Das Ende der Propaganda

Die finale Grenze der Aufklärung ist wieder einmal erreicht. Was auch immer an Material vorgelegt wird, um den Charakter der Hamas sichtbar zu machen, wie voluminös oder präzise man auch immer die Verwerflichkeit und Bigottrie der sogenannten palästinensischen Position belegt, man stößt immer auf die europäische Mauer: Das haben die Israelis verursacht. Das haben die Israelis ja so gewollt und erzeugt.

Wenn endlich erkannt ist, dass die Hamas Nazis sind, was beileibe schon ein Fortschritt ist, selbst dann wird noch die Schuld der Juden an diese Erkenntnis geheftet. Die Israelis haben ja die elenden Zustände erzeugt, aus denen Nazis hervorgehen müssen. Je negativer die Hamas erscheint, desto negativer müssen dann die Juden sein, die als Ursache, als störender Fremdkörper unverrückbar feststehen. Daher wird den Antisemiten das heutige Attentat auf einen Bus in Tel Aviv auch wieder nur als Aufforderung gelten, den Israelis wohlweisliche Friedenswünsche, Ratschläge und Weisheiten zu unterbereiten, die allesamt herunterzubrechen sind auf den christlichen Irrationalismus von der hinzuhaltenden Wange. Weil die Juden sich weigern, sich für das europäische Friedensverständnis ans Kreuz nageln zu lassen, sind sie schuld.

An diese Grenze führen alle Diskussionen, und es besteht wenig Aussicht, daran etwas zu ändern. Nicht einmal mehr zu wissen, was man NICHT tun sollte, ist aber der Postleninismus kritischer Theorie. Verzweiflung führt bei Adorno nicht zur Aufgabe von Praxis, sondern zum trotzdem Tun, zum Stören. Die Medienparty stören, das Zusammenrotten stören, und sei es durch Propaganda, durch Bilder, die sie reizen, das bleibt ein Stachel und vielleicht irritiert es manchen doch bis zur Erkenntnis.

Der Psychologie der Massen folgt das Racket der Medien nicht nur nach – es ist ganz selbstständig dumm und zynisch, verlogen und brutal. Die IHT inszeniert perfekt ausgeleuchtete Bilder, deren Komposition jede bekannte Ästhetisierung des Elends in den Schatten stellen will. Da ist eine palästinensische Mater dolorosa, die auf ihr totes Baby nach links unten herabblickt – ein originalgetreues Zitat der Rennaisance-Madonnen. Da sind die ins Bild gestikulierenden palästinensischen Trümmermänner, ihre Beine im goldenen Schnitt, die Arme eine perfekte kommunizierende Linie, kunstakademische Professionalität, kühl kalkuliert von den Dutzenden für den Betrachter unsichtbaren Kameras, für die das Bild inszeniert wird, in mehreren Abläufen geprobt, nachselektiert, bezahlt von den Millionen Klicks auf die Werbeanzeigen daneben und von der journalistischen Lust am Mitmachen, am getrieben sein, an der konformistischen Revolte. Und in Deutschland immer wieder Schutthaufen – Wiedererkennungseffekte, die jedes Denken abtöten zum Aggress.

Nervenkitzel, den sie auf die vermeintlich „kriegsgeile“ IDF projizieren, Wahlkampfinteressen, die sie auf Netanjahu projizieren, das sind die Antriebskräfte europäischer Vulgarität. Was nützt es, zu verweisen auf die lange Linie von israelischen Potentaten, die in immer riskanten Kriegen Ansehen in Israel verloren: Golda Meir, Ariel Sharon, Ehud Olmert, die Wut über die tödlichen strategischen Fehler im Libanonkrieg 2006, über die vermeidbaren israelischen Opfer in der Operation „Cast Lead“. Israels Armee zog jetzt tausende Reservisten ein, Menschen im mittleren Alter, die aus ihren Berufen und Familien geholt wurden, aber man denkt, diese Menschen würden zum Dank dann das Empfohlene wählen, anstatt um ihr Leben zu fürchten. Man phantasiert, es gebe ernstzunehmende israelische Parteien, die nicht schon längst den Raketenterror als völkerrechtliche Verpflichtung gegenüber der eigenen bedrohten Gesellschaft angegriffen hätten, Parteien, die länger still gehalten hätten als die aktuellen Regierungsparteien. Der Wahlkampf der anderen Seite verläuft tatsächlich gemäß der Projektion der Europäer: Hier wird gewählt, wer die meisten Juden in die Luft sprengt und einige Raketen fliegen nur, um vor der Konkurrenz nicht allzu blass auszusehen.

Europäer, die Wahlen als nutzlose und instrumentelle Wiederholungen des immergleichen Klassenkampfes von oben erfahren und wünschen, die selbst keinerlei Konzept gegen den aufwogenden Faschismus haben oder an ihm noch partizipieren, die doch selbst zehntausende Flüchtlinge ins Meer oder durch verschneite Berge trieben und treiben durch ihren Isolationismus, diese gleichen Europäer fantasieren und projizieren jetzt munter von verelendeten Flüchtlingslagern, von Mauern, von Abschottung. Mit Gaza trinken sie sich ihre Flüchtlingsbaracken schön, in denen man von den chinesischen Mopeds und Smartphones nur träumen kann, mit denen die wohlgenährte Hamas-Junta ihre Opfer durch die Straßen schleift und filmt. Die dauernden Abschiebungen von Zigeunern in die antiziganistischen Hexenkessel Südosteuropas sind vergessen, wenn man von Mord und Massakern an Palästinensern fantasiert, die bislang nur die Hamas verübt. Ihr eigener Wunsch zum Zerstören, zum Alles-Kaputt-Schlagen, den artikulieren sie in ihrer Projektion einer tollwütigen IAF, als gäbe es keine Flugblattwarnungen, keine Massen-SMS an Palästinenser, keine abgebrochenen Luftschläge auf bedrohliche Ziele – zugunsten palästinensischer Kinder und in potentieller Gefährdung israelischer Kinder, auf die die Raketen zielen.

Und von Landraub faseln die Europäer, von Imperialismus. Die Europäer, die in Afrika ganze Regionen durch korrupte Chiefs enteigneten für ihren Traum vom (natürlich bezahlbaren) Bio-Sprit, die in ganz Südamerika Millionen von Kleinbauern ins Elend treiben mit ihren Soja-, Palmöl und Zuckerfarmen, die für ihre Tropenholz-Kollektion aus dem Baumarkt südostasiatische Wälder mittels der jeweiligen Mafiosi plündern lassen.

Diese Europäer wollen trauern um ein paar Hektar entmilitarisierte Zonen, um ein paar hundert Meter Sicherheitsabstand für ein neun Kilometer dünnes Land im ewigen Kriegszustand, um ein paar israelische Siedlungen in Westjordanien, in denen ohnehin nur noch alle paar Jahre ein Haus gebaut werden darf. Und nicht nur trauern, sie wollen draufschlagen, und weil sie nicht selbst draufschlagen dürfen, soll wenigstens die Hamas „zurückschlagen“ dürfen, denn sie schlägt ja immer nur zurück, das ist ihr europäisches Wesen, dagegen kann sie noch so oft auf ihr ehrliches Bekenntnis zur ehrbaren Aggression, zum ewigen Djihad gegen die Juden pochen. Und wo die Europäer und Russland durch die fortschreitende Faschisierung den Atomkrieg wahrscheinlicher machen, fürchten sie, dass Israel die Welt in einen Atomkrieg treiben würde, dass alle sterben müssten, wenn Israel seine Interessen verfolgt – und welcher vernünftige Mensch würde nicht dem Tod von Milliarden Menschen durch angebliche 200 israelische Nuklearwaffen den Tod von ein paar Millionen Juden vorziehen. Dieser Rationalität folgten die deutschen Hitleristen, dieser Rationalität folgen heute die pazifistischen Verschwörungstheoretiker von rechts bis links. Sie alle arbeiten daran, die Vorstellung einer Welt ohne Juden, ohne Israel bewohnbar, akzeptabel, ja vernünftig zu machen. Der erste Weg dahin ist die penetrante Zensur der israelischen Position, das Ignorieren oder Verhöhnen israelischer Opfer durch das Racket der Medien.

Der nette Antisemit von Stoodley Pike

Eine Wanderung vom Pendle Hill durch die Pennines kann trotz lauwarmen Regens und nasser Wanderschuhe eine entrückende Erfahrung sein. Nach zwei wenig mit Schlaf gesegneten Nächten unter einer Brücke und an einem Forsthaus stand mir aber der Sinn nach einer etwas geräumigeren, abgeschlossenen Unterkunft.
Ein Maurer im schönen Kurort Hebdenbridge empfahl mir, mich doch zum Stoodley Pike zu begeben, der Ort sei zwar „very spooky“, aber möglicherweise geeignet für eine gesegnete Nachtruhe. Das selten hässliche Monument erreichte ich nach einem knapp gewonnenen Wettlauf mit einem Wolkenbruch. Trotz der meterdicken Steinen war es allerdings nicht wasserdicht und gar nicht zum Übernachten geeignet. Über die stockdunkle Wendeltreppe lief das Wasser, während ein Mann aus Pakistan sich mit seinen Kindern dazugesellte. Wir kamen ins Gespräch, Belanglosigkeiten zuerst, dann der Terrorismus, Iran, Pakistan. Ich lasse ihn reden. Die Pakistanis würden ja die Terroristen hassen. Die Religion sei doch Privatsache. Ich nicke ermunternd. Ja, sagte der nette Mann, wenn man den Pakistanis Waffen gäbe, dann würden sie die Terroristen schon vertreiben. Sie hätten keine Waffen. Das wäre das Problem. Sehr interessante Theorie, denke ich, aber ein guter Mann. Dann legt er los. Die Amerikaner, die würden ja die Terroristen bezahlen. Ach so? Ja, das sei erwiesen. Aber wieso das? Nun gerät er ins Grübeln: Er habe gehört, dass die Amerikaner die Taliban aus Afghanistan raushaben wollten, daher würden sie ihnen Geld geben, damit die Terroristen in Pakistan bleiben und dort das Land verwüsten. Das kommt ihm aber nun doch selbst etwas ungereimt vor und er wechselt das Thema. Er sei ja in England aufgewachsen. Am Anfang hätte man ihn nicht gegrüßt, misstrauisch beäugt, aber heute seien alle Nachbarn beste Freunde und sie würden sogar zum Zuckerfest gratulieren, das übrigens heute stattfindet. Ach, das Fastenbrechen ist heute? Ja, ein schöner Brauch, die Kinder lieben es. Man darf aber doch abends essen während der Fastenzeit, nicht wahr? Sicher, nur abends. Da ruft er auch seinen Bruder immer an, in Pakistan, jeden Tag telefoniert er mit ihm, das sei ja heute ganz anders, früher habe es nur ein Telefon in der nächsten Ortschaft gegeben, heute könne man in ganz Pakistan sehr gut und billig telefonieren. Schöne Sache, sage ich. Er hat einen kranken Fuß, ist arbeitslos. Kein Spaß in England. Aber er mag alle Leute hier. Alle Menschen seien ihm gleich recht, egal woher. Das sei das schöne an England. Ich nicke zustimmend: in der Tat, so ist es. Sehr nettes Land. Sehr höflich. Außer die Juden, sagt er da. Die Juden, nein, von denen habe er nur schlechtes gehört. Die würden sich nicht integrieren und die würden auch so viel Macht haben und Geld. Nein, die Juden seien nicht seins. Er möge auch die Deutschen. Ich sei als Deutscher ja bestimmt kein Jude. Ich erschrecke ihn ein wenig und sage: Nun, aber es könnte ja doch sein, oder nicht? Man sehe es ja nicht. Zweifelnd wiegt er den Kopf. Nein, sehen könne man es wohl nicht. Aber er habe auch gehört, dass in Iran 2/3 der Bevölkerung aus Juden bestehe und die würden nun Krieg gegen Israel machen oder auch umgekehrt, aber die Juden profitieren in jedem Fall davon. Ich korrigiere ihn höflich: In Iran gebe es sicher nur 25000 Juden, eher weniger. Er ist ehrlich erstaunt. Ach. Da habe ihm wohl sein Bruder aus Pakistan etwas falsches erzählt. Ob ich sicher sei? Ja, ganz sicher, gar kein Zweifel, er könne es im Internet prüfen. Es gehe ihnen da eher schlecht. Ich würde übrigens einen sehr netten Rabbi kennen, kein reicher Mann, auch recht arme russische Juden gäbe es in Deutschland. Ob er denn selbst Juden kenne? Verzagt wirkt er da, nein, sagt er und dann: vielleicht liege es ja daran. Vielleicht müsse er mal einen kennen lernen. Nagt bedenklich an seiner Lippe. Eine prächtige Aussicht sei das hier. Ja, wirklich, eine prächtige Aussicht. Es hat auch aufgehört zu regnen. Fantastisch.

Ruft dann seine Kinder, die nette Tochter hilft ihm den rutschigen Abhang hinunter, ich stapfe ihm nach. Als ich mich umdrehe, sehe ich über dem Eingang des Mahnmals noch ein Hexagramm, ein in England häufiger anzutreffendes Zeichen auf Maurerhandwerk. Das zeige ich dem guten Mann besser nicht, suche stattdessen die hübsche kleine Jugendherberge in Mankinholes auf. Da esse ich dann auch ein sehr kräftiges Lamm in Rotweinsauce, das erste und letzte gute Essen, seit ich hier bin.

Der Reflexionsausfall der Antisemitismuskritik am Beispiel Dershowitz

Alan Dershowitz ist kein kleines Kaliber, das die Jüdische Allgemeine auffahren lässt. Er ist routiniert im Nahkampf mit linksintellektuellem, relativistischem und mitunter auch jüdischem Antisemitismus in den USA, er argumentiert liberalistisch, verteidigte nicht nur Mike Tyson und O.J. Simpson, sondern auch den Underdog der Underdogs, Israel.

Man kennt bisweilen exotische Positionen von ihm zur Folter oder zur Counterinsurgency im Westjordanland. Was er allerdings nun zur Beschneidungsdebatte abliefert, ist ein Reflexionsausfall, der aktuell bei einer ganzen Reihe von liberalen, proisraelischen Intellektuellen und Antisemitismuskritikern stattfindet. Dershowitz beginnt mit der rethorischen Frage:

Warum machen sich Länder, die auf eine lange Geschichte des Antisemitismus und anderer Formen religiöser Intoleranz zurückblicken, anscheinend mehr Gedanken über das sogenannte Recht von Kindern, nicht beschnitten zu werden, als andere Länder mit einer besseren Geschichte, was Menschenrechte betrifft?

Zuerst: Der Antisemitismus war keine „Form religiöser Intoleranz“ unter anderen Formen. Der Antisemitismus war eben die Absehung von der Religion. Die deutschen Pogrome des Mittelalters und der frühen Neuzeit argumentierten nicht mit einer realen Religion, sondern mit erfundenen Ritualen: Hexerei, Ritualmord, Gottesmord. Der moderne Antisemitismus wird übereinstimmend als regressiver Reflex auf die französische Revolution und die Abwehr der Assimilation, die Gleichheit der Juden vor dem Recht, interpretiert. Der jüdische Glaube war dem nazistischen Antisemitismus zwar als exotistische Bilderwelt für die Propaganda recht, aber in seiner Ideologie nahm er an, dass die Juden jenseits der Religion für Bolschewismus und Kapitalismus zugleich stünden, dass also die Religion nur Tarnung sei, hinter der sich Magie oder Verschwörung verberge.

Und was meint Dershowitz als liberaler Rechtswissenschaftler mit dem „sogenannten Recht von Kindern, nicht beschnitten zu werden“? Eine Diskussion findet nicht statt – es geht ums Identifizieren. „Andere Länder“, damit meint Dershowitz vermutlich die USA und Israel. In den USA gibt es einen wachsenden Unmut über die massenhafte Beschneidung. Die Mehrheit der Jungen wurde und wird als Säugling beschnitten, eben nicht aus religiösen Gründen, sondern aus pseudomedizinischem Ressentiment gegen die Masturbation. Und in Israel werden doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit Mohelim verurteilt, die bei der Beschneidung Fehler machen – und einen lebensgefährlichen Behandlungsfehler „verurteilte“ das Urteil von Köln in seinem Freispruch. Auch aus Staaten wie den Niederlanden, Finnland und Schweden wird eine starke Gegnerschaft zur Beschneidung vernommen, in Finnland mit rechtlichen Regelungen.

Dershowitz beruft sich mehrfach auf die Selbstverständlichkeit der „denkenden Menschen“, der „vernünftigen Menschen“, der „guten Menschen“.

Natürlich sind diese Fragen von gänzlich rhethorischer Art, weil jeder denkende Mensch die Antwort darauf bereits kennt. Der Grund ist nicht, dass die Deutschen oder Norweger bessere Menschen sind und sich mehr aus Kindern und Tieren machen als etwa die Amerikaner. Der Grund ist vielmehr, dass sie sich weniger aus den Juden machen. Sie mögen sie einfach nicht besonders, und es ist ihnen egal, wenn Juden gezwungen werden, ihr Land zu verlassen, weil sie ihre Religion dort nicht länger ausüben können.

Hier hat Dershowitz recht und zugleich liegt er völlig falsch. Die Mehrheit der Deutschen mag Juden nicht, sie sind Antisemiten – das sollte aber doch Dershowitz ein Grund sein, zu hinterfragen, warum es gerade diese Antisemiten sind, die im Bundestag einstimmig die Beschneidung legalisieren wollen, ein bislang einmaliger Rechtsvorgang, warum es christliche Antisemiten wie kreuz.net sind, die derzeit die Beschneidung verteidigen, um sich selbst zu Opfern des Säkularismus hochzustilisieren. Die Mehrheit der Deutschen, die den Antisemitismus nicht begriffen haben, wollen so gar nichts gegen die Beschneidung haben, weil sie ihnen doch noch das gewisse Quentchen Sicherheit gibt, dass „die Juden“ anders sind. Gänzlich fehl am Platz ist daher Dershowitz Unterstellung der Trauer:

Niemand sollte eine Nation, die Millionen jüdische Babys und Kinder ermordet hat, dafür loben, dass sie Krokodilstränen über das Schicksal eines armen kleinen Buben vergießt, der in der Ausübung einer jahrtausendealten tradition eine Woche nach der Geburt beschnitten wird. Jeder gute Mensch muss Deutschland dafür verdammen, denn das, was den tatsächlichen Kern der Bemühungen, die Beschneidung zu verbieten, ausmacht, ist nichts anderes als der gute alte Antisemitismus.

Weder Westerwelle noch der Bundestag vergießen Krokodilstränen, ihnen sind jüdische Kinder schnuppe, ihnen geht es ums Image und um die Anwesenheit der Juden als sichtbarer Werbeträger, das bedeutet: Als religiöse Institution mit Folklore. Nicht weil sie Juden mögen, sondern weil es sich für einen modernen Staat gut macht, ein paar Alibi-Minderheiten zu haben, um in der internationalen Diplomatie um so unverschämter rassistische und antisemitische Politik betreiben zu dürfen. Solche Alibi-Minderheiten müssen ja nicht gleich die Roma oder Exil-Perser sein, die schiebt man lieber ab, aber mit den Juden kann man inzwischen ganz gut leben. Man kann anhand der bisherigen Zeitungskommentare eindeutig festmachen, dass sich die Beschneidungsbefürworter in jüdische Apologeten, christliche Eiferer und worthülsenversprühende, völlig erkaltete Politiker gliedern. Der Nachweis von antisemitischen Positionen der Gegner in Kommentaren der großen Zeitungen steht aus – Nachweise, die in denselben Medien bei jedem Geplänkel Israels zuhauf erbracht werden können.

An der Beschneidungsdebatte werden selbst namhaften Anhängern der kritischen Theorie ihre Begriffe stumpf. Sie wenden scholastisch Folien von Begriffen an ohne sich um das jeweilige Besondere zu kümmern. Das ist die eigentliche Gefahr: Das Verkennen der Bedrohung, die vom Antisemitismus dort ausgeht, wo man ihn am schwersten bekämpfen kann. Das anstehende Beschneidungsgesetz ist ein Placebo gegen den Antisemitismus, schlimmer, ein Nocebo, der kritische Selbstreflexion, die einzige Immunisierung gegen das antisemitische Ressentiment, ausschaltet.

Heute sind neue Wörter an die Stelle der alten, diskreditierten Wörter getreten. Antizionismus statt Antisemitismus. Das Wohl des Kindes statt Verbot religiöser Rituale.

Das Verbot religiöser Rituale war aber den Verfechtern des Kindeswohles kein negativ besetzter Begriff. Der Erfolg, ein religiöses Ritual wie FGM zu verbieten verweist darauf. Das in Deutschland vergleichsweise spät gekommene Verbot der Ohrfeige war ein Affront gegen eine zutiefst kulturelle, fast religiöse Praxis.

Auch bei Dershowitz läuft alles auf eine angebliche wissenschaftliche Wahrheit hinaus, zu deren Kenntnis er sich in der Lage sieht – die Kenntnis erweist sich aber auch nur als autoritärer Glaube an Institutionen.

Warum will Deutschland nicht der American Academy für Kinderheilkunde folgen, die nach fünf Jahren Untersuchung der besten Studienergebnisse folgerte, das [sic] die ‚gesundheitlichen Vorteile‘ der Beschneidung – inklusive verminderter Übertragungsgefahr des HIV- oder Papillomavirus – ‚die Risiken überwiegt‘.

Das Fragezeichen erübrigt sich, das Schlußplädoyer steht an:

Schande über jene Deutschen, die die Beschneidung verbieten wollen. Schande über jene Deutschen, deren Gleichgültigkeit es nicht zulässt, ihre Sitmme zu erheben gegen die pseudowissenschaftlichen Eiferer, die lügen, wenn sie von sich behaupten, das Wohl der Kinder liege ihnen am Herzen. Lob den Deutschen, die gegen die Intoleranz ihrer Landsleute protestieren. Andere Länder mit einer saubereren Geschichte müssen die Führung in der Forschung – echter wissenschaftlicher Forschung – und in der Diskussion um den Schutz der Rechte von Kindern und Tieren übernehmen. Die mörderische Vergangenheit Deutschlands disqualifiziert dieses Land für immer, bei den Versuchen, jüdische Rituale zu verbieten, Vorreiter zu sein.

Dershowitz nimmt an, das Gesetz ziele auf die jüdische Beschneidung alleine ab und er blendet die innerjüdische Debatte aus – in einer derzeit akuten rhethorischen Strategie einer chimärischen Konsensualität unter Juden. Das ist symptomatisch für die isolationistische Besprechung der Beschneidungsdebatte als „Judenfrage“. Das Gericht aber war gegen einen muslimischen Beschneider gerichtet. Zur Debatte steht überdies gar nicht ein zur Zeit wohl illusionäres Verbot der Jungenbeschneidung, das Muslime, Juden und afrikanische Religionsangehörige träfe und zugleich schützte, sondern eine deutsche Vorreiterschaft in der Legalisierung der rituellen Beschneidung auf Kosten des liberalen Rechtsstaates. Eine Vorreiterschaft, die jene aktuellen Bemühungen arabischer Säkularisten zunichte macht, die Scharia aus dem Gesetz so weit als möglich heraus zu halten. Warum sollen Tunesien, Lybien, Ägypten über das Verhältnis Religion und Staat diskutieren, wenn Deutschland den Religionen Ausnahmen des individuellen Rechts auf Unversehrtheit gewährt? Die Muslimbrüder und Salafisten werden sich über dieses anstehende Gesetz freuen.

Antisemitismus zeichnet die Anwendung von doppelten Standards aus. Die allgemeine Kritik an der Beschneidung zeichnet sich nicht durch doppelte Standards aus, diese werden vielmehr von den Beschneidungsbefürwortern eingefordert, die um jeden Preis die allgemeineren Konsequenzen der Legalisierung der Beschneidung ignorieren.

Wer sich, anders als Dershowitz, für eine kritische Wissenschaft interessiert, dem sei folgende Graphik als Beispiel für die Widerlegung von – unter Medizinern und Pharmareferenten altbekannten Statistiktricks – empfohlen. Es heißt beispielsweise, die Beschneidung schütze vor Peniskarzinomen. Unter http://www.circumstitions.com/Cancer.html finden wir folgende schlüssige Widerlegung:

Wer als philosophisch halbwegs gebildetes, zur Erfahrung fähiges Individuum sich mit den medizinischen Argumenten der Beschneidungsbefürworter skeptisch befasst, kommt zum Schluss, dass kein gültiges oder gefälschtes medizinisches Argument die Beschneidung rechtfertigt. Die Anerkennung der Vorhaut als Sexualorgan genügt, um ihre Amputation zu diskreditieren. Man zieht keine Zähne, um Karies zu vermeiden – auch wenn das hocheffizient wäre.

Am Beispiel der angeblichen HIV-Prävention lässt sich das illustrieren. Beschnittene, so will eine Studie aus Uganda herausgefunden haben, solle weniger häufig HIV-Neuinfektionen erlitten haben, als eine Vergleichsgruppe von Unbeschnittenen. Nun ist der Zustand der afrikanischen Universitäten trotz beachtlicher Ausnahmen und Fortschritte eher prekär, entweder auf Religion oder Positivismus geeicht, aber nähmen wir an, die Studie sei verlässlich und belastbar, was sie nicht ist.

What’s worse, because of the publicity surrounding the African studies, men in Africa are now starting to believe that if they are circumcised, they do not need to wear condoms, which will increase the spread of HIV (Westercamp 2010).  Even in the study with the most favorable effects of circumcision, the protective effect was only 60% – men would still have to wear condoms to protect themselves and their partners from HIV. 

In the USA, during the AIDS epidemic of the 1980s and 90s, about 85% of adult men were circumcised (much higher rates of circumcision than in Africa), and yet HIV still spread. [Via circumcision myths]

Am Beispiel Ghana lässt sich auch die fatale Konsequenz ablesen, die eine Ausbreitung des HIV-Beschneidungs-Mythos haben kann. Die Mehrheit ist hier aus traditionellen Gründen beschnitten. Gleichzeitig hatten hier Aufklärungskampagnen ein hohes Bewusstsein von HIV geschaffen, die HIV-Rate ist mit 3% im afrikanischen Vergleich „niedrig“. Kondome sind überall erhältlich. Kommt nun der Mythos verstärkt durch weiße „Wissenschaftler“ in Umlauf, dass die Beschneidung vor HIV schütze, werden sehr wahrscheinlich mehr Männer ihren bereits vorhandenen Beschneidungsstatus (möglicherweise auch auf Wunsch von Frauen) gegen das Kondom eintauschen – und sei es nur in den Jugendlichen gemeinsamen Unsicherheitssituationen, bei denen Sex ohne Verbalisierung und Aushandlung verläuft. Auch wenn der medizinische Glaube wahr währe, dass die Beschneidung zu 60 % weniger Übertragungen bei Männern ermögliche, so wäre das Ergebnis des Mythos eine Ausbreitung von HIV – aus soziologischen und sexualpsychologischen Gründen.  Das Kondom mit 99% Sicherheit würde gegen die Beschneidung mit vermeintlichen 60 % Sicherheit eingetauscht. Das wäre dann das Resultat jener Pseudowissenschaft, die Dershowitz so vollmundig als „wahre Wissenschaft“ anpreist.

Quelle: Alan Dershowitz 2012: ‚Der gute alte Antisemitismus.‘ In: Jüdische Allgemeine 36/12, 6.9.2012, S. 8. Via: http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/13922

Drei weitere Artikel zur Beschneidung auf Nichtidentisches sind über folgende Links abrufbar:

Ein Beitrag zur Beschneidungsdebatte

„Die latente Unehrlichkeit ihres positiven Israel-Knacks“ – Eine Diskussion der Gegner der Gegner der Beschneidung

Schuld und Vorhaut

„Landfrieden“ der Bäume

Als zum Jahrestag des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen Joachim Gauck, die aktuelle Personifizierung des deutschen Staates, eine Eiche pflanzte, war das ein rätselhaftes Ritual: Ist denn dieser Baum nun ein Jubiläumsbaum, eine Siegeseiche? Und selbst wenn es eine „Friedenseiche“ sein muss, mit wem wurde dieser Friede geschlossen? Mit den Rostocker Bürgern, die damals sich vor Lust am Verfolgen kaum einkriegten? Mit den Einwanderern, die niemals Krieg führten? Mit den Neonazis, die gewiss unbeeindruckt von irgendwelchen Eichen immer noch Krieg führen?

Wer von Staates wegen den nazistischen Terror bekämpfen wollte, dem stünde ein einziges probates und wirksames Mittel bereit: Die „Illegalen“ sofort legalisieren, Residenzpflicht, Sammelunterkunft und Gutscheinzwang abschaffen, das Asylrecht wieder herstellen und für jeden nachweislich von Nazis ermordeten Flüchtling, Juden, Einwanderer, Antifaschisten, Obdachlosen 100.000 bedingungslose Einwanderungsgenehmigungen im Trikont verteilen. Das wäre eine Geste, die tatsächlich Frieden mit der Einwanderung schaffen würde und den Nazis den Krieg erklärte. Die deutschen Konservativen, Grünen, Liberalen und Sozialdemokraten aber glauben, mit einem einzigen gepflanzten Bäumchen sei das überhaupt nicht heimliche Bündnis von Neonazis und Abschiebestaat so einfach zuzudecken.

Das glaubt auch Götz Ali. Unter dem markigen Titel „Der Landfriede muss geschützt werden“ regt er sich auf. Vor allem darüber, dass eine Rostocker Antifa in einer nächtlichen Aktion just diesen „Friedenseiche“ genannten Triumphbaum des Neonazismus gefällt hatte. Für ihn steht das am Beginn einer Reihe, in der das Attentat auf einen Rabbi in Berlin und der Überfall von Neonazis auf ein Tanzcafé in Zwickau folgen, bei beiden Vorfällen wurden insgesamt drei Personen schwer verletzt.

Die Untaten von Rostock, Berlin und Zwickau weisen Unterschiede in den Zielen auf und, was Rostock betrifft, in der Wahl des Mittels, aber einiges haben sie gemein. Die Täter verletzten mehrere Grundrechte anderer. Sie agierten in Gesinnungsgemeinschaften und aus weltanschaulichen Motiven. Ihre aggressiven Akte verübten sie nicht gegen Individuen, mit denen ein spezieller Streit entstanden war, sondern gegen Angehörige einer als feindlich oder als andersdenkend angesehenen Gruppe. Damit schädigten sie das auf zivile Konfliktregelung bedachte Zusammenleben aller. Sie förderten den Großgruppenhass, der ein Gemeinwesen dauerhaft unterhöhlen kann.

Für Götz Aly ist also diese Eiche eine „Angehörige einer als feindlich oder als andersdenkend angesehenen Gruppe“ mit „Grundrechten„. Das gerbsäureproduzierende Laubholzwächs kann nun nicht mehr heiraten, wen es will, und sich nicht mehr frei versammeln. Auch Artikel 16 und 20 der Grundrechte kann der Baum nicht mehr wahrnehmen, Götz Aly hält offenbar von beiden zu wenig, um hier einen Zusammenhang zu erstellen. Aus einer minderen Sachbeschädigung, eventuell noch einem Verstoß gegen irgendwelche Baumgesetze, wird für ihn ein „Landfriedensbruch“. Weil man nun, so Aly, nicht mit „Toleranzkursen“ den Antifaschismus auf Friedlichkeit verpflichten könne, gebe es für alle drei Beispiele von Landfriedensbruch nur ein Mittel:

Es geht darum, Grenzen zu ziehen und die Verletzung des Landfriedens aus politischen und weltanschaulichen Motiven – insbesondere das Schlagen, Treten und Morden von Menschen, weil sie nicht der eigenen, sondern einer anderen Gruppe zugerechnet werden – unnachsichtig zu verfolgen und hart zu bestrafen.

Gerade einem Experten der Geschichte des Nationalsozialismus sollte so ein Aufruf als Verharmlosung nachgetragen werden. Die platte Formulierung „Großgruppenhass“ hat schon ihren eigenen Frieden gemacht mit dem Hass auf Kleingruppen wie Juden, Obdachlose, Flüchtlinge oder eben jene Vietnamnesen im Rostocker Sonnenblumenhaus. Dieser infame und zynische Aufruf zur Verfolgung eines gelungenen Streichs gegen einen der dümmlichsten, pervertiertesten, infamsten Akte des „Staatsantifaschismus“ seit Jahrzehnten als Landfriedensbruch trägt gewiss nicht zu einer freieren und gerechteren Gesellschaft bei, er suggeriert vielmehr, dass soweit alles in friedlicher Ordnung sei, solange nur genügend Bäume gepflanzt werden.

„…jene kühlen Rationalisten…“

Die Rede von der Kultur war schon immer wider die Kultur, sagt unser alter Meister Adorno. Reden wir deshalb von Kultur. Kultur in Deutschland bedeutet zum Beispiel die katholische auf dem Dorfe, zu der ein Kind jüngst gegen den Willen der Mutter und dem Willen des Vaters entsprechend höchstrichterlich verdonnert wurde:

Unter Abwägung aller Umstände „erscheint es für das Kindeswohl förderlich und auch notwendig, den Besuch des Unterrichts und der Schulgottesdienste zu ermöglichen“, heißt es in dem abenteuerlichen Beschluss. Die Nichtteilnahme stelle aufgrund von „Ausgrenzung“ „eine Gefährdung des Kindeswohls dar“.

Nach Ansicht des Gerichts sei zu „berücksichtigen, dass die Kinder außerhalb der mütterlichen Wohnung sich in einem ländlich-katholisch geprägten Umfeld bewegen und christliche Symbole und Rituale für die Kinder nichts Fremdes darstellen, diese vielmehr als Teil des Alltags anzusehen sind“. So sei die Teilnahme am Religionsunterricht und an Gottesdiensten „lediglich eine Fortsetzung des Kontaktes mit Religion, den die Kinder bislang außerhalb der Haushalte der Eltern erlebt haben“. (Taz: 23.7.2012)

Auf einem katholischen Dorf – nehmen wir etwa jene aus einer alten geopolitischen Laune heraus wie Fliegen um den protestantischen Kuhfladen Marburg schwirrenden, düster vor sich hinrottenden Fachwerkmonster – auf einem solchen katholischen Dorf bedeutet dieser Kontakt mit Religion als Teil des Alltags zum Beispiel drei Meter hohe Christusstelen aus rotem Fels, der vor lauter Geißelung Christi mit gigantischen, mehrschwänzigen Peitschen starrt. Eingemeißelte Sinnsprüche scheinen direkt der ästhetischen Tristesse der verregneten Vorgärten entsprungen zu sein: „Sieh, oh Mensch, mich an und frag ob mein Leid deinem gleichen kann.“ Man kann das tolerieren als Zeichen der Geschichtlichkeit und gegen ikonoklastische Zerstörungsversuche sollte man sogar diese sadomasochistischen Sandsteinungeheuer verteidigen.

Der „Kontakt mit der Religion“ muss aber trotz dieser Öffentlichkeit von Religionsdruck gar nicht notwendig stattfinden, solange Eltern sich nicht in das Kollektiv einschweißen. Natürlich wird jeder in Kirchennähe um 6 Uhr morgens aus dem Bett geläutet, auch wenn heute jeder Laden und jeder Friedhof erst um zehn öffnet und atomuhrbeweckerte Bauern ohnehin schon um vier beim Melken sind. Und selbstverständlich werden Kinder indoktriniert. Etwa dazu, in der Karwoche um 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends mit dem Ratschenlauf die Glocken zu ersetzen. Übermüdete Kleinkinder werden dann von irgendeiner engagierten Furie vor sich her getrieben, damit sie nicht umfallen. Im Anschluß lernen sie das offizielle Spendensammeln für diesen Dienst am Herrn, während man „Zigeunern“ und „Scheinbettlern“ ganz christlich die Haustür zuschlägt und das Betteln mit Kindern gerichtlich verfolgt. Das christliche, ehrbare Spendengeld soll natürlich stets irgendwo einem guten Zweck dienen und zur Belohnung kriegt das Kind dann an Weihnachten eine neue Spielkonsole für 270 Euro, weil es so artig fromm war und damit es nach Weihnachten noch Sternsingen geht. Weil es sich in seiner medial marginalisierten Freizeit eventuellst doch mit „Asylanten“ aus nahegelegenen Flüchtlingsgefängnissen einlassen könnte, wird es zum Meßdienern und zur Mitgliedschaft in der KJG angehalten. Sollte immer noch Zeit für kritische Gedanken bleiben, wird es mit weiteren üppigen Geschenken zur Kommunion oder Konfirmation überredet, dann hagelt es Motorroller, I-Phones, Snowboards. Bei jedem Kirchgang passiert das sozial integrierte Kind ein Heldendenkmal, das ihm die armen deutschen Soldaten der beiden Weltkriege als Vorbilder und wahre Christen anempfiehlt, ein jährlich erneuerter Kranz der Universitätsstadt leistet offiziösen Hintergrund-Applaus, in Trachtenröcke gewickelte Öhmchen gießen die schmückenden Petunien in Angedenken an ihre gefallenen Helden der Ostfront.

Wer einem solchen Richterurteil entgeht und in wohliger Ausgrenzung nicht an diesem Spektakel teilhaben muss, räkelt sich im Bett mit Astrid Lindgren, Enyd Blyton, Charlaine Harris oder J.K. Rowling. Während in meinem einstigen, badischen Heimatdorfe andere in den Konfirmandenunterricht oder zum dort stark vertretenen syrisch-orthodoxen Pendant mussten, studierte ich auch gern die „Dokumente der Weltrevolution: Der Anarchismus“ aus dem Regal der Eltern oder ich las Emile Zolas „Bestie Mensch“. Mein kindlicher Hang zur Blasphemie beschränkte sich auf naive Vorträge darüber, dass Gott ja ein Sadist sein müsse oder es ihn nun mal nicht gebe, was ältere weibliche Nachbarn zu erschrocken geschürzten Mündern reizte. Nicht fehlte ein infantiler, antireligiöser Antisemitismus von dem ich glücklicherweise durch Kritik und diverse Lektüren geheilt wurde. Als Student las ich dann die Bibel, von vorn bis hinten, was mir einen erstaunlichen intellektuellen Vorteil gegenüber jenen verschaffte, denen das Ganze wegen Bibel- und Religionsunterricht völlig äußerlich geblieben war. Auch den Koran, versteht sich. Leider nicht auf Arabisch, aber dafür ganz durch. Und Nietzsche, den Verkannten. Mir lag nun nicht mehr soviel an Blasphemie als am Verstehen, warum Menschen diese Projektion akzeptieren und wie die atheistische Aufklärung über bloße nihilistische Negation des Christentums hinaus gehen könnte. Eines konzedierte ich jedoch nie: Dass die Nichtexistenz Gottes nicht beweisbar wäre, und daher nur Agnostizismus angebracht sei. Die Mysterien des Universums, der Mikrobiologie, der Psychosomatik oder der Tiefseezoologie mit dem religiösen Gottesbegriff zu vermischen, aus der von seriösen Wissenschaften ausgehaltenen Unsicherheit über offene Fragen der Astrophysik die Möglichkeit einer Existenz irgendeiner weltweit präsenten Gottesprojektion zu extrahieren, ist schlichtweg ein dummer Kategorienfehler.

Zeitgleich zu meiner eigenen Entradikalisierung des Atheismus entradikalisierte sich die christliche Religion. Der Religionsunterricht wurde während meiner Schulzeit langsam mit dem Ethikunterricht ergänzt, Kreuze in Klassenzimmern wurden in Frage gestellt, Kirchen leerten sich oder wurden ganz verkauft und Religion befand sich definitiv auf dem Rückzug.

Sie ist spätestens seit den islamischen Karikaturenkriegen wieder da, und sie nimmt aktuell das Judentum in Schutzhaft. Nicht nur das klerikalfaschistoide, antisemitische Kreuz.net entdeckt plötzlich Sympathien für das Judentum. Martin Mosebach, ein, es ist wirklich ZU infantil um lustig zu sein: „Büchner-Preisträger“, forderte jüngst in der FR ein ganz ökumenisches Verbot der Blasphemie, als gäbe es nicht selbiges schon längst. Matthias Mattussek leistet ihm im Spiegel Schützenhilfe, wegen der Beschneidungsdebatte sei ein Nachdenken über die Eindämmung der Blasphemie angeraten. Robert Spaemann schließt sich der Front in der Faz an:

Das deutsche Recht und mehr noch die deutsche Rechtsprechung muten es dem religiösen Bürger zu, dass das, was ihm das Heiligste ist, ungestraft öffentlich verhöhnt, lächerlich gemacht und mit Schmutzkübeln übergossen werden darf.

Irgendein Trauerkloß von Erzbischof wittert dieselbe Morgenluft und kopiert das natürlich sofort ab. Und im Tagesspiegel flennt sich Malte Lehming über die „Diktatur des Rationalismus“ aus, die kalt und herzlos „die Toleranz auf dem Altar des Humanismus“ opfere. Der individualistische Rationalismus in seiner „Eintönigkeit“ mache dem kollektiven, bunten Fastnachtsfest der Religionen und Kulturen die Farben und Formen madig. Ganz ähnlich überqualifiziert wertet sich Volker Heise in der FR an einem Phantom von „durchsäkularisierten“ Deutschen auf, denen er das schlimmste aller Verbrechen unterstellt: keine Hoffnung zu haben. Anders als christoide Menschen würden sie ihr Heil nur in „Rentenversicherungen,  Fernsehapparaten, oder Ferien auf Mallorca“ suchen, in einer unglaublich „vornehmeren Variante“ seien es „Apple-Computer, Theaterbesuch, Haus in der Uckermark oder im Taunus“. Ihre Kinder würden durchsäkularisierte Deutsche mit 1,8 Tonnen Ritalin jährlich füttern, während die Kirche doch für konzentrationsfördernde Therapien bekannt ist. Zum Beispiel durch jenen katholischen Franziskanermönch Brzica, der im Jahr 1942 in Serbien sehr konzentriert in einer einzigen Sommernacht 1360 gefangenen Serben und Juden die Kehle durchschnitt. Und was den vor Religionsstolz berstenden Heise ausgerechnet darauf bringt, den desolaten Immobilienmarkt in der braunen Uckermark gegen die christliche Fürbitte auszuspielen oder ein Haus im Fichtenforst Taunus gegen die Eucharistie? Vielleicht hat er in protestantischer Erwerbsethik gefehlt.

Nun ist solcher eitle, schleimige, altherrenreligiöse Furor altbekannt, schon Descartes schien sich bereits in einer Art Abwehrkampf gegen „Atheisterey“ zu befinden und Sokrates hatte bekanntlich die schönen Götter beleidigt. Speziell interessant wird das aktuelle, an der Beschneidungsdebatte aufgeladene Theater der Kulturkämpfer, wenn sie wie bei Spaemann einmal konkret werden:

Stellen wir uns vor, es erschiene irgendwo das Bild einer Gaskammer mit der Überschrift „Arbeit macht frei“, in der sich zahllose halbtote Frösche befänden. Niemand würde hier bestreiten, dass das Beleidigtsein von Menschen objektiv gerechtfertigt ist. Die Leugnung des Mordes an sechs Millionen Juden sollte zwar so wenig strafbar sein wie die Leugnung des Kreuzestodes Jesu zum Beispiel im Koran. Sie ist einfach eine falsche Tatsachenbehauptung. Für Wahrheitsfragen aber ist der Staat nicht die entscheidende Instanz. Die Verhöhnung der Opfer dagegen wäre eine objektive Beleidigung, die mit Recht nicht straffrei bliebe.

Spaemann stellt sich in dieser Ausgeburt seiner pathischen Projektion also tote Juden als halb(!!!)tote Frösche vor. Gerade mahnt uns schon Lehming an, dass Rationalisten ja auch Augen auf Fotos ausstechen würden ohne Skrupel zu empfinden, nun kommt hier noch so ein heimlicher Psychopath und bringt mental Frösche in Gaskammern „halb“ um, natürlich nur, um im besten Interesse der so verhöhnten Opfer etwas zu illustrieren. Dieses Etwas stellt sich so dar: Für Christen sei Gotteslästerung so schlimm wie eine zynische Verspottung von Shoah-Opfern für Juden und Atheisten. Die Verspottung nimmt Spaemann aber erst einmal selbst vor, in kurioser Ermangelung handgreiflicher und wirklich absurder Bösartigkeiten. Man müsse halt nur einmal drastisch vor Augen führen, was Blasphemie so bedeute und als Beispiel nimmt man dann das, was den Juden wohl so der Gott sein müsse, nämlich die Gaskammern. Und steckt da dann halbtot herumzappelnde Frösche rein. Als Gedankenspiel. Man wird ja wohl  noch, im Namen des Herrn. Sonst wäre ja Blasphemie gar nicht begreiflich zu machen, den gaskammeranbetenden Juden, Nazirationalisten und Blasphemikern, die gar nicht fühlen und wissen, wie heilig und groß und prächtig so ein christlicher Gott ist, der natürlich trotz der so feinsinnigen, spielerischen Gleichsetzung gar nichts mit Gaskammern zu tun habe. Dank Spaemann durften wir nun wirklich an Leib, Geist und Seele fühlen, wozu ein tonnenschwer gekränkter ungeglaubter Glaube bei schlecht getauften und durchaus heftig delirierenden Christen in der Lage ist.

In der Beschneidungsdebatte verläuft das ähnlich niveauvoll. Religionen, die über Jahrtausende aus ganz religiösen Gründen Pogrome durchführten, kumpeln nun das Judentum an, weil dessen offizielle Vertreter ein Ritual der Genitalverstümmelung gegen legitime Kritik und einiges antisemitisches Ressentiment verteidigen und dabei leider nicht immer genau trennen können. Die christlichen Reaktionäre wittern in dieser Gemengelage die einmalige Chance, hier das Judentum als menschliches Schutzschild für ihre Restauration des religiösen Kollektivzwangs instrumentalisieren zu können. Sie stellen dabei auf den Erfolg des Islamismus ab, der den Paragraph 166 StGB auf sich selbst zurückführte:

§ 166
Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen

(1) Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.

Die unfriedlichen Religionen erhalten demnach Recht gegen die Blasphemie, wo friedliche Religionen beschimpft werden, ist der öffentliche Friede nicht gestört. Das ist auch das Problem von Mosebach, Mattussek und Spaemann. Das Christentum mauzt nur noch gelegentlich auf, etwa wenn der Papst als inkontinent karikiert wird. Nicht ein Blasphemieverbot wollen sie einfordern, sondern Unfrieden anstiften. Wozu ihnen, wie sie bewiesen haben, wirklich jede Geschmackslosigkeit und Stumpfheit recht ist, die sie dann dem Rationalismus als Mangel an Empathievermögen auf die Rechnung schreiben.

Dagegen lässt sich Blasphemie nur als adäquate Protestform betreiben und begreifen, als dialektische, notwendige Entsprechung zu narzisstisch dauergekränkten, erzchristlichen und neosensualistischen, kommunitaristischen Restauratoren. Gegen solche Zumutungen hat jedes Titanic-Titelbild sein Recht und darin ist Gesellschaft tatsächlich noch zu rerevolutionieren durch einfachsten Fäkalhumor und auf diese lächerliche, stumpfsinnige, beleidigte, zur Solidarität unfähige, faule, mit dem Lockenfrosch gepuderte, hirngespinstige, pathisch daherprojizierte, selbstermächtigende, widerwärtig lügende, kastrierende, menschenopfernde und kannibalisierende, sadistische, wahnsinnige, wagnerhörende, unbelesene, ranzige, autodafierende, pogromierende, abschiebende, füsilierende, garottierende, faschisierte, flachsinnige, partout nicht zu entblödende, von siebzehnschwänzigen Fuchsgespenstern aus allen chinesischen Provinzen gerittene Gottesprojektion der Christen gemünzte Unflätigkeiten.

Schuld und Vorhaut

 Der folgende Artikel bildet den vorläufigen Abschluss einer Trilogie. Die Beschneidungsdebatte, die keine ist, verläuft entlang tiefenpsychologischer Verwerfungslinien. In zwei weiteren Beiträgen (1, 2) problematisierte ich die Sexualneiddimension: Sobald der Vorhaut ein Wert zugesprochen wird, werden zwangsläufig bisherige Kompensationsformen der Differenz in Frage gestellt. Verdrängter Neid und Kastrationsangst beherrschen dann die Abneigung gegen die jeweils andere Position.

Die zweite Ebene ist die einer allgemeinen analen Abwehr der Vorhaut als Zeichen zu intensiver Körperlichkeit: Sie stinke, sehe hässlich aus, sei wertlos, überflüssig, ein Irrtum der Evolution, befördere Krankheiten und in den puritanischen Ländern symbolisiert sie die Onanie. Für die symbolische Aufladung der Vorhaut und der Beschneidung gibt es zwei mediale Beispiele.

Ein populärer Film über Katharina die Große stellt der edlen Schönheit Katharina einen infantilen, perversen, hässlichen Peter gegenüber, der wegen seiner Phimose kein Kind mit der Zarin zeugen könne. Die wird aber von ihrem Liebhaber schwanger. Es muss also schleunigst ein Akt mit dem Zar Peter stattfinden, damit man ihm das Kind unterschieben kann. Man macht ihn betrunken und beschneidet ihn, in der nächsten Szene lässt er sich dann endlich verführen. Die Vorhaut symbolisiert hier das Elend eines ganzen Reiches, ihre Beseitigung bereitet die Beseitigung des Zaren vor und damit die „Befreiung“ Russlands.

Der Film trägt jenseits dieser symbolischen Dimension zum populären Irrtum bei, eine Beschneidung sei ein winziger Eingriff, den man im Zustand durchschnittlicher Trunkenheit kaum bemerke und dem am nächsten Tag Sex folgen könne: Der Film-Schnitt legt zumindest diese Abfolge nahe.

Ein weiterer Film, in dem die Beschneidung verharmlost wird, ist „Robin Hood – Helden in Strumpfhosen“. Wir sehen eine satirische Gestalt eines missionierenden Juden, der Beschneidungen mit dem Werbeträger verkauft, die Frauen seien ganz wild drauf. Er führt eine Art Guilliotine vor, mit der es in Sekundenbruchteilen vonstatten gehe und danach solle man ein bisschen Wasser drauftun. Der Film ist natürlich nicht ernstzunehmen, dürfte aber durchaus das verzerrte Bild einer Beschneidung von Millionen darstellen: Kurzer Schnitt mit einer Art Guilliotine und kaum Schmerzen.

Tatsächlich werden die wenigsten Menschen außerhalb eines abgehärteten medizinischen Personals Filmaufnahmen einer Beschneidung ertragen können, ohne Phantomschmerzen am eigenen Genital und Übelkeit zu verspüren. Man schneidet sorgfältig einmal senkrecht bis zum Eichelrand und von da mit einer kleinen Operationsschere oder einem Skalpell direkt am Rand zwischen Eichel und Vorhaut entlang. Danach wird alles mit einem selbstzersetzenden Faden vernäht. Der Rand muss genau getroffen werden, da die Oberhaut auch mal verziehen kann und dann zuviel Haut fehlen würde. Bei Erwachsenen dauert die Wundheilung leicht vier Wochen, die Narbenbildung und Veränderung der Eichelhaut erheblich länger und bis zu Jahre später können noch Veränderungen auftreten: vor allem das Abschuppen der verhornenden Eichelhaut, brüchige Hautübergänge zwischen Narbe und Eichel aber auch klassische Narbenschmerzen, Missempfindungen am nunmehr offen liegenden unbefeuchteten Übergang von Harnröhre zur Eichel. Wer die in Lokalanästhesie vorgenommene Operation bewusst mitansieht, kann auch einen reaktualisierten Kastrationskomplex und eine temporäre, tiefenpsychologisch begründete erektile Dysfunktion erleiden. Alle Symptome lassen sich relativ gut nachbehandeln, werden aber von Ärzten selten als Nebenwirkung erwähnt oder nachuntersucht. Verabreicht wird in der Regel eine Lanolincreme, um die Hautveränderung zu erleichtern. Keloide kommen vor. Bei der klassischen Hand-Masturbation kommt es insbesondere in der Frühphase der Narbenbildung durch den stärkeren Zug am Gewebe leichter zum Aufreiben des Narbengewebes und auch nach vollständiger Heilung ist die Penishaut aufgrund des wegfallenden Spielraums zugempfindlich. Wer als Kind beschnitten wurde, hat in der Regel bereits vollständig angepasste Masturbationstechniken entwickelt und natürlich gibt es Kompensierungsmöglichkeiten wie die Anwendung von Hautcremes oder Gleitgels.

Die allgemeine Verharmlosung der Beschneidung war bis vor wenigen Wochen noch so dominant, dass Beschneidungsgegner, sogenannte Intaktivisten, als obskure Sekte mit einem massiven Kastrationskomplex verlacht wurden, die aus einer Mücke einen Elefanten machen. Es gab Studien, die eine (durchaus mögliche) narzisstische Besetzung der Vorhaut in toto pathologisierten und die Akzeptanz der Beschneidung zum Beweis einer gesunden Psyche nahmen.

Wenn in wenigen Wochen ein Gesetz verabschiedet sein wird, das Beschneidungen unter bestimmten Maßgaben legalisiert, geschieht das mit dem Argument „jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland zu ermöglichen“. Diese Formulierung ist bezeichnend. Eine religiöse Praxis wird mit „Leben“ in eins gesetzt, darauf zu verzichten würde den Tod bedeuten. Nicht nachgewiesen ist, wie das Leben von Juden und Muslimen sowohl von der Religion wie auch von der Beschneidung und wie Religion von der Beschneidung zwangsläufig und auf ewig abhängen sollen.

Schreckensszenarien werden entworfen: Die fraglichen Gruppen könnten nach Polen (!) oder in noch barbarischere Regionen gehen und dort in unsauberen Hinterhofkliniken ihre Beschneidung vornehmen lassen. Das deutsche Medizinsystem war noch nie in der europaweiten Bestenliste, auf einmal gehören polnische Krankenhäuser, in denen sich  Deutsche ganz gern mal die Zähne oder die Brüste „machen“ lassen, zum medizintechnologischen „Anderen“. Wahrscheinlich wissen Menschen, die solche Ängste vor polnischen Krankenhäusern schüren, nicht, dass rituelle Beschneidungen bei Muslimen recht häufig in der Türkei durch traditionelle Beschneider vorgenommen werden (ein Grund, die Verwandten zu besuchen und manchmal kommen ein paar Dutzend oder Hundert Knaben hintereinander in einem rauschenden Fest dran), oder in Deutschland auch auf dem Küchentisch. Gering dürfte die Zahl der Ärzte sein, die in Deutschland überhaupt noch eigene Operationserfahrungen mit Beschneidungen haben, von Routine ganz zu schweigen. Daran wird auch eine entsprechende „Aufsichts“-Regelung der Bundesregierung nichts ändern, weshalb die Zeit bis zur Gesetzgebung die einzige Gelegenheit bietet, über Beschneidungen aufzuklären und so tatsächlich diese Zustände zu problematisieren.

Bei der Aufklärung stößt man allerdings auf ein tiefenpsychologisches Problem, das sehr viel schwerer fassbar ist, als die bislang angesprochenen Abwehrmechanismen: der Schuldkomplex.

Schuldgefühle löst die Beschneidungsdiskussion auf drei Ebenen aus.

1. Die individuelle Ebene. Eltern haben gegenüber ihren Kindern Schuldgefühle, müssen diese abwehren und sich vergewissern, dass die konkrete Beschneidung ein harmloser Akt war. Die Kinder wiederum haben Angst, ihre Eltern bezichtigen zu müssen und nehmen sie aus Konfliktvermeidung vorauseilend in Schutz. Resultat ist in beiden Fällen die Verharmlosung der Beschneidung, das Verdrängen von negativen Folgen und das Überidealisieren von positiven Folgen.

2. Die historische Ebene: Da Beschneidungen kollektivbildende Akte sind, bedeutet ihre Kritik auch Kritik am Kollektiv, dem aktuellen wie dem historisch sich reproduzierenden. Zu sagen, dass die Beschneidung heute überflüssig, falsch und Genitalverstümmelung ist, bedeutet die Aussage, dass alle Eltern der Geschichte, die diesen Akt vollzogen haben, mindestens im Irrtum und schlimmstenfalls „böse“ Menschen waren. Es ist übrigens fraglich, ob unter historischen Bedingungen eine Beschneidung je präventiven Charakter vor allem bezüglich der Phimose haben konnte. Aus dem Pentateuch ist das Wundfieber als Folge der Beschneidungen überliefert und es wird als Grund angeführt, dass Moses ihr aus dem Weg zu gehen suchte.

Unabhängig davon müssen diese beiden Ebenen in den jeweiligen Konstellationen gelöst werden: In der Familie und im religiösen/säkularen Kollektiv. Wirklich gravierend erscheint mir die für den jüdischen Ritus spezifische dritte Ebene:

3. Die antisemitische Ebene. Wenn, wie Freud nahelegte, die Imaginierung der Beschneidung beim Antisemiten Kastrationsängste auslöst und diese den Kern seines Antisemitismus ausmachen, so war es bislang bequem, zu sagen, dass die Beschneidung ja in Wirklichkeit harmlos ist und der Antisemit schlichtweg irrt über die Beschneidung.

Auf der gleichen Ebene wurden noch die Argumente der Intaktivisten als pathische Projektionen in den Wind geschlagen. Wenn nun die Beschneidung als Akt der Genitalverstümmelung anerkannt wird, erhalten nicht nur die Intaktivisten Recht, sondern auf einer subdiskursiven, unbewussten symbolischen Ebene auch die Antisemiten und deren historische Verbrechen.

Die Beschneidung als Akt der Genitalverstümmelung anzuerkennen bedeutet dann die unbewusste Assoziation der antisemitischen Gewaltakte mit einer Bestrafung für dieses Verhalten. Die Abwehr der Beschneidungsdebatte ist demgemäß die Abwehr der illegitimen Rationalisierung des Antisemitismus an der Beschneidung, letztlich des Antisemitismus selbst und nicht bloß das Eintreten für die Religionsfreiheit oder für ein theologisches, literalistisches Konstrukt des Bundes.

Träfe diese verkürzte und in Reinform schwer nachweisbare Deutung zu, würde sie eine kaum erträgliche Spannung zwischen Bestrafungsphantasie, abgewehrte Identifikation mit dem Aggressor, Kastrationsangst, Schuldvorwurf an die Eltern und Infragestellung des positiven kollektiven Selbstbildes diagnostizieren, die in Verdrängung und Verfolgungsangst münden kann. Die wütenden Ineinssetzungen von Nazismus und Beschneidungsverbot sprechen für die Existenz einer solchen tiefenpsychologischen Problemlage. Der offensichtliche Unterschied, dass der Nazismus nie das Recht des Individuums gegen das Kollektiv vertreten hat, dass also ein individualistisch begründetes Beschneidungsverbot nicht nur dem Kollektivrecht der Religionen sondern auch der suprematistischen Kollektivideologie des Nazismus diametral entgegensteht, wird ausgeblendet. Anstelle theologischer Diskussionen um die (Un-)Möglichkeit der Abschaffung der Beschneidung unter Erhaltung des religiösen Kollektivs tritt eine dualistische Radikalopposition, in der es nur Beschneidungsrecht oder den „Tod“ des jüdischen/muslimischen „Lebens“ zu geben scheint.

Die strukturell antisemitische, aber staatsantifaschistische Mehrheit im Bundestag kann ihrerseits die Drohung nicht aushalten, hier mit der konsequenten Abwertung eines spezifischen jüdischen und muslimischen Rituals dem ganzen in sich selbst tabuierten, aber nie abgeschafften Antisemitismus und Rassismus ein Einfallstor zu schaffen. Die Gesetzesinitiative antizipiert in der Formulierung vom „jüdischen und muslimischen Leben“ den Dammbruch des eigenen Ressentiments und den Umschlag von mühsam aufrechterhaltenem, begriffslosem Staatsantirassismus (dem die Realpolitik ohnehin Hohn spricht) in vernichtenden Antisemitismus. Weil man zu viele der vielfältigen Morphen des Antisemitismus in sich trägt, darf es keinen Makel am Judentum geben, an dem dieser in den deutschen Menschen auf der Lauer liegende Antisemitismus wieder Kraft gewinnen könnte. Die vermeintliche Toleranz ist mühsam durch Idealisierung verdrängtes Ressentiment, für die ernsthafte Bearbeitung von medizinischen, rechtlichen und theologischen Problemlagen bleibt kein Raum.

Wenn der Antisemitismus in dieser Debatte seine Kastrationsphantasien an der Beschneidung rationalisiert, so bedeutet doch die Anerkennung der Beschneidung als Kastration nicht die Legitimation der antisemitischen Kastrationsängste. Die Psychoanalyse des Antisemitismus weist keinen Irrtum über die Juden nach: Der Antisemitismus ist die „gewusste Lüge“, er geht gesellschafltichen Konflikten aus dem Weg und anstatt dort die Kastration zu riskieren, identifiziert er sich mit dem, was ihm als Individuum feindlich ist, dem nationalen oder antinationalen Kollektiv, und projiziert das von diesem als Negatives, Kastrierendes Erfahrene auf „die Juden“. Mit der Beschneidung hat das historisch wenig zu tun, auch wenn sie hin und wieder als Projektionsfläche aufscheint. Gemeinhin bekannt ist, dass der Antisemitismus sich sein Bild vom Juden aus sich selbst heraus schafft. Ein Beschneidungsverbot wird er ebenso inkorporieren wie die Legalisierung – und umgekehrt wird kein Antisemit durch ein Beschneidungsverbot oder eine Legalisierung von seinem Antisemitismus geheilt werden.

Mit der gleichen Begründung lässt sich auch die reaktualisierte Vermutung widerlegen, die Ritualmordlegenden seien an dem wohl ausgestorbenen Ritual entstanden, in dem der Mohel die Beschneidungswunde aussaugte um die Wundreinigung zu fördern und Blutungen zu stillen. Dann wären historisch entsprechende negative Berichte über konkrete Beschneidungsrituale häufiger. Auch in den antiken Antisemitismen findet sich die Beschneidung nur selten als Ideologem gegen das Judentum und wenn, ist es einer Reihe von anderen Ressentiments untergeordnet und tritt als Akzidentielles hinzu. Die europäischen Ritualmordlegenden erwähnen die Beschneidung nicht als verwerfliches Verhalten – dafür aber die Hostienschändung, die Hexensynagoge, den Hexensabbath und die Blut-Geldmagie.

Freud bietet eine zweite, weitaus schlüssigere Deutung des Antisemitismus an: Die von Antisemiten als „schlecht getauften Christen“, die das Negative und die unausgehaltene Widersprüchliche des unbegriffenen, weil unbegreiflichen Christentums auf das Judentum projizieren, allen voran dem christologisch notwendigem Gottesmord und dem magischen, virtuellen Kannibalismus der Eucharistie (projiziert als Hostienschändung und Ritualmord). Daher kam es zu Kreuzzugspogromen und Karfreitagspogromen, Pogrome in Folge von jüdischen oder islamischen Beschneidungsfesten sind jedoch nicht bekannt. Mit dem Hinzutreten des islamischen Antisemitismus wird die Beschneidungsthese Freuds noch unwahrscheinlicher, seine Taufthese ließe sich allerdings problemlos auf den Islam übertragen.

Während also die Freud’sche These zweifelhaft ist, dass der Antisemit seinen zweifellos gegebenen Kastrationskomplex an der Beschneidung bildet (wohingegen nachgewiesen werden kann, dass er ihn daran gelegentlich auflädt), besteht die wahrscheinliche Möglichkeit, dass für jüdische Individuen durchaus eine Abwertung der Beschneidung intrapsychisch Selbsthass und unbewusste Identifikation mit den Antisemiten auslöst, die wiederum abgewehrt werden muss.

Dahingehend ist den Beschneidungsgegnern anzuraten, angesichts der Drastik der hier formulierten Spannung ein Verständnis für diese Überreaktion einzuüben, auch wenn es schwer auszuhalten sein mag, sich nun selbst als Antisemit bezeichnet zu sehen. Weil man den modernen Antisemiten die Klage darüber, zu Unrecht als Antisemit diffamiert worden zu sein, leicht als Verdrängung nachweisen kann und die analytischen Begriffe zur Bestimmung des spezifischen Antisemitismus‘ parat hat, ist es nun umso bedeutender, sich nun selbst nicht analog idiosynkratisch zu verhalten, sondern diesen Verdacht und Vorwurf ernst zu nehmen, zu reflektieren, zu kontextualisieren und die zugrunde liegenden, möglichen Verdrängungsmechanismen ins Bewusstsein zu überführen. In keinem Fall wäre aber dem überkommenen Anspruch der Religionen, nach Belieben mit den Körpern ihrer Kinder zu verfahren, nachzugeben. Das religiöse und noch so orthodoxe Judentum gegen jeden Antisemitismus zu verteidigen ist der kategorische Imperativ. Er bedeutet nicht, eine Religion, und sei es die jüdische, vor zwangsläufigen Konflikten mit dem Realitätsprinzip zu bewahren.

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Die gesamte Trilogie zur Beschneidung auf Nichtidentisches ist über folgende Links abrufbar:

Ein Beitrag zur Beschneidungsdebatte

„Die latente Unehrlichkeit ihres positiven Israel-Knacks“ – Eine Diskussion der Gegner der Gegner der Beschneidung

Schuld und Vorhaut

„Die latente Unehrlichkeit ihres positiven Israel-Knacks…“ – Eine Diskussion der Gegner der Gegner der Beschneidung

Filipp Piatov diagnostiziert in seinem Beitrag zur Beschneidungsdebatte jenen Individuen, die nun die Beschneidung kritisieren, eine „latente Unehrlichkeit“:

Menschen, die sich in jede Israel-Debatte werfen und den jüdischen Staat bis in den Himmel loben, ihn überall verteidigen und Antisemiten kampfeslustig enttarnen. Allerdings hat sich bei diesen glühenden Israelfreunden unbemerkt ein Zwiespalt eingeschlichen, der die latente Unehrlichkeit ihres positiven Israel-Knacks‘ offenbart.

Piatovs Argumentation lautet: Die Beschneidung ist einer der essentiellsten Bestandteile des Judentums. Das religiöse Judentum allein habe den jüdischen Kollektivgedanken getragen und verteidigt und ohne diesen Kollektivgedanken sei Israel undenkbar. Daher ist ein Angriff auf die Beschneidung ein Angriff auf das religiöse Judentum und damit auf Israel. Daher sind die Beschneidungsgegner latent unehrlich. Eine solche Argumentation entbehrt nicht einer gewissen Logik und Wahrheit. Piatov unterstellt aber, dass sein Argument den aufgeklärteren Beschneidungsgegnern entweder unbekannt oder egal ist.

Doch sobald der Jude sein Kind beschneiden will, einen Tag fastet und am Shabbat den PC aus lässt, verliert er seine hippen Eigenschaften und entspricht plötzlich so garnicht mehr dem liberalen Weltbild seiner ehemaligen Unterstützer. Und ist er dann nicht mal mehr bereit, seine eigentlich vorhandene Diskussionsliebe auf religiöse Grundpflichten anzuwenden, so wird aus dem netten Shlomo der fanatische Fundi.

Hier wirft Piatov kosher essen und Shabbat mit  der Beschneidung in einen Topf, was ein Bedürfnis nach Verharmlosung ausdrückt und damit ein verdrängtes Bewusstsein der Drastik des Eingriffs. Die eigentliche Frage an ihn ist aber die, wo er diesen Umschlag vom netten Shlomo zum fanatischen Fundi ausmacht. Es dürfte jedem der von ihm angesprochenen Diskussionsteilnehmer – Thomas von der Osten-Sacken, Gideon Böss, Alan Posener, und in der Sache fühle ich mich mitgemeint – bewusst sein, dass die Kritik der Beschneidung jung ist und aus ihrer Abwehr mitnichten gleich auf Fanatismus geschlossen werden kann. Diesen Personen ist sehr sicher das theologische Dilemma bewusst, in dem sich das religiöse Judentum befindet, sie nehmen keine altkluge, sondern eine avantgardistische Position ein. Der Unterschied ist: Sie haben wahrscheinlich mehr Zuversicht in die Flexibilität jüdischer Theologie und jüdischer Gemeinden als Piatov, der sich Einmischung in theologische Debatten verbittet.

Muslimische Stimmen in der Diskussion sind relativ unterrepräsentiert, was wohl daran liegt, dass die Beschneidung für Muslime Sunna, und damit nicht verpflichtend ist:

Bei den Moslems entscheidet die Beschneidung nicht über die Zugehörigkeit. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Sunna des Propheten Ibrahim und gehört zur natürlichen Hygiene. Es gibt unterschiedliche Strömungen. Nach einigen Imamen wird die Beschneidung empfohlen, nach anderen ist sie zwingend.
Entsprechend der Sunna wird den Eltern geraten, die Beschneidung am siebten Tag nach der Geburt (einschließlich des Geburtstages) vorzunehmen. Sie kann aber auch früher oder später erfolgen, jedoch aus medizinischer Sicht nicht vor dem 4. Tag nach der Geburt. Wer den Eingriff vornimmt, bleibt den Eltern freigestellt.

Piatov hat in einem Punkt zweifellos recht: Das Verbot stellt allein das religiöse Judentum vor eine existentielle Herausforderung. Er streitet zwar nichtreligiösen Menschen, und hier trennt er nicht zwischen Juden und Nichtjuden, die Fähigkeit zur theologischen Exegese ab. Er kann aber auch selbst nichts Argumentähnliches dazu beitragen. Der jüdische Gott als literarische Figur ist nun mal kein auf Literalismus geeichter Gott: Er ist fehlbar und lässt sich mitunter von Argumenten der Menschen überzeugen. Sein Zorn reut ihn ebenso wie seine vergangenen Fehler. Er ist ein zutiefst historischer Gott, der über die Jahrtausende der Überlieferung Gesetze vermittelt, die meist den jeweiligen historischen Bedingungen angemessen sind. Was im Buch Richter steht, widerspricht dem Buch Könige und das wiederum den späteren Propheten. Aus dieser objektiven historischen Vernunft des religiösen Judentums, seinem aufklärerischen Gehalt ergibt sich auch die ambivalente Zuversicht der Atheisten, dass ein Verbot der Beschneidung von Kindern nicht in einem Untergang des religiösen Judentums münden muss. Es überlässt diese Diskussion aber tatsächlich den religiösen Juden und folgt damit der Forderung Piatovs.  Frank Furedi kontextualisiert das theologische Prinzip in seiner Polemik:

The Hasmonean Jewish revolt, in the second century BC, was a response to attempts by their Hellenic rulers to make them give up their ‘barbaric’ customs and adopt a more civilised way of life. One of the catalysts for the revolt was a decree by the Seleucid emperor Antiochus IV, which commanded Jews to leave their sons uncircumcised or face death. This decree, targeting the ‘barbaric’ behaviour of an ‘uneducated’ people, was part of a comprehensive campaign to destroy the Jewish way of life. It is not surprising that the revolt against it, led by Judah Maccabee, is considered one of the defining moments of Judaism. That is why, for any Jew with an historic memory, the current crusade against circumcision will be seen as a less brutal version of the Hellenic project to make Jews more ‘civilised’.

Furedis angenehm ausführlicher Text ist eine wertvolle Infragestellung zahlloser Ressentiments und Unterströmungen der Beschneidungsdiskussion und ausdrücklich zur Lektüre empfohlen. Grundsätzlich sieht er das Recht der Eltern auf jegliche Handlung gegen den Willen des Kindes in Frage gestellt. Hier unterschlägt er das Problem, dass sich alle Eltern vor dem mündigen Kind für alle diese Akte rechtfertigen müssen und für die allermeisten erzieherischen Akte die Zustimmung des reifen Individuums erhalten werden: Es war gut, dass die Eltern einem verboten haben, den heißen Ofen anzufassen. Es war zumindest nicht so schlimm, dass sie einen zum Klavierspielüben ermahnt haben. Für die Beschneidung gibt es aber die Möglichkeit der rationalen Ablehnung des reifen Individuums und somit der fundamentalen unwiderrufbaren Integritätsverletzung. Ein reifes Individuum kann den Eltern zu Recht vorwerfen, durch die Beschneidung beeinträchtigt worden zu sein und hat dann keine Möglichkeit der Reparation mehr. Zu Recht wurde auch die massenhafte, international übliche Praxis der Ohrfeige verboten, auch wenn Millionen Eltern tief überzeugt waren, sie zum Wohle des Kindes auszuüben und sie das Kind auch herzlich trösteten, wenn es danach weinte. Furedi verwechselt Widerspruch und Zustimmung des unreifen Kindes gegen rationale Erziehungsmaßnahmen mit nicht (mehr) oder allenfalls begrenzt rationalen körperlichen Veränderungen, die durch das reife Individuum nur noch betrauert werden können.

Eine weitere Strategie Furedis ist, die Ressentiments nachzuweisen, die über die psychologische Konstitution der Beschneidenden kursieren. Hier ist ihm bedingungslos recht zu geben: es besteht keine zwangsläufige pathologische Konstitution der beschneidenden Individuen. Das ist auch eine Grunderkenntnis der Ritualforschung. Ein Inquisitor konnte die als Hexe gemarterte Person bemitleiden und die Folter abscheulich finden, er musste kein Sadist sein, um dennoch die ekelerregende Folter für absolut notwendig zu halten und durchzuführen. Eine Mutter kann ihr beschnittenes Kind bemitleiden, mitunter stärker traumatisiert werden als das Kind selbst, einem Mohel wird seine Arbeit zuwider sein, wenn das Kind starke Schmerzen hat oder ihm ein Fehler unterläuft. Pathologie und begriffsloses Befolgen von normativen gesellschaftlichen Erwartungen sind auf der individualpsychologischen Ebene grundsätzlich unterschiedliche Phänomene. Pathisch wird der Reflexionsausfall, sobald Reflexion eine Wahlmöglichkeit ist.

Furedi hat sich mit dieser Depathologisierungs-Strategie aber schon wieder der Kerndiskussion entzogen: Ob die Beschneidung selbst ein schädliches oder verzichtbares Ritual ist. Auch seine Argumentation bedarf der Verharmlosung der Beschneidung und des Verweises auf die massenhafte problemlose Anwendung. Vor jeder religiösen Diskussion sollte also die Frage ausführlich geklärt werden, ob die Beschneidung trotz ihrer jahrtausendelangen, religionsübergreifenden, säkularen Anwendung und trotz ihres unbestreitbaren Präventivcharakters bislang vernachlässigte Probleme aufweist, die all jene Vorteile und Partikularinteressen aufwiegen.

Ein von den Gegnern der Gegner vernachlässigtes Problem besteht im Relativismus. Für Thomas von der Osten-Sacken und andere individualistisch argumentierende Positionen (darunter meine) stellt sich primär die Frage der Integrität der eigenen Position. Wenn Aktivisten gegen weibliche Genitalverstümmelung von anderen Religionen erwarten, dass sie zentrale Rituale aufgeben, weil sie das Individuum schädigen, dann müssen wir an die mächtigen Religionen und die Jungenbeschneidung die gleichen Maßstäbe anlegen. Falls die Frage ist, ob sich meine atheistische Positionen für aufgeklärter, „zivilisierter“ als das religiöse Judentum hält: Ja. Meine atheistische, universalistische Position ist paternalistisch, ich habe aber kein Problem damit, es besser zu wissen und ich halte „das Andere“ für fähig genug, dieses bessere Wissen auch einzusehen und zu begreifen oder zumindest zu diskutieren und zu falsifizieren. Gegen – auch von Atheisten gehegte Ressentiments – werde ich das religiöse Judentum in der Beschneidungsdebatte verteidigen, wie ich es bisher – unter anderem mit theologischen Argumenten – gegen vulgäratheistische und ahnungslose Anwürfe verteidigt habe. Die Position des Atheismus aber ist avantgardistisch und muss sich nicht gegen den Vorwurf rechtfertigen, Religionen und auch die jüdische abschaffen zu wollen. Dieser Vorwurf ist wahr und banal, kritikabel wäre, wenn diese Position selbst wieder religiös oder totalitär wird, indem sie unaufgeklärte Aufklärung als unbestimmten Selbstzweck und besinnungslos praktiziert.

Der Antisemitismus hat mit der Beschneidungsdiskussion erst dann etwas zu tun, wenn zum Beispiel nachgewiesen werden kann, dass über die Beschneidung das religiöse Judentum abgeschafft werden soll. Diese Wirkung wäre nur als Absicht antisemitisch, weil die Beschneidung dann nachweislich instrumentell verwendet würde und das Ziel „das Judentum“ unabhängig von spezifischem Verhalten oder Ritus ist. Es ist aber sicher nicht die Absicht von Osten-Sacken, Boess und mir, aus lauter Bösartigkeit heraus das religiöse Judentum vor blöde Rechtslagen und theologische Zwickmühlen zu stellen, sondern diese Autoren stellen die Jungenbeschneidung in Frage, die muslimische, jüdische, afrikanische, säkulare. Tatsächlich glaubt wohl keiner der erwähnten Autoren, zumindest ich, nicht, dass das ohnehin unverbindliche, fallspezifische Urteil in absehbarer Zeit allgemeines Recht werden wird – Deutschland ist zu sehr auf Kultur, Kindergottesdienst und Kollektiv gebürstet und die Kanzlerin Merkel fürchtet schon das Stigma einer „Komikernation“. Es besteht aber die Möglichkeit, das Problem als solches gesellschaftlich zu diskutieren und aus der Selbstverständlichkeit heraus zu bugsieren. Die rituelle Beschneidung wird wohl nicht in den nächsten 100 Jahren fallen, aber vielleicht werden sich, wenn die Debatte anhält, mehr und mehr Menschen entschließen, doch etwas besser darüber nachzudenken und im Interesse ihres Kindes zumindest mehr Wissen und Beratung über mögliche Folgen einzuholen. Und mehr und mehr beschnittene Erwachsene werden aufhören, unbewusst sich selbst oder Unbeschnittene abzuwerten und besser zur Trauer um diesen verlorenen Körperteil in der Lage sein, die erfüllte Lust ohne diesen Körperteil ermöglichen kann.

Furedi schließt seinen Text mit einer Anklage:

What makes the anti-circumcision campaign insidious is not simply its intolerance of the religious freedom of others, but also its arrogant assumption that it has the right to tell other people how they should lead their lives. If I were a religious believer, I would ask: ‘Who made them God?’

Furedi, der vorgebliche Agnostiker, umgeht das Problem der Aufklärung und des Nietzscheanischen Gottesproblems. Die Arroganz des Besserwissenden ist dem besseren Wissen inhärent. Aufklärung ist arrogant, sie sagt anderen Menschen, wie sie ihr Leben besser führen sollten. Furedi beklagt das, aber er hat ein logisches Problem: Er selbst sagt Beschneidungsgegnern, wie sie sich zu äußern haben, wie sie ihr Leben zu führen haben und letzendlich befürwortet er, dass Eltern ihren Kindern auf den Leib schreiben, wie sie zu leben haben – Furedi macht seiner eigenen Argumentationsweise folgend Eltern zu Gott.

Kehren wir nach diesem Exkurs zur Kernfrage zurück: Ist die Beschneidung ein schwerer Eingriff? Fest steht bereits, dass die Befürworter eine Sprache der Verharmlosung pflegen, die für sich schon die verdrängte Schwere des Eingriffs bezeugt. Floris Biskamp in der Jungle World ist schon im Titel ganz immun gegen Schmerzen und Verlust: „Kampf der Supermänner – warum das Verbot harmloser religiöser Rituale nicht Teil einer säkularen, religionskritischen Position ist.“ Biskamp orchestriert die Verächtlichkeit des Gejammers, hier gehe es um Lappalien wie kosher essen, Cannabisrauchen oder Beethovenschallplatten rückwärts hören.

Das Mindeste, was nötig wäre, um die religiös begründete Beschneidung der Vorhaut von Jungen als einen solchen Normbruch zu kennzeichnen und ein staatliches Verbot zu legitimieren, wäre ein weitgehender medizinischer und psychologischer Konsens darüber, dass es sich bei der Beschneidung tatsächlich um eine »schwere und irreversible Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit« handelt, wie es das Kölner Landgericht behauptet. Von einem solchen Konsens kann jedoch keine Rede sein. Die in Judentum und Islam vorgenommene Beschneidung ist nüchtern betrachtet eine Unannehmlichkeit, die man den Jungen ersparen könnte, sie zieht aber bei sachgemäßer Operationshygiene und Narkose weder gesundheitliche noch sexuelle Beeinträchtigungen nach sich. Sie kann getrost unter die zahlreichen Entscheidungen eingereiht werden, die Erziehungsberechtigte für ihre Kinder treffen müssen und die deren späteres Leben irreversibel beeinflussen: Das betrifft die Ernährung, die Wahl der Schule, den Medienkonsum, die kieferorthopädische Behandlung und so weiter. Irgendwo in diesen Katalog gehört die Frage der Beschneidung von Jungen – und nicht unbedingt an die vorderste Stelle.

Er kann schlichtweg nicht nachweisen, dass diese „Unannehmlichkeit“ weder gesundheitliche noch sexuelle Beeinträchtigungen nach sich zieht, es ist zumindest umstritten. Sehr wohl gibt es Studien, die teilweise erschreckend signifikante statistische Werte für beschneidungsspezifische Missempfindungen ermitteln. Ich habe argumentiert, dass die Nichtbeschneidung in Bezug auf mögliche Phimosen ebenso zu Missempfindungen führen kann, aber das wiegt meines Erachtens das andere nicht auf. Wer die Beschneidung bewusst erlebt hat, wird sie schwerlich als „Unannehmlichkeit“ einstufen. Sie ist eine mehrminütige Operation, bei der Nervenstränge durchtrennt werden und die im traditionellen religiösen Ritus und bis vor einigen Jahren auch in der ärztlichen Praxis ohne signifikante Betäubung durchgeführt wird. Die Diskussion der Traumatisierung und Altersspezifik habe ich unten bereits diskutiert.

Betreten wir also noch einmal das medizinische Argument, weil es nicht häufig genug widerholt werden kann:

„Die Vorhaut macht rund 50 bis 80% des Hautsystems des Penis aus, je nach Länge des Penisschafts. Die durchschnittliche Vorhaut hat über 3 Fuß (ungefähr 1 m) an Venen, Arterien und Kapillaren, 240 Fuß (73 m) an Nervenfasern und mehr als 20000 Nervenendungen. Aufgefaltet misst die Vorhaut circa 10 bis 15 Quadratzoll (65 bis 100 cm²). Das entspricht ungefähr der Fläche einer Fünf-Pfund-Note.“

Natürlich nur der Fläche einer Seite einer Fünf-Pfund-Note. Die weiteren Funktionen können an jeder medizinischen Quelle nachgelesen werden, sie betreffen sowohl positive Eigenschaften der Vorhaut-Sekrete als auch eine Erleichterung des Geschlechtsaktes. Ein ausführlicher Kommentar zum Urteil findet sich auf: http://www.beschneidung-von-jungen.de/home/erklaerung-zum-koelner-beschneidungsurteil.html

Tatsächlich gelten die medizinischen Argumente den Befürwortern nichts, sie werden nicht einmal diskutiert. Man stellt sich nicht dem Widerspruch und kommuniziert eine falsche Selbstverständlichkeit. Die Vorhaut gilt konsensuell als das Böse, Schlechte, Verderbte. „Auf der faulen Vorhaut liegen“ phrasendrischt ein FR-Schreiberling, andere sehen die Welt „an der deutschen Vorhaut genesen“, allgemein wird äußerste Beziehungslosigkeit zu diesem anscheinend ungeliebten Körperteil vermittelt, ein stinkendes, winziges, hässliches Fetzchen, um das es nie schade ist.

Von barbarischer Härte geprägt sind einige Lobesreden auf die Beschneidung: Der Mann könne „länger“ oder „intensiver“ etwas leisten und bei der Frau bewirken. Er ist in diesem Argument seines eigenen Rechts auf Lust beraubt, seine Lust wird aus der Versorgung der Frau mit einer maximierten Dosis Penis abgeleitet. Wenig bekannt ist, dass die Beschneidung in den USA nicht aus hygienischen Gründen sondern aus der Anti-Masturbationsbewegung heraus gefördert wurde. Es wird noch zum Vorteil des Mannes umgedichtet, weniger empfinden zu können, und das stellt sich durchaus in eine Reihe mit der Barbarei der toughen Männlichkeit.

Auch der präventive Schutz vor Krankheiten ist ein Scheinargument. Wenn die WHO die Beschneidung empfiehlt, so ist das eher ein Zeichen von Hilflosigkeit gegenüber dem Scheitern von Aufklärung. HIV korrelliert zuallererst mit Misogynie und sexueller Gewalt gegen Frauen, dann mit Aufklärung und dann irgendwann vielleicht einmal mit der Beschneidung. Dass gerade Kritiker des Nexus „Hygiene-Staat-Macht“ auf dieses Argument hereinfallen und eine Körpermodifizierung aus hygienischem Interesse anempfehlen, ist bemerkenswert.

Die Phimose stellte früher zweifellos ein Problem dar, ist aber heute sehr gut und auch unter Beibehaltung der Vorhaut behandelbar, auch wenn aufgrund allgemeiner gesellschaftlicher Klemmigkeit wenig darüber aufgeklärt wird.

Die Ambivalenz der jeweiligen Positionen, die beide in verdrängten Sexualneid oder Kastrationskomplexen verbleiben können, wurde ebenfalls unten diskutiert.

Biskamp argumentiert allerdings so originell, dass ich ihn zu Wort kommen lassen möchte:

Während dieses Theorem davon ausgeht, dass die übertriebene Ablehnung der Beschneidung auf eine Abneigung gegen Islam oder Judentum zurückgeht, könnten auch umgekehrt die Phantasien über die Beschneidung ein Ursprung des Ressentiments gegen Juden und Muslime sein. Davon jedenfalls war Sigmund Freud überzeugt, der zu dem Schluss kam, dass der von ihm beschriebene Kastrationskomplex »die tiefste unbewusste Wurzel des Antisemitismus« sei. Durch die als Kastration fehlinterpretierte Beschneidung werde die von Jungen in der Kindheit entwickelte Angst, vom übermächtigen Vater zur Strafe für die Freude am eigenen Penis und die Begierde nach der Mutter kastriert zu werden, aktiviert und projektiv nach außen gewandt: als Verachtung, Hass und Angst gegenüber der die Beschneidung praktizierenden Religionsgemeinschaft.

Das ist im tiefenpsychologischen Kern annähernd richtig, rechtfertigt aber nicht die Beschneidung. Vielmehr wird die gesellschaftliche Gewalt, der kulturindustrielle Charakter, der religiöse Kontext der jeweiligen Antisemitismen auf den ontologischen Kastrationskomplex eingedampft und implizit die Beschneidung als Wirkstoff gegen diesen angeführt. Wahlweise bleibt das Argument der Härte: Um den Antisemiten nichts nachzugeben, sollte die Beschneidung beibehalten werden. Mit den verhandelten Rechten der Individuen hat das nichts zu tun. Freud jedenfalls ließ allen biographischen Hinweisen gemäß seine Söhne nicht beschneiden und zeitgenössische jüdische Ärzte forderten bereits mit einigem Erfolg die Abschaffung der Beschneidung. (S. „Freud, Moses und die monotheistische Religion. Ein Essay.“ Pieter van den Berg. Via Tilman Tarach)

An dieser Stelle sei auch nochmals das Comic „Foreskin Man“ erwähnt: Es ist primär ein Comic. Comics dürfen Charaktere stereotyp zeichnen, sie haben es immer getan und nicht wenige verwendeten rassistische Formen. Foreskin Man aber könnte ebenso gut jüdisch sein, wie er überarisch gezeichnet ist. Wie die Charaktere antisemitisch visualisiert werden, ist so offensichtlich, dass es schon wieder auf Selbstironie hinausläuft. Hier wird nichts im Unklaren belassen, man braucht keine „Analyse“ dafür. Erwähnt werden sollte aber, dass im Comic die jüdische Mutter ihr jüdisches Kind vor der Beschneidung beschützt sehen will und, ganz unrassistisch und progressiv auch schwarze Charaktere eingeführt werden, die zum Beispiel als „Vulva-Girl“ FGM bekämpfen. Wenn ich diese ironische Komplexität unten verkürzt habe, nehme ich das hiermit zurück. Eine naive, vom Comic unabhängige Wiederholung dieser Stereotype findet sich in der Beschneidungsdebatte allemal. Diese Stereotype werden aber nicht aufgelöst, wenn nicht die Beschneidung objektiv diskutiert wird und man dahergezauberte Fakten auch einmal überprüft.

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Nachtrag:

Ivo Bozic hat unter dem markigen Titel „Cut and Go“ in der Jungle World eine ebenfalls recht originelle Strategie eingeschlagen. Studien gebe es auch zu hunderten über Mobiltelefone (auch über Antisemitismus oder Passivrauchen, wie wir wissen), daher müsse man sich keine wissenschaftliche Meinung bilden, sondern irgendeiner natürlichen Vernunft lauschen. Die äußert sich dann so:

dass bei der Beschneidung, nur ein paar Zentimeter Haut entfernt werden, was, selbst wenn man allen kritischen Studien glaubt, in der Regel ohne Folgen bleibt, während operative Eingriffe zur Vereinheitlichung des Geschlechts Einfluss auf das gesamte Leben der Betroffenen haben.

Das ist erstmal kein Argument, sondern mindestens 3. Erstens, dass „operative Eingriffe zur Vereinheitlichung des Geschlechts Einfluss auf das gesamte Leben der Betroffenen haben„. Unbestritten. Das wurde aber im konkreten Urteil nicht verhandelt und hier das eine gegen das andere auszuspielen macht wenig Sinn, aber mächtig Stimmung.

Dann wieder die Verächtlichmachung der elenden Vorhaut: „nur ein paar Zentimeter Haut„. Bozic weiß es ja nicht so genau, ist es die Eichel oder doch die Vorhaut, die wichtiger sind und deshalb kann es ja nicht so schlimm sein. Es sind 60-100 cm² Penishaut, die in einer Operation zur Zeit meistens ohne Narkose entfernt oder am Entstehen gehindert werden. Ich weiß natürlich, dass man ohne leben kann und auch ein einigermaßen erfülltes Sexualleben genießen kann. Vielleicht weiß es auch Ivo Bozic. Zahlreiche andere erinnern sich mit Unmut und lieber nicht an ihre Beschneidung und viele, die sich nicht erinnern, haben dennoch Probleme damit. Was ihre Sache eigentlich mit jener der Geschlechtsumwandlungen vereinen sollte.

In einem Argument sieht er meinem vormals stärksten Argument für die Beschneidung gleich:

Dass acht Prozent aller Männer weltweit mit Phimose, einer krankhaften Vorhautverengung, zu kämpfen haben, ist Gegenstand ungezählter Untersuchungen, die Folgen körperlicher Art sind nachgewiesen und unbestreitbar.

Auch dieses Phänomen ist mir recht gut bekannt. Man braucht aber zur Entkräftung keine wissenschaftliche Studien, weil es Faktenwissen ist, dass die Phimose fast immer ohne Operation behandelt werden kann und heute nur in wenigen Ausnahmen der verbleibenden Fälle (z.B. Lichensklerose) eine komplette Beschneidung erforderlich ist, weil vorhauterhaltende operative Techniken entwickelt wurden.

Dank seiner lapidaren, wurstigen Behandlung von wissenschaftlichen Fakten, bei denen man halt alles nicht so genau wisse, trägt Ivo Bozic wie schon Floris Biskamp und Filipp Piatov zu seiner schlimmsten Befürchtung bei, dass nämlich die ganze Diskursblase darum herum ganz furchtbar werden wird.

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Nachtrag 2: Das schwer widerlegbare anatomische Argument kann auf zahllosen Seiten aufgerufen werden, so zählt stichwortartig die Seite http://www.circumstitions.com/Functions.html 16 biologische und 6 artifizielle Funktionen der Vorhaut auf. Bemerkenswert ist, dass sich durch alle Bildungsschichten, auch in intellektuellen und gut informierten Kreisen, mich bis vor zwei Wochen eingeschlossen, das Vorurteil gehalten hat, die Vorhaut sei überflüssig und praktisch schon totes, zum Abschneiden prädestiniertes Gewebe. Wer es gern audiovisuell mag, wird hier ein wenig Aufklärung finden:

http://www.youtube.com/watch?v=D_dzeDvx2QA&feature=player_detailpage

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Nachtrag 3:
Die gesamte Trilogie zur Beschneidung auf Nichtidentisches ist über folgende Links abrufbar:

Ein Beitrag zur Beschneidungsdebatte

„Die latente Unehrlichkeit ihres positiven Israel-Knacks“ – Eine Diskussion der Gegner der Gegner der Beschneidung

Schuld und Vorhaut

Ein Beitrag zur Beschneidungsdebatte

Und Gott sprach zu Abraham: So halte nun meinen Bund, du und dein Same nach dir, bei ihren Nachkommen. 10 Das ist aber mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Samen nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden. (3. Mose 12.3) (Apostelgeschichte 7.8) 11 Ihr sollt aber die Vorhaut an eurem Fleisch beschneiden. Das soll ein Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch. 12 Ein jegliches Knäblein, wenn’s acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen. 13 Beschnitten werden soll alles Gesinde, das dir daheim geboren oder erkauft ist. Und also soll mein Bund an eurem Fleisch sein zum ewigen Bund. 14 Und wo ein Mannsbild nicht wird beschnitten an der Vorhaut seines Fleisches, des Seele soll ausgerottet werden aus seinem Volk, darum daß es meinen Bund unterlassen hat.
(1. Mose, 17)

Als das Urteil eines deutschen Gerichtes erging, dass die Beschneidung künftig als Akt der Verstümmelung zu bewerten und somit strafbar sei, stufte ich das zunächst als latent antisemitisch, und zumindest bigott ein. Kindern die Ohren anlegen zu lassen wird von den Krankenkassen aus dem nichtigen Grund heraus bezahlt, weil das Kind in der Schule wegen abstehender Ohren verspottet werden könnte. Die Beschneidung wird kriminalisiert, obwohl sie eine präventive Funktion für einige Krankheiten hat, darunter vor allem die pathologische Phimose, aber auch HIV und diverse Erreger, weshalb sie von der WHO ausdrücklich empfohlen wird.

Thomas von der Osten-Sacken wies indes darauf hin, dass das Urteil einem Rechtspositivismus folgt, der nur konsequent ist:

Da konnte ich nur antworten, dass dem Urteil immerhin die Idee der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz zugrunde liege, eine höchst verteidigenswerte republikanische Idee, die von den Nazis bis aufs Messer bekämpft wurde und die sie deshalb spätestens 1935 mit den Nünberger Rassegesetzen auch abgeschafften, die Nazis also ein solches Urteil natürlich niemals gefällt hätten, sondern ganz im Gegenteil, wo immer sie konnten, jede Art  rechtlicher Sonderbehandlung von Juden befürworteten, ja forcierten. Es wäre also weit mehr im Sinne der Nazis gewesen, allen, laut Nürnberger Gesetzen als Juden definierten Menschen, einen Beschneidungszwang aufzulegen. 

Vor der Diskussion, ob die Beschneidung schädlich oder harmlos ist, schärft Osten-Sacken zumindest die Idee, dass das Urteil auf eine Gesellschaft verweisen könnte, in der man bei einem gegen eine spezifische jüdische Praxis gerichtete Urteil nicht an Antisemitismus denken muss, weil es in dieser Spezifik verbleibt und rational und universalistisch gegen einen religiösen Ritus und für das Individuum argumentiert. Es hängt dennoch eine gewisse linde Bigotterie im Raum: Die Schönheitsoperationen an Kindern sind in gewissem Maße ebenfalls Verstümmelung, den Kindern wird noch amtsmäßig und medizinisch bestätigt, dass sie so krankhaft hässlich seien, dass man ihre Operation fördert, das Ressentiment der Verfolger wird mit Appeasement genährt und rundheraus bestätigt. Die chirurgische Operation führt den Hass der Gesellschaft in Schmerzen über. Indes hat sie keine weiteren Beeinträchtigungen der Funktionalität von Körperteilen, hier vor allem den Ohren, zur Folge. Die Bigotterie kann allerdings dem Gerichtsurteil durchaus äußerlich und damit egal sein, weil ein konkreter Fall verhandelt wurde. Denkbar wäre durchaus eine künftige juristische Erweiterung auf das Ohrenanlegen.

Den Diskutierenden der Online-Institutionen weitaus bedeutender scheint indes die Frage, ob die Beschneidung eine schädliche Operation sei, beziehungsweise die Rechtsgüterabwägung, ob der präventive Charakter und die religiöse Empfindung einen statistisch entstehenden Schaden aufwiegen. Dass die religiöse Empfindung der Eltern gegen das Kind wenn überhaupt das allergeringste Argument sein kann, ist unter der Leserschaft dieses Blogs weitgehend vorauszusetzen. Die Abwägung hat primär zwischen der Prävention und der Schädigung stattzufinden.

Dahingehend gibt es sehr widersprüchliche Befunde.

Erstens wird das Schmerztrauma bewertet. Dabei hat mich das Argument umgestimmt, dass Säuglinge die Operation mitnichten schmerzfrei über sich ergehen lassen, sondern in eine Schockstarre schlafen, die Schmerzfreiheit suggerieren kann. Ich nahm an, dass sich die Schmerzen für den Säugling zwischen Zahnungsschmerzen und Hungergefühlen verorten, damit nicht spezifisch traumatisch und insgesamt vertretbar seien.

The doctors quickly realized that the babies who were not anesthetized were in so much pain that it would be unethical to continue with the study.  Even the best commonly available method of pain relief studied, the dorsal penile nerve block, did not block all the babies‘ pain.  Some of the babies in the study were in such pain that they began choking and one even had a seizure  (Lander 1997).

Disputanden, die wie ich die muslimische Beschneidung an Knaben als durchaus traumatisch ablehnten, die jüdische Beschneidung aber harmlos einstuften, sollten zumindest mangels besseren Wissens Skepsis walten lassen. Was bleibt ist die bessere Heilungsfähigkeit des Säuglings und dessen mangelndem Körperbewusstsein, das Objekte mitunter noch gar nicht trennen kann und den Schmerz auch nicht als Verlust eines zu sich gehörenden Körperteils einordnen kann. Der Säugling erfährt sich als allumfassend und diffus, was zum eigenen Körper gehört und kontrolliert werden kann wird erst nach und nach erarbeitet. Man kann aber mit dem gleichen Argument argumentieren, dass dies möglicherweise eine viel schlimmere Missempfindung bedinge als beim Knaben, der gelernt hat, dass es Grenzen gibt und der aktiv rationalisieren kann, was da stattfindet.

Nicht schlüssig sind Thesen über eine nachhaltige Schädigung des Kindes in der Psyche, die, und hier gilt das Wort einmal, in aller Regel küchenpsychologisch vorgenommen werden nach einem mechanistischen Muster: Beschneidung des Kindes steigert den Kastrationskomplex und löst dadurch Unterwürfigkeit aus. Wie ein Individuum mit einer Traumatisierung umgeht, lässt sich nicht berechnen und durchaus gab es von je her Vertreter der These, dass eine Reifung und Empfindsamkeit ebenso wie Solidaritätsbereitschaft und Widerstandsbereitschaft durch schmerzhafte Erfahrungen gefördert wurde, eine These, die nicht mit der barbarischen Härte des nicht Umgebrachten in einen Topf zu werfen wäre. Es lässt sich aus der Beschneidung kein anderer gesellschaftlicher Zustand ableiten außer jenem, dass diese Gesellschaft Beschneidungen erzeugt. Zweifellos kann aber der Schmerz in Erinnerung bleiben und das wiederum ist eine unnötige Schädigung.

Zur Frage der Beeinträchtigung des Sexuallebens verhärten sich die Fronten, so dass es naheliegt, dass hier der tiefenpsychologische Kern der Auseinandersetzung zu suchen ist. Unglaublich scheint die von der Medizin vorgebrachte Behauptung, dass sich in der Vorhaut 80-90 % der Nervenenden des Penis befinden. Das wird schlüssiger, wenn man bedenkt, dass die Haut hier innen und außen verläuft, also der tatsächliche Umfang doppelt so groß ist als von außen wahrgenommen. Bei der Erektion wird die Vorhaut nahezu unsichtbar, was ihren Status als verzichtbar wahrscheinlich befördert. Bei der Beschneidung kommt es zu einer Verlederung der Eichelhaut, die durchaus als wohltuend, sauber oder attraktiv empfunden werden kann, in jedem Fall aber eine Abnahme der vorherigen biologischen Sensitivität bedeuten muss. Gleichzeitig wird die Eichel während Alltagsverrichtungen häufiger durch Reibung an Haut und Stoff stimuliert, diese erogenen Folgen werden selten diskutiert. Der Vorhaut kommt aber in jedem Fall ein Nutzen zu, sie ist nicht nutzloser, toter Hautlappen sondern Organ.

Dieses biologisch-medizinische Argument allein trägt und rechtfertigt das Urteil. Es impliziert aber auch die Behauptung, Beschnittene seien Verstümmelte. Die Mehrheit der Beschnittenen verlacht das oder äußert sich entrüstet und auch ich reagierte zuerst so. Wahrscheinlich ist, dass diese Behauptung unbewussten Sexualneid auf die Unbeschnittenen auslöst und dieser Sexualneid abgewehrt werden muss, um das narzisstische Selbstbild an dieser bedeutsamen Wunde nicht zu kränken. Entsprechend sind die Strategien Verharmlosung und Leugnung der negativen Effekte der Beschneidung und eine Idealisierung der Vorteile.

Bei Unbeschnittenen stellt sich das medizinische Argument als Kastrationsdrohung dar: Sie setzen ihr eigenes Sexualleben als Maßstab, ziehen davon 90% ab und behalten unter dem Strich einen arg kärglichen Rest zurück. Der Schluss daraus ist der eines unerhörten Diebstahls, einer regelrechten Kastration. Dementsprechend tendiert deren Diskussionsstil leicht zum Antisemitismus, der von je behauptete, Juden wären sowohl kastrierte als auch sexuell übermächtige Geschöpfe. Dass sie als offenbar kastrierte zu lustvoller Sexualität in der Lage sein sollen, können sich die Antisemiten nur durch Magie erklären. Eine weniger von Biologismen getrübte und damit psychoanalytisch informierte Sicht auf Sexualität kann durchaus andere und vielfältige Wege denken, die Sensitivität neu oder anders entstehen zu lassen. Nur gibt es zu viele Berichte von Individuen, denen das nicht gelang. Und deren Recht ist nun durchgesetzt.

Bleibt die Ebene der Schuld. Wenn eine jahrtausende alte Praxis plötzlich in Verruf gerät, bedeutet das den ödipalen Aufstand gegen alle Väter und Mütter, die es vormals anders sahen. Dieses Problem führte bei Aufklärungsprozessen sowohl zu einem Übereifer der frisch Aufgeklärten, die jenen plötzlich als Rückständig definierten nun Aberglaube, Sadismus oder Verblendung, in jedem Fall eine überfrachtete Schuld vorwerfen, als auch zur Verhärtung der Traditionalisten, die von Schuld gerade nichts wissen wollen, wo sie besteht. Zwei drastische und nicht vergleichbare Beispiele möchte ich anführen: In Ghana wurde „Trokosi“, die rituelle und erzwungene Schreinehe von sehr jungen Mädchen mit einem Priester, ein Hetz-Schimpfwort für ethnische Gruppierungen. Gewisse Akan-Elemente hetzen gegen Ewe mit Rufen, die rückständigen und hexenden „Trokosis“ auszurotten. Und wer gegen Hexenjagden sich ausspricht sieht mitunter einige  Traditionalisten gegen sich gestellt, die sich koloniale Einmischung verbitten, (s.u.) während andere daraus ein bloßes Bildungsproblem der zurückgebliebenen Troglodyten machen wollen, das sich durch etwas Entwicklung und Informiertheit auflöse. Mit Ritualtheorien und Begreifen von Religionen hat beides wenig gemein.

Für ungültig halte ich auch Alan Poseners Reduktion der Beschneidung auf einen sadistischen Akt:

Die rührende Gemeinsamkeit der ansonsten verfeindeten monotheistischen Religionen, wenn es darum geht, kleinen Jungen am Penis wehtun zu dürfen, weist allerdings auf ein grundsätzliches Problem hin: auf die frühkindliche Indoktrination, vermittels derer sich die Religionen fortpflanzen.

Der symbolische Charakter der Beschneidung und die Struktur des Ritus beim Judentum deuten jedoch darauf hin, dass hier Schmerz vermieden werden sollte. Die erste Beschneidungen im Pentateuch werden an erwachsenen Männern vorgenommen, Moses versuchte gar, sich gänzlich zu drücken, um das Wundfieber zu vermeiden. Wenn im Lauf der Zeit der Beschneidungszeitpunkt aufs Säuglingsalter verlegt wurde, so ist das eher ein Zeichen, dass man sowohl Schmerzen als auch Verluste durch Wundfieber und andere Infektionen im Interesse des Individuums verhandelte. Das kann von einigen afrikanischen Mannbarkeitsritualen nicht gesagt werden. Hier finden trotz hoher Todesraten tatsächlich grausame Verstümmelungen statt, bei denen der Penis mitunter längs aufgeschlitzt oder absichtlich bei der Vorhautentfernung große Schmerzen zugefügt werden, um die Knaben zu quälen. Leider wird im Begriff der Verstümmelung wenig auf solche graduellen Unterschiede reflektiert, unter denen das Judentum wohl durchaus noch die harmloseste und mit einem Rest Rationalität im präventiven Charakter versehene Form der Beschneidung praktiziert. Die einen wollen tatsächlich kleinen und größeren Jungen am Penis weh tun, die anderen versuchen das nach Möglichkeit zu vermeiden. Das macht einen qualitativen Unterschied in der Wahrnehmung der spezifischen Akteure. Das durchweg mit antisemitischen Stereotypen arbeitende Comic „Foreskinman“ wird sonst noch hoffähig.

Wie unbekümmert und mitunter ressentimentbeladen, aufgeklärt oder unaufgeklärt das Thema unter eher weniger gebildeten Schichten diskutiert wird, kann man hier nachverfolgen:

http://www.lovetalk.de/archiv-aufklaerung/44445-beschneidung-pro-und-contra.html

http://www.lovetalk.de/archiv-aufklaerung/31619-vorhaut-pro-contra.html

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Die gesamte Trilogie zur Beschneidung auf Nichtidentisches ist über folgende Links abrufbar:

Ein Beitrag zur Beschneidungsdebatte

„Die latente Unehrlichkeit ihres positiven Israel-Knacks“ – Eine Diskussion der Gegner der Gegner der Beschneidung

Schuld und Vorhaut

 

Alles freigeräumt. Freiheit und Sicherheit im linken Haus

Die kulturelle Dialektik von Alkohol, Arbeit, Halbbildung und reglementiertem Vergnügen manifestiert sich in Kombination mit individueller Psychopathologie bisweilen in einem unschönen Kneipenszario: Jemand ist betrunken, belästigt andere Gäste, faselt rassistische Monologe oder verletzt die körperliche Integrität von Frauen oder Männern. Natürlich möchten andere Gäste lieber in Ruhe ihren Abend verbringen und daher erteilt jeder halbwegs geschäftstüchtige und vernünftige Kneipenbetrieb solchen auffällig gewordenen Personen ein Hausverbot, um zumindest Wiederholungen von solchen Unannehmlichkeiten vorzubeugen.

Nun gibt es aber auch eine andere Szene, die in Kneipen passieren könnte: Ein politisch aktiver Mensch, vielleicht hat er einen örtlichen Parteienfilz aufgedeckt, vielleicht ist er nur Engländer, schwarz oder schwul oder ein Hergezogener, möchte in einer Kneipe sein Bier trinken. Die Stammtische murren, der Wirt verweigert ihm Getränk und Service. Ein klarer Fall von Diskriminierung. Es steht zwar jedem Verein frei, eine Zielgruppe zu definieren. Wenn an Diskotheken und prinzipiell öffentlichen Kneipen von vornherein eine Selektion stattfindet, wirkt das ein wenig spießig und elitär. Wo Türsteher nach Äußerlichkeiten das Publikum sortieren, entstehen fließende Übergänge zum immerhin heute strafbaren Rassismus.

In sich links oder alternativ nennenden Szenetreffs wiederum findet sich noch nicht allzu lange das Versprechen eines sogenannten „Freiraums“. Die BetreiberInnen solcher Lokalitäten versichern auf Wandanschlägen und Getränkekarten allen Gästen, dass „Sexisten, Rassisten und Antisemiten“ nicht erwünscht seien. In einer Universitätsstadt ergänzt man die Liste der Unerwünschten gerne um Verbindungsstudenten. Wer darüber hinaus sexuell oder verbal belästigt werde oder Belästigungen bezeuge, wird ans Thekenpersonal verwiesen.

Der abgesteckte Katalog von Tatbeständen ist offen für relativ beliebige Modifikationen: von sehr unangenehmen Verhaltensweisen bis hin zur privaten Meinung. Insinuiert wird, dass die inkriminierten Ideologien trennscharf und eindeutig zu bestimmen seien, als gäbe es nicht innerhalb der Linken sehr unterschiedliche Definitionen beispielsweise des Antisemitismus. Das in der Häufung suggerierte Bedrohungspotential erzeugt eine ängstlich-drohende Grundstimmung, der permanenten Angst vor Infiltrierung. Einige Aspekte dieser Angst will diese begrenzt fundierte Analyse begrifflich erfassen und zur Diskussion stellen.

Zunächst wird der eigentlich selbstverständliche Grundsatz des gegenseitigen Respekts und der Höflichkeit zur erwähnenswerten Ausnahme, zum Alleinstellungsmerkmal hochstilisiert. In politischen Institutionen bezeugt eine solche Aufwertungsstrategie ein angekränkelten Selbstbewusstsein. Zwei Elemente kommunizieren doch bereits die Gesinnung dieser Einrichtungen nach außen: Das Veranstaltungsprogramm und die Ästhetik. Wenn nun mit dem Hausverbot für Andersgesinnte ein Drittes hinzutritt, spricht das dafür, dass weder die Ästhetik noch die inhaltliche Präsentation von den linken Orten selbst wirklich ernst genommen werden, dass an ihre kombinierte Wirkung insgeheim gar nicht geglaubt wird.

Bereits die Ästhetik wird durch Kontrolle abgedichtet. Seit Jahren häufen sich Berichte über systematische Diskriminierungen in Szenelokalen. Wenn sie auf zulässige Insignien und Dresscodes verzichteten und dann noch geringfügig eleganter in H&M oder Boheme-Sakko eintreten wollten, wurden gestandene Antifaschisten vom Thekenpersonal unter Generalverdacht gestellt: „Bist du ein Burschi oder was?“

Weil gerade Zugehörigkeit und Gesinnung immer auch unsichtbar sind, sozusagen im schönsten Stressmob-Actionwear-Schafspelz ein Wolf verborgen sein könnte, mahnen zusätzlich Plakate und Bierdeckel-Aufdrucke zur permanenten Wachsamkeit gegen sexuelle Übergriffe und Verbrechen. Die „antisexistischen Bierdeckel“ sind besonders interessant und können stellvertretend für den Umschlag von Solidarität in Paternalismus und Kontrolle analysiert werden. In fünf abgebildeten „Übergriff“-Szenarios wird die Passivität der jeweils viktimisierten Frau als total imaginiert, die Ratschläge richten sich nicht an das prospektive Opfer sondern empfehlen einer dritten Person Handlungs- und Wahrnehmungsweisen an, die meistens selbst übergriffig sind. Die Bierdeckel sind allein ihrer Form nach Propaganda. Mit jedem Schluck soll ein moralisches Wahrnehmungmuster ins Unbewusste transportiert werden. Was an Komplexität solche Situationen ausmacht, wird in Bild und Wiederholung geplättet.

Zunächst aber wäre zu klären: Woher aber kommt diese relativ junge Angst, dieses Gefühl, sich in einem permanenten Abwehrkampf gegen sexuelle Übergriffe zu befinden? Wer in eine bürgerliche Kneipe geht, wird möglicherweise einen Rassisten am Nachbartisch vom Leder ziehen hören. In aller, wirklich aller Regel aber kann jede und jeder in einer durchschnittlichen Kneipe friedlich sein Getränk zu sich nehmen und muss schlimmstenfalls befürchten, vom Nachbartisch von endlosen Belanglosigkeiten und grausam inhaltsleerem Geschwätz oder einer Junggesellinenparty belästigt zu werden.  Die Bierdeckel gestehen das implizit ein: Es wird überhaupt nicht jene rituelle sexuelle Belästigung visualisiert, wie sie tatsächlich in manchen rückständigeren Orten gerade unter Alkoholeinfluß noch usus ist und wie sie auch der männliche Autor dieses Textes am eigenen Leib erfahren hat. Strategien gegen sexuelle Belästigung und Vergewaltigung zu denken und zu üben macht Sinn, aber deren permanente Visualisierung im öffentlichen Raum ist der Instrumentalisierung für andere Zwecke verdächtig.

 „Eigentlich wissen wir es ja. Auch an Orten wie diesem suchen Täter ihre Opfer aus und treten in Aktion – vor unser aller Augen. […] Blicke, Nachgehen, anzügliche Bemerkungen und vieles mehr können jedoch schon Übergriffe sein. Nicht selten gehen sie einer Vergewaltigung voraus.“

Die Bierdeckel-Szenen stilisieren noch Blicke zu „häufigen“ Vorläufern von Gewalttaten und Schaulust hoch. Eine versonnene ästhetische Betrachtung des Anderen wird der grinsenden, abgefeimten Gewalt verdächtig, die des regulierenden Eingriffs einer aufmerksamen, bierdeckelsensibilisierten Person bedürfe, unter Umständen selbst dann, wenn es der oder die Betrachtete selbst nicht bemerkt oder stört. Diszipliniert wird nicht erst durch konkrete Situationen, sondern durch ein Panoptikum, in dem alle sich gegenseitig überwachen und kontrollieren. Mit dem so erzeugten generellen Verbot der optischen Anbetung des Schönen aber wird das Schöne selbst unbewusst durchgestrichen, seine Attraktivität beneidet. Etwas darf schön sein, aber niemand anderes darf es zu lange betrachten. Ein mythologisches Verhältnis spannt sich da auf, das des Medusenhauptes auf der einen und des bösen Blicks auf der anderen Seite. KünstlerInnen und Verliebte studieren Gesichter und Körper, können sich darin verlieren und mitunter vergessen, dass sie mit ihrer bornierten, ewig blickenden Sprachlosigkeit hinter der Oberfläche ein Individuum verunsichern und zum Mittel für ihren Zweck machen. Diese ambivalente und durchaus latent „übergriffige“ Blickerotik wird auf einmal als Vorbote der extremen Gewalt verdächtig, man muss sie daher überall erblicken, erkennen, überwachen und verfolgen, in keinem Fall tolerieren: „Aber wir sehen keine Alternative.“ Auch wo ein lüsterner, älterer Mann jungen Frauen beim Gespräch nur zusieht, und diese sich daran stören, ohne es verbalisieren zu können, steht am Rand des Bierdeckels eine bezeichnende Reihe von Universalrezepten: „feuer rufen, eineinsnull, hilfe holen, öffentlich machen, laut werden, zuschlagen.“ Wie eine angemessene Kritik der Schaulustigen und ein reifer Umgang der männlichen oder weiblichen Schönen mit neidischer oder lüsternerner Schaulust der Anderen zu gestalten sei, denken auch die ausformulierteren Texten über „Blickregimes“ oder „Lookism“ nicht an. Wahlweise ist ihnen der Blick aufs Schöne oder das Schöne selbst verdächtig. Suggeriert wird eine Welt ohne Übergriffe, ohne die alltägliche Zumutung, dass eine Gesellschaft vermittels des Kapitals auf Körper und Geist zugreift, diese für ihre Zwecke verwendet und meist nur ein klägliches Äquivalent dafür bietet. Aufstehen müssen, Bus fahren, seine Arbeit begutachten lassen, sich von nicht so schönen Menschen ansehen, das heißt konsumieren lassen, in einer Kneipe der einzige Nichtraucher sein – das alles heißt Übergriffe am eigenen Leib zu erleiden, die regressive Ausflucht ist die Monade, der Schutzraum, das private, in dem niemand mehr irgendwie übergreift.

Zu begrüßen wäre, wenn tatsächlich betroffene Individuen zu Kommunikationsstrategien und Wehrhaftigkeit gegenüber sexueller Belästigung ermutigt würden, idealerweise in Workshops oder irgend dialogisch. Antisexistische Bierdeckel definieren aber eher neue Formen des Unzumutbaren (Blicke vom Nachbartisch, ein Augenzwinkern, nicht allein auf einer nächtlichen Straße unterwegs zu sein), sie fühlen in steter Wiederholung vor, was Individuen widerwärtig oder verängstigend zu finden haben, und sie steigern so zuallererst die Angst der potentiellen Opfer. Das unterscheidet die wünschenswerte, selbstverständliche und doch nicht zwangsläufige Solidarität mit Opfern vom Paternalismus, der die „Hilfe“ immer mit narzisstischen Boni belohnt und sein Objekt gewiss nicht zur Emanzipation führt.

Einer Frau, die ganz gut brüllen, drohen, einen „Candywrapper“ anwenden oder an entsprechender Stelle zutreten könnte, versichert Bierdeckel Nr. 1, man würde ihr diesen Akt der Aggression abnehmen. Sie soll so wehrlos bleiben, wie man sie erzogen hat. Emanzipation bedeutet aber auch den anstrengenden Verzicht auf die allzu selbstverständliche feminin-passive Auslagerung von Aggression an Dritte, eine Strategie der Kollusion. Aggression und Gewalt darf und soll in dieser Konstellation nur männlich sein – das weibliche Ideal bleibt narzisstisch rein von verfemter Aggressivität. Diese zutiefst patriarchale und ökofeministische Erbschaft aufzukündigen ist nur durch ein Zurückführen von Frauen an den verlernten strategischen Einsatz von Aggressionen möglich, nicht aber durch die regressive Bestätigung ihrer angeblich ontologischen Wehrlosigkeit auf Bierdeckeln.

Wahrscheinlicher will die permanent evozierte Bedrohung auch etwas anderes erreichen, einen Distinktionsgewinn. Wenn die invasive Außenwelt nur noch als Hort von Vergewaltigung, unreglementierten Trieben und Gewalt imaginiert wird, kann dadurch die eigene Burg gefestigt werden. Foucault hat in seinen lesbarsten Stellen ein tiefes Misstrauen gegen eine Strategie formuliert, die einen Herrschaftsanspruch als Fürsorge tarnt. An den Hausordnungen der linken Räume ist bemerkenswert, dass Verantwortung gern departementalisiert wird: Stets ist die Versicherung da, dass man sich kümmern werde. Die Vermittlung durch das Thekenpersonal ist nun nicht aus dessen besonderer Schulung im Umgang mit sexueller Gewalt oder Konfliktmediation abgeleitet, sondern aus der Machtposition.

Diese Macht verspricht den Anwesenden Ruhe und Identität. Die in den Kneipen versprochene Sicherheit muss aber kontinuierlich durch Ermahnungen auf Getränkekarten, Plakaten, Bierdeckeln gestört werden. Um Ruhe zu schaffen, wird die Bedrohung permanent, mit jedem Getränk, visualisiert, exerziert und zelebriert. Dass dadurch tatsächlich Traumatisierte in ihrem Ruhebedürfnis ernst genommen werden, ist zweifelhaft. Die allgemeine Folge einer solchen Ritualisierung ist eine stets aufgereizte, stimulierte Angstlust und insgeheim womöglich eine Identifikation mit den bildlich vorgeführten Vergehen.

Historisch war die autoritäre Inbetriebnahme von  sexuellen Gewaltängsten/-phantasien  Teil der fürchterlichsten Regimes, allen voran der Nationalsozialismus. Dessen Nacktkörperkultur und Natürlichkeitswahn, von Fetischismus und Aggression vermeintlich gereinigte Sexualität, ging mit dem Wahnbild einer invasiven Außenwelt einher, in der Afrikaner und Juden ihr sexuelles Unwesen treiben würden. Das Verhältnis von Sexualneid und Rassismus wurde hinlänglich analysiert. Der puritanischere Ku Klux Klan lynchte vor allem schwarze Männer, der konstruierte Vorwurf war fast immer die „Vergewaltigung einer weißen Frau“. Im Kambodscha der roten Khmer galt jegliches Private verdächtig, Familien wurden zerrissen, die dünne Reiswassersuppe musste in den schlimmsten Distrikten im Kollektiv eingenommen werden, um die allseitige Kontrolle auszuüben und bei geringsten Delikten „im Interesse der Allgemeinheit“ Menschen zu liquidieren. Die „fürsorgliche“ Überwachung des Privaten hat eine so perfide Tradition, dass ihr äußerstes Misstrauen selbst dort entgegen zu bringen ist, wo sie sich antitotalitär gibt. Anzusetzen wäre zuerst an der Schimäre der Außergewöhnlichkeit, der narzisstische Überhöhung, dass diese „Sensibilisierung“ für die Linke neu und spezifisch sei. Jeder „Tatort“ und jeder Horrorfilm kultiviert schließlich die Angst davor, dass auf neugierige Frauen nur Vergewaltigung und Tod warten, dass das liebenswerte Date sich als Psychopath entpuppt, dass die Wälder von kindsentführenden Mafiosi wimmeln und hinter jeder dunklen Ecke ein Monstrum auf sein Opfer lauert.

Der linksautonome Antisexismus schlug mehrfach schon in verfolgenden Autoritarismus um. Als einige gegen „den Sexismus“ Protestierende in Marburg einen mit fadenscheinigen Argumenten als sexistisch identifizierten Vortrag verhinderten, entwarfen sie spontan ein Submissions-Ritual. Wer den universitären Veranstaltungsraum betreten wollte, sollte unter einem aufgespannten Transparent hindurchkriechen. Dieses Ritual ist so alt wie archaisch: In Gallien wurde das römische Heer von den Tigurinern besiegt, diese schickten die besiegten Soldaten unter einem Joch hindurch. Herrschaft über Andere in deren Körper einzuschreiben ist eine der perfidesten und ältesten Machtstrategien. Vermeintliche Herrschaftskritik schlug in Marburg um in unreflektierteste Herrschaftsausübung, in Heimzahlung und Zurichtung des Anderen durch dessen gebeugten Körper.

Solche Rituale zeugen von einem erschütterten Selbstvertrauen in die sprachlichen Fähigkeiten, in den Begriff. Die wütende Aktion folgte begriffsloser Identifizierung. Man will, gegen die Freudsche Kränkung aufbegehrend, Herr im „eigenen“ Haus sein und lässt gerade dadurch seinen niedrigsten Lüsten – Häme, Heimtücke, Rache, Verfolungslust – freien Lauf. Einer der Veranstalter wurde denunziert, ein Anruf bei seinem Chef sollte seinen „Rassismus und Sexismus“ bloß stellen, was fast zu seiner Entlassung geführt hatte. Natürlich haben die Aggressiven „keinen Verdacht auf sich selbst“, wie man in der Psychotherapie umgangssprachlich sagt. Sie sind „unschuldige Verfolger“, in gerechter Sache aggressiv, es läuft alles ganz logisch auf Notwehr hinaus, denn „wir sind die Guten“, wie man auf Demonstrationen gerne skandiert. Mit dem gleichen Argument wurde in einem Szenelokal das Hausverbot gegen einen der verhinderten Veranstalter ausgesprochen, der Begründung zufolge hätten der ausgewiesene Mensch „beschissene Texte“ in einem Blog geschrieben, die das avantgardistische Selbstbild offenbar so tief kränkten, dass der Nachweis für sexistische, rassistische oder antisemitische Zitate gar nicht mehr erbracht musste. Aus dem Vorwand des Schutzes von potentiellen Opfern von Sexismus und Rassismus wurde ganz konkret ein systematisches und organisiertes Verfolgen von Andersdenkenden. Das gleiche Phänomen spielt sich überall ab, wo Bahamas-Autoren in Dialog mit Kritikern und Anhängern treten wollen – die bundesweite Verfolgungsjagd auf diese Kritiker der Linken ist längst Realität.

Es ginge, wenn Begreifenwollen einsetzte, auch anders. Man könnte den Individuen ihre Selbstverantwortung zurück geben, statt sie erst durch die Imagination übermächtiger Bedrohungen einzuschüchtern, und ihnen dann als einzigen Ausweg die Autorität des Kollektivs anzuempfehlen. Anstatt Plakate aufzuhängen, die sich sinngemäß an potentielle Vergewaltiger richten, und dadurch Vergewaltigungsopfern suggerieren, eine Missverständnis auf der Kommunikationsebene oder theoretische Unbildung habe beim Täter vorgelegen; anstatt mit solchen Plakaten die Vergewaltigung als alltägliche Imagination zu inszenieren, wie jene prüde Kirchen-Pornographie, die ihre Lust an Abbildungenen als Denunziation abnormalen Verhaltens tarnt; anstelle einer solchen Veralltäglichung des Sexualverbrechens könnte man Frauen und Männer analytisch bilden, ihnen komplexere Begriffe anempfehlen durch ausgearbeitete Texte, ihnen Strategien aufzeigen, Nein- und Ja-Anteile an sich selbst und an anderen zu erkennen, abzuwägen und angemessen zu artikulieren, schlichtweg ihnen beizubringen, nett zueinander zu sein, ohne gleich den immer riskanten und kränkungsgefährdeten Verführungsversuch oder die sexuelle Dimension aller zwischenmenschlichen Beziehungen zu kriminalisieren.

Das Missverhältnis zwischen der Arbeit an Begriffen und Tanzveranstaltungen ist allerdings eklatant. Gut möglich ist, dass dadurch erst die Angst genährt wird. Es fehlen Begriffe und Worte, wenn Kommunikation durch Lautstärke und Alkohol unterdrückt wird und letztendlich nur noch begriffslose somatische Emotion herrscht und allenfalls mit Tanzstilen Attraktion und Attraktivität, Zugehörigkeit und Ablehnung kommuniziert werden kann. Sprache und Körper verfließen, die Angst vor der sprachlichen Verletzung gleicht sich der Angst vor dem körperlichen Übergriff an, wer „beschissen“ schreibt, beginnt plötzlich tatsächlich zu stinken und muss weggespült, verwiesen, verboten werden.

Was wäre der politischen Sache verloren, wenn nicht nur die mit Hausverbot bedachten antifaschistischen Feministen und Kritiker der Linken sondern vielleicht sogar ein Verbindungsstudent in einer solchen Örtlichkeit gelegentlich sein Bier trinken würde. Wäre man sich seiner intellektuellen Überlegenheit zutiefst gewiss, man könnte freudig eine Gelegenheit wahrnehmen, das rhetorische Geschick am willkommenen Gegner zu testen. Das beinhaltet aber die Gefahr, auf religiöse Anteile der eigenen Ideologie zu stoßen, unbegriffene Natürlichkeiten erschüttert zu sehen. Glaubt man denn wirklich, dass ohne Verbote die Infiltration der stickerbewehrte Institution – die allein durch die Aufkleber und die ranzigen Kritzeleien so oft an ein Kinderzimmer erinnern, das vor den Eltern geschützt werden muss – glaubt man also wirklich dass die Invasion der verrauchten Schuppen durch Burschenschafter anstünde oder macht man sich insgeheim die Welt durch ein sattes Stück Unfreiheit, Intoleranz und Unehrlichkeit vor sich selbst erträglicher?

Kritik an der derzeitigen Praxis ist selbst dort zu leisten, wenn sie ihr Recht hat, bei tatsächlichen Übergriffen. Die notwendige Abwehr „Hausverbot“ masst sich mitunter an, das Strafrecht zu ersetzen: In Frankfurt wurde einem als geständig bezeichneten Vergewaltiger ein Hausverbot erteilt – von einer Strafanzeige wird dem Opfer implizit abgeraten, das linke Recht sei dem bürgerlich-politischen durch die „Definitionsmacht“ überlegen.  Ein solches Verhalten ist perfide: Das Opfer wird „geschützt“ – solange es sich ans Kollektiv bindet und in dessen Räumen aufhält. Es wird an diesem Punkt mit Leib und Seele abhängig gemacht von seiner politischen Gesinnung. Im konkreten Fall wird noch ein Kollektivgewinn herausgeschürft: „Bei einer Vergewaltigung sind alle betroffen. Sie ist keine Privatangelegenheit, sondern muss als politische, nämlich sexistische Gewalt politisch geächtet werden.“

Das Hausverbot schickt sich nicht nur an, bürgerliche Rechtsgrundsätze wie das „in dubio pro reo“ oder das Grundgebot eines festgesetzten Strafmaßes, sondern auch jede Analyse zu ersetzen. Das höchste Interesse der kritischen Theorie lag darin, herauszufinden, wie die Menschen zu dem geworden sind, was sie sind und wie man es sich und anderen begreiflich macht – auch und gerade an den ärgsten der nationalsozialistischen Massenmörder. Das bedeutet nicht den pazifistischen Ausschluß von Notwehr und Aktion, sondern das Primat der Analyse und der Trauer um die Verlorenen.

Ein solches Primat würde endlich auch jenes abscheuliche Identifizieren abstellen, das aus Individuen, die vielleicht in einer schlechten Polemik wirklich danebengehauen haben, auf Lebenszeit einen „Sexisten“ oder „Rassisten“ in toto macht. Wer das einmal „ist“, hat so schnell kein Auskommen. Kontagiös verbreitet sich das Gerücht und es erweitert sich.  Hatte sich jemand am ersten Ort wegen einer Plakatzerstörung einen Verweis eingetragen, eilt ihm rasch die Identifizierungswut hinterher und treibt ihn als Gesinnungstäter und prospektiven Vergewaltigungsbefürworter aus allen Institutionen, deren das linke Kollektiv habhaft werden konnte. Es scheint erneut so, als könnte das Selbstbild einer aggressionsbereinigten besseren Gesellschaftsform, der neuen Menschen, nur aufrechterhalten werden, wenn man diesen neuen Menschen hin und wieder einen richtigen Verbrecher präsentiert, der wie die Manifestationen des Verdrängten im Horrorfilm an den Fenstern kratzt. Symptomatisch für diese Form des Identifizierens ist die zeitliche Entfristung von Hausverboten. Nicht wird versucht, zu disziplinieren, gerecht zu sein, Kritik wirken zu lassen, vorzubeugen – das Hausverbot will in seiner derzeitigen Form Identität schaffen und das Kollektiv begründen, das keine anderen Argumente mehr hat und zulässt und in sich schon jene Deprivation ahnt, die es den anderen, willkommenen oder dem Bild zurechtgelogenen Objekten angedeiht, um sie nicht zu schmerzhaft selbst zu fühlen.

„Der Krieg schlummert nur“

Recherchen über den aktuellen Stand der nationalsozialistischen Bewegung lassen sich abkürzen: Gibt man in einer Suchmaschine „8. Mai Feiern“ ein, erhält man eine satte Liste von dutzenden nationalsozialistischen Ortsgruppenblogs, die allesamt ihre „Nichtfeierlaune“ zum Ausdruck bringen. Allein die Masse dieser pommerschen, greifswälder, saaleländer und wo immer jene sich festgefressen haben, die sich dann näher als Nationalsozialisten, White Prisoners, Heimatschützer, Jungnationalisten und so weiter benennen, allein ihre Präsenz belegt das von Paul Celan geschriebene Zitat im Titel, das aus dem Film „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais (1955) stammt: „Der Krieg schlummert nur.“

In Deutschland hätte man diesen Film am liebsten verboten und das reicht schon als Grund, ihn hier zu zeigen. Aber was auch immer Hanns Eissler dazu veranlasste, diese mitunter fröhlich querflötende und klarinettierende Musik für diesen Film zu komponieren, ihre Kombination mit den Filmdokumenten leistet die vollständige Destruktion jeder Musik. Eine Szene zeigt ein Lagerorchester, das den in Schnee und Eis zu Tode Gearbeiteten letzte Töne spielen musste. Welche Musik, ist unerheblich, Beethoven oder Wagner – wie auch die Parole von der „Vermitteltheit von Form und Inhalt“ sich angesichts der beliebigen Formen von KZ-Architektur – „Alpenhüttenstil, Garagenstil, Pagodenstil“ – als widerlegt erwies. Der Inhalt der Form war immer Tod. Wer diesen Tod auf den Tod, dem man entrinnen könnte, also auf das Nichtleben als Äußerstes reduziert, verleugnet die Folter, die ihn mitunter als Erlösung erscheinen ließ, das Grauen, das ihn herbeiführte und das die Überlebenden vergiftete. Einige brachten sich noch Jahrzehnte nach dem Untergang des Hitler’schen Nationalsozialismus um, andere starben in den Wochen nach der Befreiung an den Folgen der Hungerfolter.

Antifaschistische Ortsgruppen mit ihren „Parties“ zum 8. und 9. Mai befinden sich bereits in einer spiegelbildlichen Reproduktion der nazistischen Propaganda. Wenn die Nazis nicht feiern, müsse jeder Antifaschist, der etwas auf sich hält, diese Gelegenheit ergreifen, sich ein Bier beim lokalen antifaschistischen Kneipier zu kaufen und irgendwelcher postmoderner Elektro-Marschmusik zu lauschen. Weil der Zynismus dahinter einigen doch aufgefallen ist, verbindet man „Theorie“ mit „Praxis“ und schaltet Demonstrationen und Kundgebungen vor, die aber auch nur Kundschaft einwerben sollen für den nachgeschalteten Event.

Die Freude der Opfer, der Aliierten hatte alles Recht.

Wenn aber die Antifa QiK heute schreibt: „Der Sieg über Nazideutschland muss überall auf der Welt als ein Sieg für die Menschlichkeit betrachtet werden. Des Weiteren sollte er Menschen den nötigen Mut geben sich gegen real existierendes Unrecht aufzulehnen, da der Sieg zeigt, dass auch noch so großes Leid und Unrecht besiegt werden kann.“

dann ist das identitäre Affirmation, die für jedes Filmscript herhalten könnte. Die rührselige Erkaltung, in der vor lauter gemachtem Mut und Siegesrausch dann „Party“ gemacht werden soll, ahmt das Happy End des Katastrophenfilms nach: Hinter dem Helden gehen Städte in Rauch auf, die Rettung der Gattung aber, für die das gerettete heterosexuelle Paar steht, wird gefeiert. Gegen solches Vergessen und Abspalten im Namen des Erinnerns ist Gerhard Polts Bonmot wahr, dass die Deutschen den Krieg gewonnen hätten.

Mehr zur kultivierten Manie des Antifaschismus findet sich unter meinem älteren Beitrag: „Antideutsche Regressionen