlaggestaltung, die an Stellen etwas spontan aufgetragene Polemik stört nur selten die nüchterne Sprache, die das Buch auch als wissenschaftliche Quelle höchst arbeitsfähig macht. Dem Buch ist eine weitestmögliche Verbreitung zu wünschen. Erhältlich ist es für knapp 20 Euro über den Buchhandel oder einschlägig bekannte Onlineversände.

Crosspost: „Augstein hat eine Grenze überschritten“

http://lizaswelt.net/2013/01/10/augstein-hat-eine-grenze-ueberschritten/

Dass ein unbezahltes Blog ein Interview mit Rabbi Cooper vom SWC erhält, ist schon bemerkenswert, vor allem hinsichtlich des Gejammers im Spiegel, dass man vergeblich versucht hätte, Cooper für ein Interview zu gewinnen, dessen Bedingungen aber so unannehmbar gewesen seien. Gratulation an Liza’s Welt. Unbedingt lesenswert.

Kritische Rezension: „Interventionen gegen die deutsche „Beschneidungsdebatte““

Zülfukar Çetin/ Heinz-Jürgen Voß/ Salih Alexander Wolter

Münster 2012: edition assemblage

 92 Seiten; 9,80 Euro

Die Beschneidungsdebatte, die keine war, produzierte manche merkwürdige Blüte. Sicherlich das sonderbarste Gewächs liegt nun mit den Interventionen gegen die deutsche „Beschneidungsdebatte“ vor. Dankenswerterweise ist das Buch so kurz gehalten, dass man alle falschen Sätze darin rasch abgeschrieben hat – und das sind ungefähr alle. An diesem Buch gibt es nichts zu retten. Wenn es hier dennoch eine ausführliche Kritik erhält, dann nur, weil es beispielhaft gleich zwei Phänomene vereint: den Doppelcharakter des neuen deutschen kulturalistischen Antisemitismus, der sich in der Beschneidungsdebatte ein weiteres Mal herauskristallisierte, und den emanzipationsfeindlichen Zynismus einer innerhalb des akademischen Feminismus grassierenden identitären Ideologie.

Der Verlag warnt den Leser in einer verlegerischen Notiz:

Wir haben uns für die Veröffentlichung dieses Buches entschieden, um die rassistische und antisemitische ‚Beschneidungsdebatte’ anzugreifen und zu dekonstruieren.

Der Titel spricht ähnlich Bände über das autoritäre Zensur-Bedürfnis: „gegen“ eine Debatte, die ohnehin keine war, wollen Çetin /Voß/Wolter „intervenieren“.

Über die Autoren erhält der Leser keine Informationen. Ein Blick ins Netz stellt Klarheit her. Die drei publizieren regelmäßig zusammen. Jürgen Voß ist Biologe und schrieb über Intersexualität, Zülfukar Çetin promovierte über Intersektionen von Homophobie und „Islamophobie“, und den Namen Salih Alexander Wolter findet man beispielsweise über einen Link der BDS-Campaign.

Diese hat sich den internationalen Boykott Israels auf die Flagge geschrieben. 2009 erfolgte der bislang größte Schlag des Bündnisses: der britische Gewerkschaftsbund UCU beendete die Zusammenarbeit mit dem israelischen Gewerkschaftsbund Histadrut.[1]

2010 unterschrieb Wolter zusammen mit der BDS-Gruppe Berlin einen offenen Brief, der sich darüber empört, dass am Gedenktag der Reichspogromsnacht in Berlin der israelische Botschafter sich in Berlin über Rüstungsprodukte informieren ließ. An dem Tag, der dem Aufruf zufolge dazu mahne, dass „Menschen“ nicht „noch einmal“ Opfer von „staatlicher Gewalt“ würden – verharmlosender Stalinisten-Sprech zur Umdichtung der Shoah in eine Art Klassenkampf von oben – an jenem Tag also zelebriere der israelische Botschafter eine „Kultur des Tötens“. Der Text setzt Nazis und Israel gleich, weil eben jene Reichspogromnacht Anlass dazu liefert, ausschließlich Israel zu verurteilen für

[…] die permanenten Verstöße aller israelischen Regierungen ebenso wie der israelischen Armee gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte.

Der Aufruf endet mit den Worten:

Keine Waffenlieferungen nach Israel. [2]

Das ist für den vorliegenden Band nicht ganz unbedeutend, weil es den Doppelcharakter des kulturalistischen Antisemitismus illustriert: Für den Judaismus als marginale Folklore ist in Deutschland ein Plätzchen freigeräumt worden, man findet allseits Gefallen an Klezmer, Hummus und Hitler-Filme mit „Success-story“ (Claussen) und Happy End. Antisemitismus verurteilt man natürlich. Gegen den jüdischen Staat aber heißt es von allen Seiten „Auf die Barrikaden“. Einstimmig wie nie wurde 2009 vom Bundestag eine Propagandaaktion der Hamas unterstützt, der Überfall der Besatzung der „Mavi Marmara“ auf Israel. Und eine solide Mehrheit hält Israel für das bedrohlichste Land der Welt.

Von solchen hegemonialen Diskursen wissen die Autoren nichts, weil sie daran teil haben. Ihr Begriff von Antisemitismus bleibt zwangsläufig eindimensional:

In der breiten Ablehnung der Knabenbeschneidung durch die mehrheitsdeutsche Öffentlichkeit verschmelzen Elemente des Antimuslimischen Rassismus und des stets latent gebliebenen Antisemitismus. (21)

Nun blieb der Antisemitismus im offenen Brief, den Wolter unterschrieb, sicher nicht latent, er will praktisch werden und Waffen für Israel boykottieren. somit Israel der Vernichtung preisgeben und lüstern-friedlich dabei zusehen. Was Wolter und seine beiden Mitstreiter im Zitat wohl gemeint hatten, war ein „stets vorhandener latenter Antisemitismus“, den zu entdecken sie anscheinend ohne Verdacht auf sich selbst im Bereich ihrer Kernkompetenzen verorten. Sie lokalisieren ihn dann auch am Anderen:  hinter der „offiziellen Rhetorik von den „jüdisch-christlichen Wurzeln unserer abendländischen Kultur“.

Geschickt verband solches Pathos die „Aufarbeitung“ der Schoah mit den gemeinsamen global-strategischen Interessen „des Westens“. Doch nun, da es nicht um die von der Bundeskanzlerin zur Staatsraison erklärte Sicherheit Israels geht, sondern um einen Angriff auf spezifisch jüdisches, wie muslimisches Leben hierzulande, erweist sich der Bindestrich [zwischen jüdisch und christlich, FR] als die geschichtsvergessene „abstruse Konstuktion“, die Almut Shulamith Bruckstein Çoruh (2010) schon auf dem Höhepunkt des Sarrazin-Hypes zurückwies. (22)

Was auch immer damit gesagt werden sollte, außer der Klage darüber, dass die Bundeskanzlerin die Sicherheit Israels für nicht komplett unwichtig hält, bleibt verborgen: Schließlich erwies sich die Kanzlerin mit ihrem Bonmot von der „Komikernation“ als regelrechte Schutzpatronin der religiösen Vorhautamputation im Kindesalter. In völliger Verkehrung der historischen Befunde wird weiter behauptet:

Die europäische Mission der Zivilisation, die „barbarischen“ Jüd_innen und Muslim_innen zu säkularisieren, wird durch die Debatte um die Vorhaut und ihr ‚grausames‘ Ende verstärkt.

Historisch hat die Säkularisierung Europas den Juden die Möglichkeit zur Assimilation eröffnet, und dadurch Juden wiederum in Konflikt zum Judaismus treten lassen: Entstehungspunkt unter anderem des säkularen Zionismus und des Reformjudentums. Den gängigen Forschungsbefunden zufolge war es dieser Assimilationsprozess, den die modernen Antisemiten abwehrten und der für diese die nachträgliche rassistische Bestimmung des Jüdischen als Körpereigenschaft erforderlich machte – wozu die Beschneidung den Antisemiten ein eher willkommenes Hilfmittel war. Man kann sich angesichts dieser komplexeren Hintergründe der „Diskurse“ natürlich auch in die Tasche lügen. Die Autoren schrecken jedenfalls nicht davor zurück, Adorno/Horkheimer als Schmuckzitat über ihren Text zu setzen:

„Das Wunder der Integration aber, der permanente Gnadenakt des Verfügenden, den Widerstandslosen aufzunehmen, der seine Renitenz hinunterwürgt, meint den Faschismus.“

 Adorno/Horkheimer meinten im Kontext des Kulturindustrie-Kapitels, in dem sich das Zitat findet, mit Integration gewiss nicht eine fiktive deutsche Bereitschaft zur Integration von assimilierten Juden, sondern ein kulturindustrielles Prinzip, das die Außenseiter abschleift und zurichtet. Nicht das Verhältnis von Kollektiven zueinander steht hier zur Disposition, sondern das Verhältnis vom Kollektiv zum Individuum: „Einmal war der Gegensatz des Einzelnen zur Gesellschaft ihre Substanz.“ heißt es einige Zeilen vorher bei Adorno/Horkheimer, ein Satz, der für die drei Apologeten anscheinend völlig belanglos ist.

Es liegt nun Çetin/Voß/Wolter nämlich gänzlich fern, im Gefolge Adorno/Horkheimers eine individualistische, säkularistische Position zu vertreten: Säkularismus und Individualismus werden von Çetin/Voß/Wolter systematisch mit dem Westen und dieser mit dem Faschismus oder wahlweise Imperialismus identifiziert. Die Beschneidung kann so implizit zum subversiven Akt der Renitenz gegen den Faschismus verklärt werden. Çetin /Voß/Wolter sehen daher auch in dem Verweis des Beschneidungskritikers Putzke auf die statistische Erfassbarkeit von etwaigen Beschneidungen in immigrierten Familien und Gemeinden eine Wiederkunft des Nationalsozialismus:

Die Migrant_innen, denen die Gruppenidentifikation als kulturell-religiöse verwehrt sein soll, unterliegen ihr also im Sinn einer rassistischen Fremdzuschreibung weiterhin: Nichts anderes war die historische Erfahrung der jüdischen Assimilation in Deutschland.

Wenn nämlich die Beschneidung verboten werde, müsse man zu rassistischen Befragungstechniken greifen, die auf den religiösen oder kulturellen Kontext zurückgreifen, um überhaupt noch stattfindende Beschneidungen in eingewanderten religiösen Kollektiven zu erfassen. Das sei dann sowohl die – im Falle der jüdischen Assimilation gar nicht relevante – „Verwehrung“ einer „kulturell-religiösen“ Gruppenidentifikation, und zugleich die Erfahrung, dass diese Identifikation als Fremdzuschreibung doch stattfände. So setzen die Autoren – wohl in Ermangelung tatsächlich antisemitischer Kommentare, die aufzuspüren man für zu arbeitsintensiv befand – die Diskussion des Beschneidungskritikers Putzke mit primitivem Rassismus gleich, schlimmer, mit Nationalsozialismus.

Völlig beliebig wird nämlich nun von Çetin /Voß/Wolter ein weiteres Zitat von Adorno/Horkheimer eingestreut:

„Die den Individualismus, das abstrakte Recht, den Begriff der Person propagierten, sind nun zur Spezies degradiert. Die das Bürgerrecht, das ihnen die Qualität der Menschheit zusprechen sollte, nie ganz ohne Sorge besitzen durften, heißen wieder Der Jude, ohne Unterschied.“ (24)

Genau das ist aber das Geschäft von Çetin /Voß/Wolter, die den Individualismus, das abstrakte Recht und den Begriff der Person zu einer Spezies, nämlich einer westlich-imperialistischen Kultur degradieren und dann selbst die Gesellschaft in Beschnittene und Unbeschnittene einteilen, indem sie ständig nach der Zugehörigkeit der Diskursteilnehmer fragen:

Es geht uns dabei insbesondere darum, aufzuzeigen, wie die betroffenen Jüd_innen und Muslim_innen sich zu dem antisemitischen und antimuslimischen Diskurs äußern, bzw. positionieren.

Das tun sie aber noch  nicht einmal, nur zwei Muslime und etwa zwei Juden kommen zusätzlich zu den Autoren zu Wort. Im Kapitel Der schlechte Sex der Anderen skandalisiert man dafür den angeblichen „Blick in die Hose“ durch Beschneidungskritiker. Denen, sofern „mehrheitsdeutsch“ schauen die Autoren aber nun selbst in die Hosen, das abzuschaffende Leiden werde „von diesen offensichtlich gar nicht empfunden“ – sie seien nämlich nicht beschnitten. (29) Laut Voß fände eine „Hexenverfolgung“ statt, in der zum einen „Menschen aus jüdischen und muslimischen Familien“ sich in der Debatte zurückhalten müssten, wenn sie denn eine beschneidungskritische Position tatsächlich vertreten würden, dagegen aber

„atheistische, junge Menschen, die über einen mehrheitsdeutschen sozialen Hintergrund verfügen, unentwegt über den Verlust der Vorhaut klagen (können), die sie selbst aber in der Regel noch besitzen. (12)

Anstelle einer „Stellvertreter-Diskussion“ sollten sich „beschnittene Jungen und Männer selbst äußern (können)“. Allein:

Es ließ sich im deutschen Sprachraum keine innerjüdische oder im weitesten Sinn innermuslimische Initiative von Zirkumzisionsgegnern ausfindig machen, und ein Beschnittener, der sich während der Debatte dann doch negativ äußerte, sprach sich zugleich gegen ein Verbot aus (s.u.). (29)

Dass sich beschnittene Beschneidungskritiker trotz der „einladenden Debattenkultur“ nicht so kritisch äußerten, dass die Autoren etwas davon gehört hätten, läge an der „von ihnen wahrgenommenen rassistischen Tendenz“. (30) Lediglich Ali Utlu konnten Çetin/Voß/Wolter nicht ignorieren. Dreimal wird er zum Kronzeugen aufgebauscht, für die These, dass den beschnittenen Beschneidungskritikern der Rassismus der „mehrheitsdeutschen“ Beschneidungskritiker allemal mehr Angst einflößt als die Beschneidung und dass Utlu sich aus diesem Grunde gegen ein Verbot ausgesprochen habe. Von Utlus tatsächlich sehr detaillierter und drastischer Kritik der Beschneidung bleibt wenig übrig, an ihm interessiert vor allem seine Homosexualität, nicht seine leidvolle Erfahrung. Dreimal müssen die Autoren noch betonen, dass er in der Berliner „Siegessäule“ schrieb.

Utlus Stellungnahme unterschied sich damit vom Gros des zirkumzisionskritischen Diskurses, in dem kaum thematisiert wurde, dass auch jeder wissenschaftlichen Bewertung der Beschneidung bestimmte kulturelle Normen zugrunde liegen, und die Ausrichtung der rezipierten Forschung ausschließlich auf ein heterosexuelles Funktionieren der Beschnittenen stillschweigend akzeptiert schien. (35)

Hatten sie den Beschneidungsgegnern unterstellt, die Gesellschaft würde in „Beschnittene und Nicht-Beschnittene polarisiert“, (39) so erweisen sich Çetin/Voß/Wolter als die eifrigsten Polarisierer und Hosenkontrolleure. Das hat natürlich System: Von Argumenten kann bequem abgesehen werden wenn Zugehörigkeit entscheidet. Wie „einladend“ die Debatte war, davon zeugten die zahlreichen hasserfüllten Kommentare unter Artikeln von Beschneidungsgegnern, die sich dem panoptischen Blick in die Hose verweigerten und so den rassistischen Blick provozierten, der sie aufgrund vager Anhaltspunkte als Unbeschnittene einsortierte. Ihnen diagnostizierte man pathologischen Vorhautfetischismus, Fixierung auf „das stinkende, eklige Hautfetzchen“, kündigte „Hausbesuche“ wie bei Neonazis an, empfahl die Kastration mittels Backsteinen und wirklich alles was an „einladendem“ pathologischem Material zum Vorschein kommen wollte, erhielt hier Einlaß.

Stoßen Çetin/Voß/Wolter in jedem ihrer Strohmannargumente auf einen Selbstwiderspruch, so zwangsläufig auch, wenn sie es mit feministischer Kritik versuchen. Der Entwurf von Beschnittenen als Verstümmelten folge dem Stereotyp der Verweiblichung/Kastration von „de-maskulinisierten „Orientalen““, „“jüdischer Männlichkeit“. Bei Çetin/Voß/Wolter hat die Zivilisation heteronormativen Charakter, um den Preis jeder Ehrlichkeit im Argument:

In dieser Debatte wird also wieder ein Opfer präsentiert, ein Opfer des Judentums und des Islams: es ist der Mann als „ein vollständiger Mensch“ (Oestreich 2012). (43)

Und Juden und Muslime würden zu Tätern gemacht. (42) Was interessiert es, dass die Beschneidungs-Kritik gerade das Mannbarkeitsritual in Frage stellte und die Verwundbarkeit von Jungen unterstrich, gegen die sich die Befürworter allzu häufig barbarisch hart machten. Und dass wohl niemand den christlichen oder den abstrakten Mann als Opfer jüdischer oder muslimischer Beschneidung entwarf, sondern das muslimische und jüdische Kind in Schutz genommen werden sollte. Die Beschneidungskritiker müssen nun mal heteronormativ sein, und so schreckt man vor keiner Peinlichkeit zurück:

Dadurch dass in der Beschneidungsdebatte die Existenz der abendländischen Zivilisation von der Existenz der Vorhaut des Mannes abhängig gemacht wird, erscheint diese Zivilisation bewusst oder unbewusst als „Männersache“. (39)

An der Vernunft, an Adorno/Horkheimer, aber auch an Foucault halten sie sich schadlos. Religionsfreiheit als Freiheit von Religion habe religiöse Wurzeln. (24) Adorno/Horkheimers Kritik an Kultur die „den Körper als Ding, das man besitzen kann“ kennt (26) verwursten diese Genderforscher zum Argument, an der Beschneidungskritik sei der Besitzanspruch auf den eigenen Körper verdächtig. Und nun kommen Foucaults Untersuchungen zur Gouvernementalität „die im deutschen Sprachraum neuerdings für queerfeministische Beiträge zur Staatstheorie bedeutsam werden.“ (26) Neuerdings ist natürlich ein dehnbarer Begriff und kann natürlich auch die letzten 20-30 Jahre meinen. Gegen das folgende Attentat jedenfalls ist selbst Foucault noch in Schutz zu nehmen. Man muss das schon in Länge zitieren:

Mittels des Versprechens von Freiheit und Souveränität wird Regieren erst ermöglicht und zugleich konstitutiert sich so das Subjekt als ‚freies’ und ‚souveränes’. Diese Bewegung des Regierbarmachens setzt, so Foucault, ein spezifisches Körperverhältnis der Subjekte voraus: […] Nur wenn die Subjekte lernen, einen ‚eigenen’ Körper zu besitzen, können diese als freie und souveräne regiert werden, da dieses Besitzverhältnis über den Körper zur Grundlage von Freiheit und Souveränität wird.“ (Ludwig 2012:105f) Die Kritische Theorie hat das Herrschaftsverhältnis herausgearbeitet, das dem zugrunde liegt, was Foucault als diffuse „Macht“ behandelt. Gerade mit [sic!] Bezug auf die laufenden diskursiven Aushandlungen zur Zirkumzision sollte nicht vergessen werden, dass sich die Normen der modernen kapitalistischen „Zivilgesellschaft“ in einer Geschichte der Klassenherrschaft und des Kolonialismus, des Rassismus und des Antisemitismus gebildet haben, die ebenso die Geschichte der Heteronormativität ist. (26)

Ein flottes Stück Impertinenz, das ihnen selbst nicht ganz geheuer scheint. Weil das mit der Herrschaft so gar nicht zum Abstimmungsverhalten im Bundestag passt, kommt auf einmal folgendes Argument um die Ecke:

Indes zeigt die aktuelle Debatte, dass sich „Expert_innen“ im Kampf um die Deutungshoheit über diese Normen mit der „Volksmeinung“ gegen die Regierenden verbinden können. Denn in dem Maß, in dem das Recht, einen eigenen Körper zu „besitzen“, von wenigen Oberen im Prinzip auf alle – zunächst: europäischen, männlichen – Menschen ausgeweitet wurde, etablierte sich die Macht der dafür als sachverständig angesehenen Wissenschaft. (27)

Diese „Medizinisierung“ ist den Autoren nun grundsätzlich verdächtig, obwohl sie sich selbst für die besseren Mediziner halten. Wenn Voß in seiner Einleitung auf zwei Seiten gleich viermal „Unwissen“ bzw. „Unwissenheit“ beklagt, meint er damit gewiss nicht das antiisraelische Ressentiment seines Co-Autoren, sondern er beruft in offenbarstem Selbstwiderspruch die Medizin, die er später als „neue Art hegemonialer „Religion““ verurteilt.(6f) Dass – von Medizinern wohlgemerkt – die Beschneidung mit FGM vermengt werde, sei „wissenschaftlich nicht haltbar“. Wer diese Voß’schen Quellen der Wissenschaft dann aufsuchen will, stößt auf zwei Blogeinträge von Voß, die Altbekanntes summieren,[3][4] aber gewiss keine wissenschaftliche Diskussion der Argumente der Gegner darstellen. Tatsächlich massiert der letzte Teil des Buches etwas ausführlicher einige medizinische Studien.

Was den Vergleich von FGM und Jungenbeschneidung angeht, haben sich Aktivisten gegen FGM inzwischen fast durchweg auf den Vergleich von FGM Typ I (Ritzen oder Exzision der Klitorisvorhaut) und der Amputation der männlichen Vorhaut eingelassen, so z.B. Ayaan Hirsi Ali und Thomas Osten-Sacken. Und diese haben darauf hingewiesen, dass die Legalisierung der Beschneidung im Extremfall auch die Legalisierung, aber zumindest Legitimierung von FGM enthält, zumal in islamischen Staaten mit noch unklarer Rechtslage. Bei Çetin/Voß/Wolter werden solche Befürchtungen gar nicht erst  beachtet. Von Bedeutung erscheint ihnen allein die Abgrenzung zur zwangsweisen Geschlechtsumwandlung im Kindesalter oder zu FGM Typ II und III, der Entfernung von Klitoris und Schamlippen. So würden im Falle der Beschneidung weder Eichel noch Keimdrüsen entfernt und auch keine Hormonbehandlung oder Vaginalplastik wie bei Geschlechtsumwandlungen fände statt. Nun auf einmal solle in einer weiter gefassten Allgemeinheit im „Dialog“ eine Diskussion stattfinden darüber

[…] wie die engen Geschlechternormen und die Eingriffe in die Selbstbestimmung von Geschlecht grundlegend geändert werden können. Das träfe aber alle gesellschaftlichen Normen, es würde bedeuten, dass grundlegend etwas gegen die Gewalt gegen Frauen getan werden müsste, grundlegend Geschlechterstereotype angegriffen werden müssten, grundlegend etwas gegen die Medizinisierung und Psychiatrisierung der Menschen getan werden müsste. (36)

Aber vorsicht:

So gesehen geht es gar nicht um ein Missverhältnis in der Abwägung eines „Unrechts“ gegen ein anderes, sondern der öffentliche Aufschrei über die Zirkumzision entspricht genau der allgemeinen Unempfindlichkeit für das Leid der Intersexe. Beiden liegt die unerbittliche Norm zugrunde, der sich nichts entziehen darf. (38)

Die Beschneidungskritik ist also unempfindlich für das „Martyrium der Zwischengeschlechtlichen“ (36), sie wird dergestalt Täter und eine Kooperation mit ihr schließt sich Çetin/Voß/Wolter geradezu aus. Sie widerspreche nämlich der Medizin, die sie zuvor als gouvernementales Instrument benannt haben. Die nichtheteronormative Beschneidung gegen den Hegemon aus Medizin und faschistischer „Zivilisierungsmission“ zu verteidigen, und das mit medizinischen Argumenten, das ist in schärfster Kürze das Programm von Voß/Çetin/Wolter.

Kulturalismus, mit dem islamische Rechtswissenschaftler FGM rechtfertigen, ist zwangsläufig das Gärprodukt einer solchen abenteuerlichen Melange:

Durch die Argumente „Traumatisierung, sexuelle Störung und Körperverletzung“ werden religiös und gesellschaftlich bedingte Riten psychologisiert, medizinisiert und kriminalisiert und als „archaisch“ eingestuft. (43)

Daher greifen die Autoren hier auf eine wirkliche Autorität zurück, Aiman Mazyek, Vorstand des „Zentralrat der Muslime“:

Geht es um Hygiene, Krebsvorsorge […] und um die Vorbeugung von Geschlechtskrankheiten, so ist aus medizinischer Sicht die Sachlage unumstößlich zugunsten der Beschneidung. […]Die menschliche Gesundheit hat Priorität im Islam, die Bewahrung der menschlichen Unversehrtheit ist ein ebenso göttliches Gebot. (44)

Solange nur „existentielle Relevanz“ (41) über die Jahrtausende zugrunde liegt, ist Religion schon ok so:

Die kollektive sexualmedizinische Online-Erörterung bewegt sich also gänzlich innerhalb des Horizonts einer post-christlichen deutschen Mehrheitsgesellschaft, die sich zwar nicht mit ihrem besonders antisemitischen, dafür aber mit dem gesamt-westlichen kulturellen Erbe einer „Zugehörigkeit der Lust zum gefährlichen Bereich des Übels“ (Foucault 1986: 315) auseinandersetzt. Es liegt offenbar jenseits der Vorstellungskraft, dass Sex schon im vorkolonialen Islam „als etwas uneingeschränkt Positives gesehen“ wurde (Bauer 2011: 278). (32)

Nach dieser umfassenden Eliminierung kritischer Vernunft versucht der abschließende Artikel von Voß Zirkumzision – die deutsche Debatte und die medizinische Basis noch einmal ausführlicher, eben jene Medizinisierung, diesmal freilich der Beschneidung zu verteidigen. Komplikationen bewegen sich den zitierten Studien zufolge im Bereich von maximal 2%, davon seien fast keine schwerwiegend. Verluste der Empfindsamkeit seien wahlweise nicht nachgewiesen oder nicht relevant. Die präventiven Vorteile der Beschneidung seien nachgewiesen für HIV, Eichelentzündungen und Harnwegsinfekte. Wenigstens gesteht er noch negative Folgen für den Fall zu, dass die Beschneidung als „Mittel“ gegen HIV das Kondom ersetzen könnte.

Die Rezitation ausgewählter wissenschaftlicher Studien ist zwar positivistisch, aber kaum wissenschaftlich zu nennen. Es fehlt jede Reflexion auf Methode und Fragestellung. Studien gerade im medizinischen Bereich haben sich zuallererst durch ihre Unabhängigkeit von Pharma-Unternehmen und anderen Lobbyisten zu legitimieren. So fällt bei Voß bemerkenswerterweise die vorher regelrecht gebrüllte Frage unter den Tisch, ob die jeweiligen Studienleiter selbst beschnitten sind oder (religiösen) Organisationen angehören, die Beschneidungen einfordern. Es werden Ergebnisse präsentiert, an die man dann glauben soll. So sieht tatsächlich Medizin als Religion aus und so funktioniert Biomacht: Die invasive Herrschaft über Individuen zu ihrem vermeintlichen Besten.

Dass die Vorhaut ein zentraler Teil eines Sexualorgans ist, ein komplexes Hautsystem mit zahlreichen Nervenendungen und biologischen Funktionen, dass also die, zumal schmerzhafte, Entfernung desselben eine gewaltsame Eroberung des Individuums durch das religiöse Kollektiv bedeutet, diesem Machtverhältnis verschließt sich Voß völlig. Von diesem Grundproblem aber ist auszugehen, wenn Prävention überhaupt diskutiert wird. Kein ähnliches Organ würde vorsorglich entfernt werden, relativistische Vergleiche mit Blinddarm, Polypen oder Mandeln (sehr beliebt ist auch der Haarschnitt) haben den Sexualakt schon völlig entwertet. Diese spezifische präventive Organentfernung ist eben nicht mit dem hippokratischen Eid zu rechtfertigen und daher wird Kritik daran von beschneidenden Ärzten so heftig abgewehrt: Es geht um Schuld.

Bleibt man aber im statistischen Argument, dann gibt es für alle der Befunde, die Voß anführt, heftigste Widersprüche von anderen Studien. Gänzlich wertlos werden die zitierten Studienergebnisse auf der Metaebene, wenn entsprechenden Krankheitsraten für Länder, in denen Beschneidungen mehrheitlich stattfinden (USA, islamische Staaten, Israel, Teile des südlichen Afrikas) mit denen jener Ländern verglichen werden, in denen die Beschneidung sehr selten ist (z.B. Dänemark). Voß, dem Kritiker der zwangsweisen Geschlechtsumwandlung, genügen jedoch ein paar Studien und eine Komplikationsrate von „nur“ 2 %, damit er die Amputation der Vorhaut im Kindesalter für unbedenklich erklärt.

Die drei Autoren haben es geschafft, auf 90 Seiten Adorno/Horkheimer und Foucault für ihren Aufklärungsverrat als Geiseln zu nehmen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses durchsichtige, zynische Manöver nicht nur Laien auffällt, sondern auch der akademischen Kaste, an die sich der Band richtet und dass aus dem Entsetzen über diese besonders offensichtliche und krasse Ent-Kritisierung von Theorie heraus ein Begreifen einsetzt darüber, wie akademische feministische Theorie wieder eine kritische werden könnte. Eine wirklich wissenschaftliche Analyse antisemitischer Kommentare zur Beschneidungsdebatte (tatsächlich gab es auch einige harte antisemitische Beschneidungsbefürworter) und eine medizinische Diskussion, die nicht in positivistischem Zauber aufgeht, stehen leider noch aus.

Beiträge auf „Nichtidentisches“ zum Thema:

Ein Beitrag zur Beschneidungsdebatte

“Die latente Unehrlichkeit ihres positiven Israel-Knacks” – Eine Diskussion der Gegner der Gegner der Beschneidung

Schuld und Vorhaut

Der Reflexionsausfall der Antisemitismuskritik am Beispiel Dershowitz

Das Recht des Kindes


[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Boycott,_Divestment_and_Sanctions

[2] http://www.antiimperialista.org/node/6665; http://www.bds-kampagne.de/articles/2010/11/11/keine-waffenlieferungen-nach-israel/

[3] http://dasendedessex.blogsport.de/2012/09/21/vorhautbeschneidung-bei-jungen-weg-von-vorannahmen-hin-zu-fundierter-diskussion/

[4] http://dasendedessex.blogsport.de/2012/06/29/die-gleichsetzung-beschneidung-der-vorhaut-bei-jungen-gewalttaetige-medizinische-eingriffe-gegen-intersexe-funktioniert-nicht/