„Der Krieg schlummert nur“

Recherchen über den aktuellen Stand der nationalsozialistischen Bewegung lassen sich abkürzen: Gibt man in einer Suchmaschine „8. Mai Feiern“ ein, erhält man eine satte Liste von dutzenden nationalsozialistischen Ortsgruppenblogs, die allesamt ihre „Nichtfeierlaune“ zum Ausdruck bringen. Allein die Masse dieser pommerschen, greifswälder, saaleländer und wo immer jene sich festgefressen haben, die sich dann näher als Nationalsozialisten, White Prisoners, Heimatschützer, Jungnationalisten und so weiter benennen, allein ihre Präsenz belegt das von Paul Celan geschriebene Zitat im Titel, das aus dem Film „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais (1955) stammt: „Der Krieg schlummert nur.“

In Deutschland hätte man diesen Film am liebsten verboten und das reicht schon als Grund, ihn hier zu zeigen. Aber was auch immer Hanns Eissler dazu veranlasste, diese mitunter fröhlich querflötende und klarinettierende Musik für diesen Film zu komponieren, ihre Kombination mit den Filmdokumenten leistet die vollständige Destruktion jeder Musik. Eine Szene zeigt ein Lagerorchester, das den in Schnee und Eis zu Tode Gearbeiteten letzte Töne spielen musste. Welche Musik, ist unerheblich, Beethoven oder Wagner – wie auch die Parole von der „Vermitteltheit von Form und Inhalt“ sich angesichts der beliebigen Formen von KZ-Architektur – „Alpenhüttenstil, Garagenstil, Pagodenstil“ – als widerlegt erwies. Der Inhalt der Form war immer Tod. Wer diesen Tod auf den Tod, dem man entrinnen könnte, also auf das Nichtleben als Äußerstes reduziert, verleugnet die Folter, die ihn mitunter als Erlösung erscheinen ließ, das Grauen, das ihn herbeiführte und das die Überlebenden vergiftete. Einige brachten sich noch Jahrzehnte nach dem Untergang des Hitler’schen Nationalsozialismus um, andere starben in den Wochen nach der Befreiung an den Folgen der Hungerfolter.

Antifaschistische Ortsgruppen mit ihren „Parties“ zum 8. und 9. Mai befinden sich bereits in einer spiegelbildlichen Reproduktion der nazistischen Propaganda. Wenn die Nazis nicht feiern, müsse jeder Antifaschist, der etwas auf sich hält, diese Gelegenheit ergreifen, sich ein Bier beim lokalen antifaschistischen Kneipier zu kaufen und irgendwelcher postmoderner Elektro-Marschmusik zu lauschen. Weil der Zynismus dahinter einigen doch aufgefallen ist, verbindet man „Theorie“ mit „Praxis“ und schaltet Demonstrationen und Kundgebungen vor, die aber auch nur Kundschaft einwerben sollen für den nachgeschalteten Event.

Die Freude der Opfer, der Aliierten hatte alles Recht.

Wenn aber die Antifa QiK heute schreibt: „Der Sieg über Nazideutschland muss überall auf der Welt als ein Sieg für die Menschlichkeit betrachtet werden. Des Weiteren sollte er Menschen den nötigen Mut geben sich gegen real existierendes Unrecht aufzulehnen, da der Sieg zeigt, dass auch noch so großes Leid und Unrecht besiegt werden kann.“

dann ist das identitäre Affirmation, die für jedes Filmscript herhalten könnte. Die rührselige Erkaltung, in der vor lauter gemachtem Mut und Siegesrausch dann „Party“ gemacht werden soll, ahmt das Happy End des Katastrophenfilms nach: Hinter dem Helden gehen Städte in Rauch auf, die Rettung der Gattung aber, für die das gerettete heterosexuelle Paar steht, wird gefeiert. Gegen solches Vergessen und Abspalten im Namen des Erinnerns ist Gerhard Polts Bonmot wahr, dass die Deutschen den Krieg gewonnen hätten.

Mehr zur kultivierten Manie des Antifaschismus findet sich unter meinem älteren Beitrag: „Antideutsche Regressionen

Deutscher Beef

Es gibt ein gutes Buch. Edgar Hilsenrath hat es geschrieben und es heißt „Der Nazi und der Friseur„. Max Schulz, ein grenzenloser Opportunist, verrät den jüdischen jugendlichen Freund Itzig Finkelstein und schließt sich den Nazis an. In einem KZ erschießt er tausende von Juden. Nachdem er Partisanen knapp entkommt, erkennt er seine letzte Chance darin, sich als Jude auszugeben, genauer, als Itzig Finkelstein. Er geht nach Israel, wird dort sogar ein Kriegsheld und lebt einen weitgehend gemütlichen Lebensabend.

Es gibt ein Diktum von Adorno: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“

Und es gibt ein gutes Interview. Volker Weidermann hat es für die FAS mit Marcel Reich-Ranicki geführt. Das Gespräch ist tatsächlich ein Gespräch, ein einfühlsames und reflektiertes, mitunter lustig. Weinen musste ich am Ende. Ob für den Überlebenden Reich-Ranicki die Angst denn immer da sei? Und er antwortet einfach nur:  „Ja. Ach, es ist alles schrecklich!“

Siebenundsechzig Jahre nach Auschwitz gibt es einen deutschen Schriftsteller und sein Gedicht. Es war so erfolgreich wie wohl kein Gedicht zuvor und hieß sogar Gedicht. Sämtliche Zeitungen kommentieren und diskutieren es, jeder hatte es gelesen und jeder hatte eine Meinung über dieses Gedicht. Es war ein Gedicht über Auschwitz.

Es gibt also Zeitungen. Auf Seite 3 einer besonders infamen Ausgabe einer besonders infamen Zeitung schreibt Jörg Magenau etwas von Graubereichen von Tätern, es habe auch deutsche Opfergeschichten gegeben. Von Tätern und Opfern zu reden sei, so Magenau, eine „doch etwas schlichte, schematische Gegenüberstellung„. Die Graubereiche der jüdischen Opfer auszuloten überlässt Magenau den Lesern. Er denkt ihnen aber noch etwas ganz besonders Graubereichliches vor:

Hätte er auf das ganze „Warum schwieg ich so lange“-Brimborium verzichtet, hätte die Debatte vielleicht nicht den Umweg über Ekelbekundungen, Antisemitismusvorwürfe und täglich anschwellende Hysterie nehmen müssen, sondern sich gleich auf die westliche Lebenslüge konzentriert, nach der eine Atommacht Iran unzumutbar, der arabischen Welt die Atommacht Israel aber durchaus zumutbar ist.

Gäbe es eine Diskussion, so könnte man argumentieren: Die arabische Welt hat über vierzig Jahre mit der Atommacht Israel so gut gelebt. Sie hat noch 1973 den Überfall auf Israel an Jom Kippur ohne atomaren Gegenschlag überstanden. Israels Gesellschaft hat den Beweis hinreichend geführt, dass sie kein Land „auslöscht“, nicht einmal, wenn sie angegriffen wird.

Es gibt keine Diskussion. Die Vorstellung von zwei Gegnern oder Gegnerinnen, die im philosophischen Gespräch Argumente austauschen ist ganz illusionär. Selbst die diskursive Teichoskopie von Sunny Riedel ist geheuchelt: „Kritik an Israel wird lauter„, das ist Titel und Programm zugleich. Der Untertitel: „Hysterie. Schrille Töne in der Debatte um das ‚Israel-Gedicht‘. Friedensbewegung verteidigt Grass.“

Also: hysterische, schrille Angreifer, friedliche Verteidiger. Eine Seite voller Leserbriefe aus der Friedensbewegung rundet dieses Ritual ab. Moshe Zuckermann wird als Hauptgang serviert. Der gibt den Ton an: „Wer Antisemit ist, bestimme ich!“ Es gab den Antisemit Karl Lueger, ein Wiener Bürgermeister, von dem dieser Satz abgekupfert wurde: „Wer Jude ist, bestimme ich!“ Zuckermann weiß das so genau und schreibt es gerade deshalb. In diese Zeitung rein. Die es dann druckt. Es ist wahrlich keine Unbildung am Werk. Vielleicht muss man diese Leute, die Zuckermann sind, in der Endlosschleife reden hören, um zu verstehen, was sie zu so etwas drängt:

Und so ist Günter Grass infolge der Publikation seines Gedichtes zum Antisemiten erklärt worden. Von wem? Vom israelischen Premierminister, vom Zentralrat der Juden in Deutschland, von führenden Personen der in Deutschland lebenden „jüdischen Intelligenz“ und von vielen Nichtjuden, die sich mit „Juden“ und „Israel“ panisch zu „solidarisieren“ pflegen. […]

Jene in Deutschland, die wie Günter Grass denken, sich jedoch nicht getrauen, ihre Gedanken zu artikulieren, nun aber erfahren müssen, dass der, der ihrem Denken Worte gegeben hat, als Antisemit gebrandmarkt wird, sie somit selbst den Dreck des wahllosen Antisemitismusvorwurfs indirekt abbekommen haben, werden sich überlegen müssen, wie sie mit dieser psychisch-politischen Unwirtlichkeit umgehen.

Zuckermann gibt dem Literaten die Weihe zum Überlebenden, zum Juden, der nach dem „Brandmarken“ als DP in „psychisch-politischer Unwirtlichkeit“ herumirrt. Trauriger noch, Zuckermann eignet sich nicht nur das Ressentiment sondern auch den Duktus der Nazis an. Man muss diesen Menschen leider im Vollzitat lesen.

Man ist aber auch objektiv Gesinnungskomplize des Zentralrats der Juden in Deutschland, der sich inzwischen wohl als Zweigstelle der israelischen Regierung beziehungsweise ihrer Botschaft in Deutschland begreift, mithin jede noch so horrende Politik Israels blind absegnet und mit unreflektierter Verve vertritt.

Gar nicht zu reden von gewissen in Deutschland lebenden jüdischen Intellektuellen, die ihren Judenbonus und die Furcht von Deutschen, als Antisemit apostrophiert zu werden, so perfekt ausgereizt haben, dass sie eine Hegemonialstellung erlangt haben bei der Herstellung von „jüdischen“ Denkimperativen und ein Anrecht auf Einschüchterung von jedem, der sich ihren reaktionären Interessen und ihrem ideologischen Ansinnen in den Weg stellt. […]

Man befindet sich nämlich in einem Boot mit faschistischen Siedlern in den von Israel besetzten Gebieten, die sich der Unterstützung seitens der reaktionärsten islamophoben Kräfte in Europa und den USA erfreuen dürfen; mit israelischen Alltagsrassisten, die jede Verurteilung ihres menschenverachtenden Denkens und Handelns „von außen“ mit dem Antisemitismus-Vorwurf parieren; mit dem gegenwärtigen Premierminister Israels, der wie wenige in letzter Zeit dazu beigetragen hat, die Schoah-Erinnerung instrumentalisierend zu besudeln, um seine Okkupationspolitik umso ungehinderter betreiben zu können; mit Ariel Scharon, einem seiner Vorgänger, der schon vor Jahren postulieren zu dürfen meinte, dass alle aus Europa kommende Kritik an der von ihm mit besonders schädlicher Emphase betriebenen Siedlungspolitik im Westjordanland zwangsläufig antisemitisch sei. […]

Die Reflektierten unter ihnen werden sich vielleicht zu einer gewissen Courage bewegen lassen – zum emphatischen Veto gegen die Manipulation des diffamierenden Antisemitismusvorwurfs und seiner einschüchternden Wirkmächtigkeit. Jenen, die an dem hinterhältigen Spiel dieses Vorwurfs partizipieren und sich an dem gegen den renommierten Schriftsteller erhobenen Vorwurf gerade delektieren, ist wohl ohnehin nicht mehr zu helfen.

Man muss sich schon einmal an diesem entsetzlichen Triptychon aufhalten, das Zuckermann hier entwirft und vielleicht sollte man dazu ein wenig Rammstein anstellen und vielleicht auch nicht. Es gibt links in diesem Bild menschenverachtende, faschistische, islamophobe, besudelnde, schädliche, intelligente, unheilbare, hinterhältige Rassistenjuden, ein schräg von unten anstürmender Pöbel deren Kleidung vom Blut von „noch so horrenden Verbrechen“ starrt, und dann den „renommierten“ Dichter in königsblauem, sauberen Gewand, rechts im goldenen Schnitt mit Toga und mahnender Hand. Im Hintergrund eine Anzahl von verwirrt dreinblickenden Deutschen, sich entweder „panisch“ mit dem Renommierten „solidarisierend“, eine gewisse Traditionalität im Ausdruck, sie konnten noch nie ein anderes Brauchtum „pflegen“, die andere Hälfte erstarrt in „Furcht“ um ihren Renommierten, der „ihrem Denken Worte gab“. Im Mittelbild nehmen die Rassistenjudenfaschisten gerade den „diffamierenden Antisemitismusvorwurf“, werfen ihn samt Dreck auf den Renommierten, „brandmarken“ ihn, und „delektieren“ sich köstlich über das grausame Schauspiel. Der Renommierte blickt tränenumflort zum Himmel. Im dritten Bild tappt er dann mit 12 Tapferen durch die Steppe der „psychisch-politische Unwirtlichkeit“, am Horizont droht die Eiswüste der Abstraktion.

Es gab da einst Johannes Pfefferkorn. Der konvertierte jüdische Antisemit, schrieb 1508 seine Schrift: „Wie die blinden Jüden ihr Ostern halten“. Zu Ostern 2012 wird Zuckermanns ganz eigenes Passionsspiel gezeigt und die Susi schreibt ihm gleich einen Psalm.

Lieber Moshe Zuckermann, wäre ihr lesenswerter Artikel als Leserkommentar erschienen, die taz hätte ihn wegen Antisemitismusverdacht wahrscheinlich nicht veröffentlicht. Klaus Hillenbrand & Co. schwingen derart die Antisemitismuskeule, dass man nur in Deckung gehen kann…

Es gibt keine Diskussion. Es gibt Medien, die sich für demokratisch halten, weil sie das Niveau der Leserschaft systematisch unterbieten. Die taz hält sich für pluralistisch und links, ganz gewiss nicht für antisemitisch. Es gibt aber zu wirklich alledem ein Diktum, von Adorno und seinem Freund Horkheimer:

„Aber es gibt keine Antisemiten mehr. Sie waren zuletzt Liberale, die ihre antiliberale Meinung sagen wollten.“

Nur, was macht man mit so einer präzisen Diagnose, wenn Kritik nicht mehr zeitgemäß ist?


Werwolfslyrik und ihre Profiteure

Natürlich ist das klemmige Gedicht eines auf seine alten Tage reaktivierten SSWerwolfs keine Zeile Literaturkritik wert. Josef Joffe nimmt es in „Der Antisemitismus will raus“ dennoch auf sich und seiner Analyse ist nichts hinzuzufügen. Was er unbesprochen lässt, ist das eigentlich Relevante an dem Zirkus: Dass eine renommierte Zeitung darauf angewiesen ist, so ein „Gedicht“ abzudrucken, den Nazi noch aufs Frontbild zu hieven und sich dann in der liberalen redaktionellen Distanz zu gefallen. Nicht nur Grass, eine ganze Zeitung poliert ihre Auflage mit der Proliferation von sekundärem Antisemitismus auf.

Allein eine Medienkritik kann das Resultat dieses Skandals sein. Grass‘ Meinung widerspricht nicht der Berichterstattung in den meisten großen Nachrichtenmedien. In der Sache teilen Millionen Deutsche seine Meinung, weil Antisemitismus sich dem vormanipulierten Bewusstsein bestens verkauft. Dass Kulturindustrie sich in ihren niedersten Manipulationen auf den „Dienst am Kunden“ beruft, beschrieb Adorno als die „Ideologie der Ideologie“. Die Süddeutsche steht zur Analyse an, nicht der bedienstete Kunde Grass. Welche Neurosen, welche pathische Erkaltung bringen einen Chefredakteur dazu, so ein Gedicht nicht nur zu drucken, sondern per Titelikone als „Aufschrei“ anzupreisen? Dieser „Aufschrei“, wie ihn schon Jostein Gaarder (1, 2, 3), Judith Butler und so viele andere Intellektuelle vor Grass vollzogen haben, ist das zirkuläre Produkt jahrzehntelanger Manipulation von Berichterstattungen über Israel. Interessant ist, das die Manipulierten Manipulateure ihre medialen Manipulateure nie der Manipulation beschuldigten – für diese nur halb berechtigte Schuldprojektion würde immerhin Einsicht in den eigenen Irrtum gehören. Noch nie aber hat eine prominente Person glaubhaft und öffentlich ein Ressentiment über Israel als Irrtum widerrufen. Daher ist Kritik an Grass‘ Gedicht völlig überflüssig und zieht den Verdacht auf sich, selbst Verkaufsstrategie zu sein, die noch aus dem Peinlichen Kapital schlagen will. Die Kündigung der Süddeutschen, so man sie hat, wäre die einzig angemessene Praxis.

Die Süddeutsche hat übrigens, wie man mir just mitteilte und wie sich bei Memoryloops nachhören lässt, 1947 einen zur Vernichtung von überlebenden Juden aufrufenden Leserbrief eines „Adolf Bleibtreus“ abgedruckt. Die Münchner Polizei schoß auf 750 demonstrierende Juden.

Der aparte Genosse

Sigmar Gabriel hat bekanntermaßen nach einem Besuch Hebron mit einem Apartheidstaat verglichen. Erfahrenere Blogger nehmen wieder einmal die Arbeit auf sich, Klarstellungen über die Lage in Hebron zu verfassen, in der palästinensische Terroristen Juden und Palästinenser spalteten und für Interaktionen straften. Über die generelle Unsinnigkeit des Vergleiches kann das folgende Video ein paar Einsichten erlauben.

Die Widerlegung im Empirischen scheitert aber meistens an der Zirkularität des Vorurteils: Wenn dies nicht gilt, so greift man eben zu etwas anderem und wenn sich irgendwo dann doch ein terroristischer, böser, dummer, verbrecherischer Jude findet, so haften gewiss alle dafür und überhaupt hat nun mal Israel auch Atomwaffen und in der Bibel schon Unrecht gehabt.

Würde man den Vergleich Gabriels aber inhärent kritisieren, dann träte erst seine Dummheit ganz ans Licht. Zwei Kritikfronten stellen sich dann in etwa so dar:

1. Wenn Israel auch nur annähernd der Apartheid ähnlich wäre, was würde Deutschland es kümmern? Deutschland war Hauptfinanzierer des südafrikanischen Apartheid-Regimes. Noch keine faschistische Diktatur zwischen Colonia Dignidad, Argentinien, Spanien, Irak und Iran musste sich vor diplomatischen Bösartigkeiten Deutschlands fürchten. Die erste Frage, der sich Gabriel stellen muss, wäre also: Wenn Hebron/Israel ein rassistisches und faschistisches autoritäres Regime wäre – würde es dann gerade der deutschen diplomatischen Tradition nicht explizit zu Gesicht stehen, diesem Handelsbeziehungen, Hochtechnologie, Giftgas und ideologische Schützenhilfe anzubieten?

2. Gabriel unternimmt eine Differenzierung zwischen Israel als „Apartheid“ und Deutschland als „Nicht-Apartheid“, dem es unter der nicht gegebenen Voraussetzung eines israelischen rassistischem Regime dann zustünde, dieses moralisch zu verurteilen. Diese Behauptung eines „besseren“ Deutschlands oder zumindest eines „besseren“ Genossen Sigmar Gabriels entlarvt sein wahltaktisches Gestänker gegen Israel als primitive Projektion eigener Befindlichkeiten, gegen die nicht einmal die Lage in Hebron diskutiert werden müsste.

Bekanntermaßen trat Gabriel nicht aus der SPD aus, als diese unter Schröder und Schily die „Zuwanderungs“-debatte lostrat und im Verein mit willfährigen Grünen und CDU den bis heute andauernden rassistischen Normal-Zustand zementierte. Gabriel ist Vorsitzender der Partei, die in zahllosen kommunalen Ämtern es in der Hand hätte, Flüchtlinge menschenwürdig zu behandeln. Er ist Vorsitzender einer Partei, die während der zahlreichen Regierungen des letzten Jahrzehntes die Todeszahlen von Flüchtlingen im Mittelmeer stetig ansteigen ließ. Seit 1988 starben mindestens 17.000 Menschen an den EU-Außengrenzen. 287 davon sind von Grenzpolizisten erschossen worden. Mit dem Abkommen mit dem Ghaddafi-Regime in Libyen setzte die von Deutschland dominierte EU Flüchtlinge wissentlich Folter und Tod aus.

Das sozialdemokratische und das konservative Europa errichteten einen gigantischen Segregationsapparat, der auf Unbewaffnete, Hilflose, Ausgehungerte, Hilfsuchende abzielt. Die werden, wo sie nicht schon in Bergen, Flüssen und Meeren sterben, gejagt, gefasst und unter zynischer Anwendung von Beruhigungsmitteln und Folter abgeschoben in nachweislich lebensgefährliche Zustände. Das ist die Warte von der aus Gabriel den weitgehend im Rahmen der Menschenrechte stattfindenden Schutz der körperlichen Unversehrtheit von Juden vor terroristischen, rassistischen und antisemitischen Angriffen als rassistisch bezeichnet.

Ich werde nicht wählen. Alle deutschen Regierungs-Parteien haben den rassistischen Konsens mitgetragen, keine macht irgend Anzeichen, Regierungsbeteiligung von einer sofortigen Auflösung der mörderischen Grenzpolitik in Deutschland und an den Außengrenzen der EU abhängig zu machen.

Kony 2012 – Israel 2013?

„Nothing is more powerful than an idea whose time has come.“ Mit ihren einleitenden Worten  offenbart die Kampagne „Kony 2012“ ihren Reflexionsausfall, der sich durch das gesamte Video zieht. Die Kritische Theorie entstand in dem Bewusstsein, dass Philosophie sich am Leben erhält, weil „der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ Aber nicht einmal Philosophie ist es, auf die sich die Kampagne beruft, sondern die Idee, Schwundstufe des durchreflektierten Gedankens. Als „gute“ Idee bewirbt sie sich primär durch die massenhafte Zustimmung. Joseph Kony wird, und das ja sehr zu recht, als „Bad Guy“ markiert, dessen hauptsächliches Charakteristikum ist, von allen verabscheut zu werden: „He is not fighting for any cause but only to maintain his power. He’s not supported by anyone.“ Der International Criminal Court führt ihn als Nr. 1 auf ihrer Liste gesuchter Verbrecher.

Die fortschreitende Berufung auf eine internationale Konsensualität wirbt diese als rational ein. Eine solche Konsensualität stellt sich bislang derart mehrheitlich nur gegen Israel ein: Allein im Jahr 2011 hat die UN Israel 124-mal in „Human Rights Actions“ verurteilte, vor allem in „Resolutions“: Das ist zweimal so viel wie im Falle der Nummer 2, Sudan. Deutschland, das wie jedes Jahr Hauptverantwortlicher für tausende tote Flüchtlinge an den Außengrenzen und in der EU ist, erhielt eine einzige Aktion („Report“). Ghana, in dem 2011 staatliche Kampagnen gegen Homosexuelle von der Entwicklungshilfe gezahlt wurden, in dem Hexenjagden eine alltägliche Erscheinung sind, in dem 2011 ethnische Konflikte zwischen Konkomba und Fulani aufflammten, wird ebenfalls nur ein einziges Mal wegen Missständen im Gesundheitssektor besucht („Visit“). Nun hat Israel ein paar mehr und mächtigere Freunde als Kony und die UNO ist nicht der ICC. Die Legitimationsweise der Kampagne betrifft das nicht.

Die Kony 2012 Kampagne macht sich ebenfalls suspekt durch unkritische Idolisierungen der reaktionären Mutter Teresa, die ihren Patienten Schmerzmittel untersagte, weil Leiden und Erlösung eins seien und des Mahatma Ghandi, der den Juden 1938 friedlichen Widerstand anempfahl. In einer „künstlerischen Aktion“ werden ihre Porträts als Graffitti auf ein Garagentor gesprüht. Die nächste Szene zeigt dann einen „Kony 2012“-Anführer mit Megaphon und Kufiya, dem „Palästinensertuch“ um den Hals. Untertitel: „And we got loud!“ [14:59]

Gegen Kony, aber für Fatah und Hamas, für deren Politik das karierte Tuch in der Szene steht? Was über Kony gesagt wird, könnte ebensogut für Arafat gelten: „An he’s repeatedly used peacetalks to rearm and murder again and again.“ Kony entführte an die 30.000 Kinder für seinen Krieg. Die Zahlen der palästinensischen Terrororganisationen sind nicht bekannt, sie zielen allerdings auf sehr viel mehr Kinder ab mit ihren Propagandafilmen und Trainingsprogrammen. Hier exerzieren Kinder schon im Alter von 5 Jahren mit Maschinenpistolen, schwören Bereitschaft, ihr Leben zu geben um Juden zu töten, werden in Selbstmordattentate geschickt. Das hält Kony-2012-Aktivisten nicht davon ab, die Kafiya mit ihrer eindeutigen Aussage zu tragen.

Ein weiterer Aspekt der Kony 2012-Kampagne: Sie ist primär Werbung für Medientechnologie. Der medienwissenschaftliche Diskurs bedankt sich bereits bei Kony 2012 für die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Der Schlüssel zur Hilfe in Echtzeit sei Awareness in Echtzeit. Und für die werden permanent I-Phones in die Kamera gehalten. Suggeriert wird aufrichtige Zeugenschaft durch Medien: „I can’t believe that. This has been going on for years? If that happened one night in America it would be on the cover of Newsweek.“

Stereotyp ist dieses Vorschützen von Unwissen über afrikanische Zustände: „I can’t believe that!“ Das „Nicht-gewusst-haben“ ist festes Instrumentarium einer vorsätzlich desinformierten Gesellschaft. Äußerste Naivität spricht aus der Passage, das Vertrauen in dieselbe Newsweek, die vermutlich schon Dutzende von Artikeln über Kony brachte, die man aber nicht lesen wollte, solange in den USA das Somalia-Trauma noch nachwirkte, das dann vom Ruanda-Trauma abgelöst wurde, dem wiederum der 9/11-Schock folgte. Nun auf einmal, während den Umbrüchen in der arabischen Welt, während die Darfur-Kampagne Clooneys kaum Wirkung zeigt, während Israel mit dem Rücken zur Wand steht, entdeckt Kony 2012 einen einzigen Bösen und verspricht ihn mittels Facebook und kostenlosen „Action-Kits“ zur Strecke zu bringen.

Diese Naivität und geschichtslose Reflexionslosigkeit ist es, die Kony 2012 so ambivalent macht. „We change the course of human history“ – das könnte man als guten Marxismus interpretieren, wäre da nicht der propagandistische Ton: „I’m going to tell you exactly how we’re going to do this.“  „We will fight war“. „This is what the world should be like.“ In einer von allen ökonomischen und politischen Widersprüchen gereinigten utopischen Wendung wird das ganze System als Dreiecks-Graphik auf den Kopf gestellt und Menschen bestimmen das Geld – nachdem sie noch schnell ihr I-Phone gekauft haben, versteht sich. Und dann ist da noch jener George Clooney, der es gönnerisch für „fair“ erklärt, dass Kony die gleiche Popularität wie er selbst erhält. Wenn Kony gefasst wird, wird die Kampagne diesen Sieg für sich reklamieren und damit Werbung machen: Für Facebook, Apple und George Clooney. Geleugnet werden so die zähen Verhandlungen zwischen afrikanischen Akteuren, deren freiwillige Arbeit mit Flüchtlingen, die Widersprüche der afrikanischen Gesellschaften, die Kony hervorbrachten und die eben nicht aufgehen in einem bloßen Informationsdefizit der westlichen Gesellschaft.

Die LRA konnte nicht bestehen ohne Waffenlieferungen aus dem Sudan. Sie hatte eine morbide Funktion in einem Konflikt, der weitaus größer war und ist, als sich die USA und Europa je eingestehen wollten. Der Millionen Tote schwere „Weltkrieg Afrikas“, wie Prunier ihn taufte, involvierte unterschiedlichste Parteien in der DRC, Ruanda, Uganda, Sudan, die Zentralafrikanische Republik, Angola, Namibia, Simbabwe und einige temporäre Parteien. Hier auf die LRA und diese auf eine Person zu reduzieren und davon auszugehen, dass mit dessen Verhaftung die Knochenmühle in der „Region“ nennenswert zu verlangsamen wäre, ist reduktionistisch und könnte tatsächlich jenen Initiativen schaden, die wenigstens versuchen, ein differenzierteres Bild des Konflikts zu entfalten, der wesentlich teurere, langwierigere und unpopulärere Maßnahmen erfordert als das Like gegen einen Bad-Guy.

Es ist nicht die Wahl Konys, der, hier ist der Kampagne völlig zuzustimmen, mit militärischen Mitteln und auch mit Hilfe der USA verhaftet oder getötet werden hätte können, werden muss und hoffentlich 2012 werden wird. Es ist die Art und Weise, wie diese Wahl stattfand und präsentiert wird, die zur Frage führt: Wer ist der nächste?

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Wer tatsächlich Informationen über den Konflikt im Zentrum Afrikas sucht, sei auf Gerard Pruniers Standardwerk „Africa’s World War“ verwiesen. Zur LRA liefert Heike Behrends ethnographische Studie „Alice und die Geister. Krieg im Norden Ugandas“ exzellentes Material.

Einige afrikanische Stimmen zur Kampagne finden sich über diesen Link: http://boingboing.net/2012/03/08/african-voices-respond-to-hype.html.

Crosspost: „Die Juden sind ihr Unglück“

„Spirit of Entebbe“ hat mit „Die Juden sind ihr Unglück“ eine staatlich geförderte Medienfälschung durchgearbeitet:

„[…] (Nahost-)Geschichte wird heute nicht mehr von den Siegern geschrieben, sondern von den Verlierern, und deutsche Filmemacher reichen da, jedenfalls wenn es gegen die Juden geht, gern die helfende Hand. Gefördert von der Filmstiftung NRW. “

 

Shocking: Nazis auf einmal Terroristen – was ging schief im Wintermärchen?

Das Bekanntwerden der Täterschaft definiert die Opfer neu und macht den Terror gegen sie erst wirksam. Anstelle devianten Verhaltens innerhalb abgeschotteter krimineller Strukturen wurde Existenz zum Verfolgungsgrund. Nicht weil sie sich verhielten, sondern weil sie waren wurden Menschen ermordet – das ist der Kern des Nazismus seit seinem Anbeginn.

Die Aufregung über die fehlgeschlagene Verfolgung dieser Verfolger tutet ins falsche Horn. Die Existenz des Nazismus ist der Terror. Die auswendig gelernte Phrase, dass Faschismus keine Meinung sondern ein Verbrechen sei, ist schief projiziert. Nicht wird gesagt was Faschismus sei und was das Verbrechen. An gesundes Rechtsbewusstsein wird appelliert – und moderne Rechtsstandards im Ruf nach Zensur verraten. Der Faschismus ist Meinung, deren Existenz Terror ausübt, seine Praxis die Vernichtung.

Wer das Aufblühen der schon immer von Gewalt begleiteten völkischen Zorn-Zonen im Osten Deutschlands über Jahrzehnte mit ruhiger Miene anzuschauen vermochte, hat kein Recht, jetzt von Terror zu sprechen. Mindestens 182 Menschen wurden seit 1990 von deutschen Neonazis ermordet. Die Existenz des Nazismus ist gerade darum ein gesellschaftliches und kein polizeiliches Problem. Es mag sein, dass verschiedene Institutionen, allen voran der schon immer faschistisch durchwirkte Verfassungsschutz, versagt haben bei der Verfolgung der konkreten Morde. Dass die deutsche Gesellschaft sich darüber so plötzlich so ausnehmend empört ist Schuldprojektion.

Die postnazistische Gesellschaft hat den Nazismus integriert und nicht abgeschafft. Vieles wurde geschrieben über die institutionelle Durchwanderung von rechts und deren Traditionalität. Irritiert aber zeigt sich die liberale Gesellschaft über Kritik an ihrem eigenen Makel.

Man macht einen mittleren Skandal, wenn ein Politiker der „Jungen Freiheit“ ein Interview und vielleicht sogar Contra gibt. Der liberalen Presse, den Schulbüchern, den Demonstranten sieht man den täglichen antiisraelischen Exzess nach. Die NPD listet gleiche Meinungen in ihrem Programm, man nennt es antisemitisch. Die Zeit, die taz, die Süddeutsche, der Stern, ARD, ZDF, mitunter Arte bedienen diese Einstellungen nach Kräften – und wo sie Kritik daran nicht ignorieren können empören sie sich über die Aufweichung des Antisemitismusbegriffs, bemäkeln jüdische Überempfindlichkeit und Philosemitismus. Es gibt keinen Reflexionsprozess in diesen Medien – Kritik wird als liberaler Bonus eingereiht und neben die unabdingbaren empörten Hetzartikel gedruckt.

Eine vernachlässigte Opfergruppe von Neonazis sind Obdachlose, die als sichtbarste Opfer befürchten müssen, nachts überfallen und unter hässlichsten Schmerzen zu Tode gebracht zu werden. Obdachlose wurden aber bereits im Zuge der sterilisierenden Fitmachung von zumeist CDU-regierten Innenstädten systematisch verfolgt, mit Bettelverboten belegt und verschoben. Eigens zur Abschreckung von Obdachlosen wurden in den 1990-ern schräge Bänke entwickelt, die das Nächtigen auf diesen unmöglich machen.  Auch Bushaltehäuschen bieten seitdem allenfalls in kurze Strecken portionierte Sitzplätze an. Noch vor kurzem schloß ein Bürgermeister eine öffentliche Brücke mit Bauzäunen ab, damit dort niemand Schutz finden kann. In meiner Kindheit wurde einem Obdachlosen, der in einem verlassenen Bienenhäuschen nächtigte vom Dorfmob mit dem Feuertod gedroht, falls er nicht sofort weiterziehe. Diese widerwärtige Mentalität ist vom selben Holz wie jene, die aus Hass und Langeweile später auf wehrlose Schlafende einprügelt und sticht.

Ebenso hegten bislang alle im Parlament befindlichen Parteien den ausländerfeindlichen Konsens: Es kam nun mal beim Wähler schlecht an, die eigentlich gebotene Aufnahme von mindestens einer Million Kriegsflüchtlinge aus dem subsaharischen Afrika zu fordern. So blieben sie in ihren kongolesischen Camps, wurden rekrutiert, von Epidemien hingerafft, im Wald vom Hunger vernichtet und später massakriert, wo sie nicht selbst massakrierten. Dasselbe wiederholte sich in je anderer Form in Darfur, in Somalia, in den arabischen Staaten. Niemals ist in Deutschland eine universalistische „Operation Moses“ denkbar, bei der es um Hilfsbedürftige anderer Nationalitäten oder gar Hautfarben geht. Täglich werden Abschiebeflüge mit Roma oder Afrikanern organisiert. Die Infrastruktur zum Retten von Menschenleben stünde, man müsste ihren Zweck und damit ihre Richtung umkehren. Es sieht nicht danach aus. Die deutsche Öffentlichkeit ist slightly shocked über die Rechtsverletzung durch Nazis – und sah und sieht mit lauen Gefühlen und rechtlich abgesichert zehntausenden Schwarzen beim Ertrinken im Mittelmeer zu. Das ist kein Vergleich sondern eine Kontinuität. Die aktuelle Flüchtlingspolitik ist bekanntermaßen die Belohnung der nazistischen Brandsetzungen und Morde in Solingen, Mölln, Rostock und den ganzen anderen Orten.

Die Verkürzung gilt: Der Nazismus tötet heute im Mittelmeer – durch die Regierenden der bürgerlichen Parteien hindurch, die sich der Herausforderung, eine offene Gesellschaft zu schaffen nie gestellt haben. Triftige Ausreden werden zum Mantra: Jeder müsse ja einsehen, dass eine Volkswirtschaft nicht unbegrenzt Einwanderer aufnehmen kann und niemand oder wahlweise jeder wisse ja, wie sich solche Horden im Land benehmen würden. Das ist das Argument der Nazis und es wird konsensual geteilt. Und es ist wahr: Dieser auf den Nationalismus eingeschworene muffige Staat würde tatsächlich kollabieren, würde er mit der Verantwortung, die mit seiner ökonomischen Macht einhergeht, im Positiven Ernst machen und ein paar Millionen Flüchtlinge aufnehmen sowie in Kriegsgebieten bewaffneten Schutz für sie organisieren. Er würde ein anderer Staat werden, in dem die politisch bestärkte Hoffnung der Nazis, durch Terror Gesetze in ihrem Sinn zu formen, an die Wand der gesellschaftlichen kosmopolitischen Realitäten fahren müsste.

Die drei Nazis waren gewiss keine Wahnsinnigen – sie stuften die Möglichkeiten der Abschreckung und Umsetzung ihres wahnhaften Ressentiments in Realpolitik ganz realistisch ein. Gegen ihre Morde meint man wieder einmal vorzugehen mit Lichterketten, ökumenischen Gottesdiensten, kommunalen „Bunt statt Braun“-Kindergeburtstagen und gutherzigen Apellen, dass man doch ganz so radikal nicht gegen Ausländer sein muss. Und man meint wieder einmal, die NPD verbieten zu müssen. Das mag man tun – die Elemente nazistischer Weltbilder waren und sind mehrheitsfähig, sie sind politische Praxis und Gesetz.

Nazis morden, der Staat schiebt ab – auch das ist eine der halben Lügen der Linken. Dieser Staat, das sind alle. Die Flüchtlingspolitik rutschte in der Agenda der Linksautonomen immer weiter herab, vielleicht sind sie auch selbst erodiert worden. Die Methoden stehen allemal zur Disposition – durch die Straßen rennen und Parolen brüllen, ganz witzige Clownerien und Pink Block haben bislang keinem Flüchtling geholfen und keinem Blutsdeutschen den Nationalismus ausgetrieben. Bleierner Hedonismus macht sich bei den sogenannten Antideutschen im Namen der Reflexion und des Glücksversprechens breit, andere ächzen unterm Systemzwang, vermeintliche neue Facebook-Liberale spielen Kritik am Antisemitismus der Islamisten gegen Immigration aus, vermeintlich neue Brandsatz-Linke fluchen auf die Flüchtlingspolitik und wollen den gleichen Flüchtlingen in Afghanistan aber lieber die autochthonen Taliban als die ausländischen amerikanischen und deutschen Truppen zudenken. Und jene Millionen, die erfolgreich einwanderten, ducken weg um ihre eigene Integration nicht aufs Spiel zu setzen oder weil sie längst die ökonomische Lüge von den Grenzen der Aufnahmefähigkeit übernommen haben oder weil sie tatsächlich selbst keine Kurden, Schwarze, Schwarze aus anderen Teilen Afrikas und Juden mögen. Über allem steht die Angst, sich demokratisch zu organisieren und zu engagieren. Das ist mit dem Kulturalismus zu parallelisieren. Engagement bedeutet Risiko. Niemand will scheitern. Nichtstun ist die bequeme Wahl und Lebenslüge, virtualisierte Ersatzhandlung wird zur Folge der Verdrängung, gebotene Reflexionsprozesse werden zum „Spott auf die Dringlichkeit“ (Adorno) im Angesicht von Folter, Hunger und Tod des Anderen.

Ich bin 0,000000014 %

Rätselhaft bleibt die mediale Obsession mit einer marginalen Strömung, die sich „Occupy Wall-Street“ nennt. Als noch 400 Menschen in den USA demonstrierten, leistete die ARD bereits Schützenhilfe und bauschte die Facebook-Party zu der künftigen Massenbewegung auf, die sie vorgab zu sein: „We are 99%“. Die üblichen linken Theoretiker freuten sich schon Koks-Löcher in den Bauch und riefen in den Feullietons jetzt endlich aber hallo mal die Revolution aus. Als sogar die Bundeskanzlerin ausdrücklich ihre Unterstützung demonstriert hatte, schlugen ein paar hundert Mutige auch in Deutschland ihre Zelte auf. Diese Sensation sorgte für Titelberichte auf allen Zeitungen. Angeblich zittere selbst China bereits vor „Occupy Wallstreet“. In der taz häckeln ganzseitig die angestaubten Geldabschaffer und Tauschringe an Kongressen über eine Zukunft ohne Geld und Flugmangos. Es scheint, als habe die Gesellschaft ein schlechtes Wissen gegenüber sich selbst und deligiere die entleerte Tätigkeit des Dagegenseins an Berufsdemonstranten.

Gerade weil wirklich wichtigere gesellschaftliche Prozesse stattfinden ist dieses überlobte Fehlcasting „Occupy Wallstreet“ interessant. In den USA herrscht tatsächlich eine Krise mit massenhaften Lohnausfällen und hoher Arbeitslosigkeit. Dort hat Empörung über einen starken Akteur in der Krise noch eine gewisse Berechtigung – wobei gerade hier an jene Millionen Häuserbauer zu erinnern ist, die gegen jede ökonomische Vernunft auf die unsichere Finanzierungslage vertrauten und sich über beide Ohren verschuldeten, während sie diese Schulden als Handwerkerlöhne fleißig in die Nationalökonomie pumpten und so die Krise der Industrie in den USA hinauszögern halfen. Gewiss nicht nur 1 % hat von dieser Krise im Vorfeld profitiert.

In Deutschland, das als exportorientiertes Industrieland mit starkem Binnenmarkt und extrem gutmütigen geographischen Bedingungen von der Krise der anderen satt und machtstrotzend wurde, erzeugt sich die 99%-Bewegung zu 100 % aus Ressentiment. In jeder Kommentarspalte kann man lesen, dass das alles ja gar nichts mehr mit originaler echter Wirtschaft, „Realökonomie“, zu tun hätte, Phantasiewerte würden da im Finanzsystem verhandelt. Diese großen Zahlen, Billionen gar, sollen mit den 39 Eurocent, die an der Kasse für ein Körnerbrötchen gezahlt werden, etwas zu tun haben? Das ist natürlich unmöglich einzusehen.

Herrschaft wird in Produktion verkleidet, schreiben Horkheimer/Adorno in ihrer dritten These zum Antisemitismus. Die Misere bleibt so aktuell wie das Zitat.

Der Fabrikant hat seine Schuldner, die Arbeiter, in der Fabrik unter den Augen und kontrolliert ihre Gegenleistung, ehe er noch das Geld vorstreckt. Was in Wirklichkeit vorging, bekommen sie erst zu spüren, wenn sie sehen, was sie dafür kaufen können: der kleinste Magnat kann über ein Quantum von Diensten und Gütern verfügen wie kein Herrscher zuvor; die Arbeiter jedoch erhalten das sogenannte kulturelle Minimum. Nicht genug daran, daß sie am Markt erfahren, wie wenig Güter auf sie entfallen, preist der Verkäufer noch an, was sie sich nicht leisten können.

Im Verhältnis des Lohns zu den Preisen erst drückt sich aus, was den Arbeitern vorenthalten wird. Mit ihrem Lohn nahmen sie zugleich das Prinzip der Entlohnung an. Der Kaufmann präsentiert ihnen den Wechsel, den sie dem Fabrikanten unterschrieben haben. Jener ist der Gerichtsvollzieher fürs ganze System und nimmt das Odium für die anderen auf sich. Die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung ist gesellschaftlich notwendiger Schein. (DdA: 185)

Adorno/Horkheimer verkürzen hier die Kritik der bürgerlichen Ökonomie nun gar zu arg, aber sie treffen das Problem: Der Reichtum der Industriegesellschaften ist nun mal ihre Produktion von Waren – Internet, Dienstleistungsgesellschaft, Universitäten und Finanzmärkte sind nur (bedeutende) Anhängsel der Industrie, ein jeder User braucht seine Hardware. Es sagt den Arbeitenden mit gutem Grund niemand ins Gesicht: die sollen ruhig noch etwas Angst vor der Krise haben, die ihren Arbeitsplatz angeblich bedroht – während Züge voller VWs nach China rollen, Lehrstellen unbesetzt bleiben und sich die Investition in die Bankenrettung als halbwegs einträglich für den Staat herausstellt. Es waren letztendlich nur ein paar Dutzend Milliarden die effektiv als Verlust gelten können, die ökonomisch Ungebildeten sollen ruhig glauben, dass hunderte von Milliarden „verbrannt“ wurden für die Banken.

Es sind aber gerade die Vertreter der Zirkulationssphäre, die noch die ökonomische Bildung verbreiten und auf solche Komplexitäten hinweisen. Sie durchschauen den Schein zwar nur halb, und in der anderen Hälfte treten sie nicht selten in autoritärer Abwehr nach unten oder gegen vermeintliche schwarze Schafe und echte Kriminelle oder reale Fehlregelungen. Dennoch dürfte ihnen am ehesten bewusst sein, dass sie als ein Prozent zwar die Herrschaft nicht haben über die Prozesse, von denen sie mitunter auch profitieren, dass sie aber gerade den Kopf fürs Ganze hinhalten müssen, ginge es nach den „99%“.

Zaristische Verhältnisse wie sie in den Oststaaten um den Kaukasus oder in Afrika als Oligarchien sich bildeten gibt es trotz aller Managerboni nicht in den demokratischen Industriestaaten. Unfähig, sich ohne Feindbild zu formieren, muss das Bild einer absoluten Minderheit entworfen werden: 1 %. Die pathische Projektion eines Verhältnisses von der totalen Übermacht der Ökonomie und der totalen Unterlegenheit der Zahl locken zum Angriff und letztlich zur gerechten Vernichtung. Die 99% scheitern an der Individuation. Die Halluzination einer solchen Masse und einer solchen Macht flößt jenen Angst ein, die Angst einflößen wollen. Ängstlich drängeln sie sich zusammen und jeder schreit „Haltet den Dieb“ um nicht selbst in Verdacht zu geraten. Solche kollektiv gewärmte Paranoia erspart jeden kritischen Gedanken.

Die fortgeschrittene Industriegesellschaft hat ihren Anteil daran. Ein jedes Kind soll Schillers Glocke und den volksverträglichen Ritter Ribbeck vom Havellande kennen und man meint, es sei dann gebildet. Aber seinen Arbeitsvertrag gegen anonyme Marktinteressen und deren Personifikationen durchzusetzen muss es alleine lernen. Die Flucht ins Kollektiv der 99% ist logische Folge und rätselhaft ist allein, warum es ausschließlich aus diesem Grund nicht tatsächlich schon mehr geworden sind. Die generelle Sympathie der Medien und damit der Massen macht das und sich selbst verständlich. Die virtuelle Verfolgung der Personifikationen der Zirkulationssphäre eines übermächtigen Marktes durch ein paar rollenspielende Camper mag der Masse ihr Gelüst kompensieren – von der realen Verfolgung von Flüchtlingen, Zigeunern und dem Juden unter den Staaten, Israel, wird sie deshalb noch lange nicht absehen.

Die Lebensordnung heute läßt dem Ich keinen Spielraum für geistige Konsequenzen. Der aufs Wissen abgezogene Gedanke wird neutralisiert, zur bloßen Qualifikation auf spezifischen Arbeitsmärkten und zur Steigerung des Warenwertes in die Persönlichkeit eingespannt. So geht jene Selbstbesinnung des Geistes zugrunde, die der Paranoia entgegenarbeitet. Schließlich ist unter den Bedingungen des Spätkapitalismus die Halbbildung zum objektiven Geist geworden.

In der totalitären Phase der Herrschaft ruft diese die provinziellen Scharlatane der Politik und mit ihnen das Wahnsystem als ultima ratio zurück und zwingt es der durch die große und die Kulturindustrie ohnehin schon mürbe gemachten Mehrheit der Verwalteten auf. Der Widersinn der Herrschaft ist heute fürs gesunde Bewußtsein so einfach zu durchschauen, daß sie des kranken Bewußtseins bedarf, um sich am Leben zu erhalten. Nur Verfolgungswahnsinnige lassen sich die Verfolgung, in welche Herrschaft übergehen muß, gefallen, indem sie andere verfolgen dürfen. (DdA 207)

Katholische Kosmetik

„Der durchschnittliche Gläubige ist heute schon so schlau wie früher bloß ein Kardinal“ (Adorno/Horkheimer DdA: 185)

Joseph Ratzinger sprach in seiner Eigenschaft als vorgebliches Sprachrohr des christlichen Gottes auf Erden vor dem Bundestag und in einigen nicht zufällig der proletarischen Subkultur entliehenen Gebäuden. Da Deutschland kein säkularer Staat ist, gab es auch keinen Grund zur Beanstandung dessen. Auch die Mehrheit der europäischen Staaten sind Königtümer und/oder von religiösen Parteien dominiert, ein revolutionärer skandalisierender Sprech gegen dieses spezifische Ereignis kann getrost als Gelegenheitsaufmüpfigkeit gelten. Es stünde den Befürwortern der Säkularisierung frei, sich zu organisieren und diese voranzutreiben. So allerdings war die Gegnerschaft ins gesamte Ritual eingepasst: Millionen Religionsanhänger hatten nichts besseres zu tun als ihrem Anführer zuzujubeln, Tausende von Vulgäratheisten hatten nichts besseres zu tun als diesen das autoritär gefütterte Wohlfühlgrinsen madig zu machen. Da finden in Syrien und Jemen Massaker statt, aber man fährt massenhaft Ratzinger hinterher und betet für den Frieden anstatt ihn zu schaffen oder man demonstriert in Absehung dringlicher Ereignisse gegen diese infantile Veranstaltung, ohne sich philosophisch allzu sehr mit dem Phänomen des überholten Glaubens und seinen philosophischen Mucken auseinander zu setzen.

Ganz harmlos scheint Ratzinger über Vernunft und Naturrecht zu philosophieren und es klingt so passabel, wenn er den Positivismus schilt und keiner genau weiß, was er damit meint. In dieser philosophischen Bewegung aber wohnt der Geschichtsrevisionismus, auch und gerade wenn die Gegnerschaft von Christentum und Nazismus beschworen wird. Zwischen Skythen und Nazis besteht in Ratzingers Bundestags-Rede ebensowenig Unterschied wie zwischen frühen Christen und Widerstandskämpfern gegen das Naziregime, die ganz unterschiedliche ideologische Ansichten hatten. Insgeheim möchte man so den Widerstand christianisieren und etwas abhaben von dessen moralischer Integrität. Wenn tatsächlich die Verantwortung insbesondere der katholischen Kirche für über 1000 Jahre Pogrom und Massenvernichtung im Raum stehen könnte, wird von Ratzinger stattdessen das Judentum als eine von drei Quellen der Kultur Europas abgewatscht.

„An dieser Stelle müßte uns das kulturelle Erbe Europas zu Hilfe kommen. Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben. Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas.“ 

Dieses Wunschkonzert, harmonisches Zusammenspiel einer nicht zufälligen Trinität, ist entschieden ignorant. Es fälscht das Gedächtnis und ist die „Amputation unserer Kultur“, der europäisch-christlichen Kultur. Es gibt keine „innere Identität“ Europas, und schon gar keine die eine friedliche „Begegnung mit Jerusalem“ wäre. Das Judentum selbst war bereits die Begegnung von griechischer Philosophie und einem über Epochen sich wandelnden Rechtsverständnis, das Vernunft in der historisch situierten rabbinischen Auslegung und damit der Diskussion forderte. Den Juden aber sei keine für Europa bedeutende philosophische Vernunft und kein spezifisch interessantes Rechtsdenken eigen – das ist die Aussage Ratzingers. Über das Christentum und seine „Begegnung mit Jerusalem“ treffen Adorno/Horkheimer das trockene Urteil: „Bei den deutschen Christen blieb von der Religion der Liebe nichts übrig als der Antisemitismus.“ (DdA 185) Und bei weitem nicht nur bei den deutschen.

In Wahrheit waren es jüdische Philosophen und Aktivisten, die Europa denkens- und lebenswert machten und die mitunter das (vorchristliche) frühdemokratische Rechtsdenken bewahrten und diskutierten. Maimonides arbeitete an einer aufklärerischen, gegen magische Praktiken gerichteten Medizin, argumentierte gegen die Astrologie und diskutierte die Integration der griechischen Philosophien durch das Judentum während wenige Jahre später Thomas von Aquin den Hexenglauben theologisch legitimierte und etablierte und in Paris der Talmud verbrannt wurde. Noch die christlichen Aufklärer waren antijüdisch. Der kulturelle Kern Mitteleuropas ist der Pogrom, mehr noch, der christliche. Die subtile Abwertung des Judentums und die Verdeckung des christlichen Antisemitismus gesellt sich formschön zu Ratzingers dritten Impuls, den in philosophische Floskeln gekleideten, sich als dialektisch ausgebenden Antiintellektualismus.

Es ist in den industrialisierten Gesellschaften kaum möglich, an die Wahrheit der Magie Jesus Christus und an die physische Realität eines Himmels oder einer Hölle zu glauben ohne einen (auto-)aggressiven Antiintellektualismus zu betreiben und Physik, Paläontologie oder Astronomie zu leugnen. Der Kreationismus ist nur die reinste Ausprägung dieses Antiintellektualismus und in den afrikanischen Staaten ist er das Weltbild derer, die nicht den imposanten Apparat der Aufklärung – Museen, Sammlungen, Zoos, Zeitschriften, Texte  – kennen und kaum eine andere Wahl haben. Das wird von der katholischen Kirche in diesen Regionen ausgebeutet und affirmiert, ebenso wie die mörderische Homophobie der auf Reproduktion vernagelten Gesellschaften. Solches Verhältnis zur Wissenschaft steht zur Diskussion, wenn es um einen „Schöpfergott“ geht, das Naturrecht und seinen Ursprung in einem Schöpfergott zu diskutieren ist nur ein Ablenkungsmanöver. Die Kirche kann es mit der Vernunft und Modernisierung nicht so ernst meinen, wenn sie als spezifische weiter den konkreten Glaube an Unsinn anempfiehlt. Zu weit darf sie dabei nicht gehen, sollen doch die Kühlschränke und Automobile funktionieren auch wenn der liebe Herr Jesus wirklich übers Wasser wandelte. Nicht Rechtspositivismus und Vernunft sind aktuelle Konfliktpole der katholischen Kirche sondern Wahrheit und Massenselbstbetrug. An einen Gott und Magie lässt sich nur noch sehr abstrakt glauben, will man nicht gar so dumm dastehen, wie man sich gerade deshalb immer noch massenhaft dazustehen traut. Wird göttliche Magie abstrakt, so wird die spezifische Lehre, der Ritus und insbesondere der Papst überflüssig und das Ritual privatisiert – wie es die Esoterik nur konsequent umsetzt.

„Die Unverbindlichkeit des geistlichen Heilsversprechens, dieses jüdische und negative Moment in der christlichen Doktrin, durch das Magie und schließlich noch die Kirche relativiert ist, wird vom naiven Gläubigen im stillen fortgewiesen, ihm wird das Christentum, der Supranaturalismus, zum magischen Ritual, zur Naturreligion. Er glaubt nur, indem er seinen Glauben vergißt. er redet sich Wissen und Gewißheit ein wie Astrologen und Spiritisten. Das ist nicht notwendig das Schlechtere gegenüber der vergeistigten Theologie.“ (DdA 188)

In all seinen Reden geht es Ratzinger demnach auch nicht um Glauben oder Wahrheit – dahingehend müsste er entweder der Esoterik oder der Wissenschaft ihr Recht zugestehen. Es geht um die einzig wahre Naturreligion des rassistoiden Europas, die Zugehörigkeit. Im Olympiastadion predigt er Zugehörigkeit zum Weinstock, dass man sich zu einem guten Wein machen solle und „sich selbst geben“. Das Ziel dieser Gabe ist das Wohlgefallen des Jesus Christus und Jesus Christus sind irgendwie die Menschen selbst – so betet sich tatsächlich Gesellschaft in der Religion selbst an wie es ausgerechnet der Positivist Durkheim ganz richtig vermutete ohne so recht etwas dagegen zu haben. (S. Adorno in Durkheim 1996: 20) Längst spielt es keine Rolle mehr, ob nun Jesus, Mohammed oder Moses das Meer mit dem Stab oder Brot mit den Händen oder die Juden mit dem Schwert zerteilte, solange man nur einen „kulturellen Kern“ oder ein „Licht“ vor sich her trägt und die Wahnvorstellung nicht alleine glauben muss. Am gleichen Orten glaubten in Berlin die einen auf Aufstieg und Abstieg der eigenen Mannschaft, die anderen an Auferstehung und Hölle, die dritten an Wahlsieg und Wahldesaster – solange man nur nicht alleine damit ist. Der philosophische Lidschatten, den Ratzinger der Kirche verpasst macht Gesellschaft gewiss nicht menschlicher. Er ist schlecht aufgetragene Kosmetik der kollektiven Regression wie die zur Schau getragene Empörung seiner Gegner.

Auf internationaler Ebene um Ersthaftigkeit bemüht war in den letzten Tagen allein Benjamin Netanjahu, dessen Rede vor den UN im Volltext im Interesse des Friedens weitaus dringlicher zur Lektüre empfohlen wäre als die Reden Ratzingers.

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Literatur:

Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. 1979 (1943).

Theodor W. Adorno in Durkheim, Emile: Soziologie und Philosophie. 1996 (1976).

Die Irrationalität der Trauer

Mitleid, schreibt der Nietzscheaner Adorno, ist ungerecht: Es ist immer zu wenig. Würde man das Mitleid, das alle Menschen verdienten gerecht zuteilen, so fürchtete Nietzsche, dann würde man auf der Stelle verrückt werden und seines Geistes verlustig. Ebenso verhält es sich mit der Trauer. Sie ist ungerecht, weil nicht um alle Menschen gleichermaßen getrauert werden kann, die das vielleicht verdient hätten.

Auf diesen Universalismus berufen sich beleidigte Feulletonisten: Starben nicht mehr US-Soldaten in Irak und Afghanistan als bei 9/11, ganz zu schweigen von den Millionen anderen, die der Islamismus und diktatorische Regimes in den letzten zehn Jahren vor allem im eigenen Hoheitsgebiet ermordeten. Ist Trauer nicht obszön, wenn sie diese 3000 im World-Trade-Center betrauert, die anderen aber exkludiert.

Eine solche utilitaristische Trauerpraxis, wäre sie ernst gemeint, ist keine. Wer Trauer nach dem Tauschprinzip zurichtet, fügt sie in ein verwaltetes System ein, in dem zugeteilt wird, wem gebührt. Doch es geht den Beleidigten nicht einmal um Gerechtigkeit, die so häufig gegen die Freiheit ausgespielt wird. Wer so stänkert, neidet Individuen ihre intimsten Gefühle und zeigt sich eben unfähig zu trauern – unter der Berufung auf jene, deren vergessenes Leid von ihm zum Argument seiner Gefühlskälte instrumentalisiert wird.

Diese Äquidistanz kultiviert Judith Butler in ihrem Heftchen „Gefährdetes Leben“. Als in Pakistan der Journalist Daniel Pearl von Islamisten vor der Kamera geköpft wurde und diese Tat international Entsetzen auslöste, fragte sie empört und borniert: Wieso man gefälligst medial nicht in gleichem Maße um Palästinenser trauere, die von israelischen Soldaten getötet wurden. Sie fragt aber nicht jene Palästinenser, warum sie auf ihren Straßen Freudentänze aufführten oder zumindest duldeten, als die WTC-Türme einstürzten oder warum einige vor lauter gar nicht klammheimlicher Freude Bonbons an Kinder verteilten, nachdem Djihadisten in einer Siedlerwohnung einbrachen und nach den Eltern der dreimonatigen Hadas Vogel die Kehle durchschnitten weil sie jüdisch war.

Der Adressat von Butlers Kritik sind die USA und ihr Feindbild Israel – die ersteren hält sie demnach für veränderbar und kritisierbar, während sie Israelis zu Nazis erklärt und für die im Bann des Islamismus Wütenden nichts als Affirmation bereit hält. Den Trikont schließt sie vom propagierten Nutzen ihrer Kritik aus und erklärt ihn implizit für unfähig zur Veränderung – vielmehr soll er so anders bleiben, wie er ist, damit der Westen sich in seiner Toleranz diesem Dritten gegenüber gefallen kann.

Ihre Kritik führt in der Konsequenz nicht zu mehr Trauer sondern sie streicht diese durch und verfällt eben in jene Rolle, die der Gegenseite vorgeworfen wird: Menschenleben aufzurechnen nach der bloßen Kategorie des nach dem Tauschprinzip gleichgemachten Lebens. Verdunkelt wird die Qualität des Todes und des Verbrechens und vor allem: der moralischen und intellektuellen Nähe zu den Toten. Liebe, die alle meint, ist keine, lautet eine Kritik von Grunberger/Dessuant am Christentum. Sie streicht die qualitativen Bedingungen, weshalb man liebt, durch und entwertet den Gegenüber zu einer Projektionsfläche eines narzisstischen Spiegelkabinetts.

Die USA mögen ihre guten und schlechten Seiten haben – angegriffen wurden sie ausschließlich wegen ihrer guten, so Hannes Stein. Wenn sich Menschen mit den Opfern dieser Tat identifizieren, ist das nicht Ausdruck der verschleierten Zwecke der „Macht“, wie Butler in ihrem jüngsten Fließbandprodukt unterstellt. Es ist Ausdruck des Universalismus von 9/11. Dessen Trauer ist integrativ, sie meint die damals ermordeten Menschen ungeachtet ihrer Religion oder Hautfarbe oder Nationalität. Sie ist exklusiv, denn sie schließt aus, dass irgend etwas mit jener hasserfüllten Intransigenz des Islamismus geteilt werden kann. Und, im Gegensatz zur vorgeschützten internationalen Solidarität einer Judith Butler – sie ist in erstaunlichem Ausmaße ehrlich, auch wenn sie in Quizzshows mit den variierten und orchestrierten Titeln „“Wo waren sie am 9/11“ aufs Schlimmste ausgebeutet wird.

Die Dialektik von Trauer und Gerechtigkeit gegen beide auszuspielen ist bösartig und nicht philosophisch. Dialektische Kritik hat den menschlichen Impuls zu verteidigen, wo er überhaupt noch aufzutreten wagt, ohne sich dafür entschuldigen zu müssen.