Es lohnt sich derzeit sehr, die Jüdische Allgemeine zu lesen. Erhältlich ist sie in der Regel an allen nennenswerten Bahnhofsbuchhandlungen oder im überaus günstigen StudentInnen-Abo. In der aktuellen Ausgabe kritisieren mehrere Leute versiert den Bundestagsbeschluss zur Aufhebung der Sanktionen gegen die Hamas. Des weiteren findet sich ein Artikel über die antisemitischen Boykott-Aufrufe, die in Europa und den USA (unter anderem unter der Ägide solch illustrer SchirmherrInnen wie Judith Butler) grassieren.
Antisemitismus
„Iran im Weltsystem – Bündnisse des Regimes und Perspektiven der Freiheitsbewegung.“ – Rezension
Studien Verlag 2010, Stephan Grigat/Simone Dinah Hartmann (Hrsg.), 178 Seiten, 19,99 Euro.
Vor zwei Jahren gaben Grigat/Hartmann bereits ein Standardwerk zum Iran und dem Netzwerk seiner internationalen Förderer heraus. Die neue Veröffentlichung mit einem zumal ähnlichen Titel erscheint zunächst wie eine nichtsdestotrotz notwendige und wünschenswerte Aktualisierung dessen. In der Lektüre erweist sich das Buch dann als gelungener Versuch, Wiederholungen zu vermeiden – es lässt sich als gelungene Fortsetzung, als zweiter Band des ersten, theoretischeren Werkes lesen. Damals war die Stoßrichtung vor allem durch die virulente Relativierung des Atomprojektes durch den NIE vorgegeben. Im aktuellen Band wird darauf verwiesen, dass nicht mehr so sehr die Leugnung des Atomprogramms dominiert, sondern die Compliance der Staaten und der individuellen Akteure wider besseres Wissen. Dass Iran zu Atomwaffen strebt wird nicht länger diskutiert, sondern in seiner bitteren Konsequenz analysiert. Auf theoretische Geflechte verzichten Grigat/Hartmann diesmal zugunsten einer detailreichen, knappen und rasanten Studie mit journalistischem Detailreichtum, der es wie im Vorwort versprochen gelingt, eine publizistische Beschäftigung mit dem Thema zu vermeiden. Die Autorenriege hat weitgehend gewechselt, die Positionen haben sich entsprechend der Situation verschärft. Niemand, der eine Meinung zu Iran zu haben glaubt, kann sich vor diesem Buch drücken. Die Hauptthesen werden im Folgenden kurz angerissen. Weiterlesen
Israelische Verteidigung
Die IDF-Seiten aufzusuchen ist kein großes Kunststück. Man trüge durch diesen Mindeststandard dazu bei, die Narratio um die Flotilla-Intervention zu glätten. Gegen den Vorwurf, Israel habe sich den Ausnahmezustand angeeignet und internationale Gesetze missachtet liest sich der folgende Bericht:
Interception of the Gaza flotilla-legal aspects.
Fazit: Die Aktion war innerhalb des geltenden internationalen Rechts (sofern man innerhalb dieses sehr schwachen Konstrukts argumentieren möchte) legal, da bei einer rechtmäßigen Seeblockade auch ein Schiff aufgebracht werden kann, das kurz vor der Durchbrechung einer Blockade steht und in eindeutiger Absicht dahingehend handelt. Durch das Ausschlagen des Angebotes des freien israelischen Geleites zum nächsten israelischen Hafen trat dieser Fall in Kraft.
Schleierhaft ist vielen die Absicht der Flotilla-Mitglieder – ging es etwa darum, das Schiff nach Hausbesetzermanier militant zu verteidigen im Wahn, möglicherweise damit bis nach Gaza durchzukommen? Dafür sprächen die primitiven Waffen. Weitere Klarheit darüber bringt folgende Differenzierung:
Report: How the IHH prepared itself for confrontation.
Die Mannschaft auf dem Schiff unterlag demgemäß einer Aufteilung zwischen einem harten Kern, der den Angriff plante und einem großen Teil von mehr oder weniger informierten Mitläufern, die vor der Konfrontation unter Deck geschickt wurden. Ein Clip einer Versammlung findet sich hier:
Ein weiterer Clip ist hier zum Download verfügbar, eine Zusammenstellung der Vorbereitungen gibt es hier.
Nachvollziehbar sind die Motive der israelischen Navy:
1. Das Schiff musste gestoppt werden, bevor es die Blockade durchbrochen hatte – weil es dann in Reichweite der Hamas-Boote gewesen wäre und eine Eskalation nicht auszuschließen gewesen wäre.
2. Man bewaffnete die Soldaten zunächst mit Paintball-Gewehren, da man sich schlimmstenfalls auf Crowd-Control einstellte. Als die angegriffenen Soldaten, davon einer mit einem Stich in den Magen, sich ins Wasser retteten, Teile ihrer Ausrüstung verloren, weitere scharfe Schüsse meldeten und Soldaten als Geiseln genommen wurden, schritt man mit scharfen Waffen ein.
Aus der Zahl der Toten auf die tatsächliche Verhältnismäßigkeit der Mittel zu schließen ist ein populärer Fehlschluß, der in der Guerilla-Kriegsführung von je einkalkuliert wird. Die Indizien der tödlichen Waffen und hocheskalativen Rüstungen, ihre schiere Zahl (100 kugelsichere Westen und 200 Gasmasken!) sowie die zur Eskalation führenden Attacken mit potentiell letalen Folgen (Magenstich, das Werfen der verletzten Soldaten auf die tieferen Decks) geben allen Grund, der israelischen Position zu folgen, nach der für die Soldaten mehrfach undurchsichtige Situationen mit extremer Todesdrohung bis hin zu Schüssen auf sie entstanden sind. Am deutlichsten geht das aus der folgenden Passage aus dem sehr lesenswerten zusammenfassenden Bericht des „Intelligence and Terrorism Information Center“ hervor:
Interviewed by the Turkish media at Ataturk Airport in Istanbul upon arrival in Turkey, IHH
leader Bülent Yildirim said that the Israeli investigators [who questioned him] asked him if the
IHH operatives had attacked the IDF soldiers with iron bars and axes. He said he answered
that “What I did was in self defense,” adding that “at first our comrades neutralized ten
soldiers. Then we took their rifles. You are considered legally innocent if you take
the weapon of a person attacking you.” He also said that they threw the weapons [they
took from the soldiers] into the sea (Zaman, June 4, 2010).
Weitere Quellen:
Die Aussagen des Kapitäns und des Offiziers.
Eine erste Zusammenfassung der Ereignisse auf Deutsch.
„Go Back to Auschwitz!“ – Der Funkverkehr mit der Marmara.
„Lizas Welt“ arbeitete ausführlicher mit „Die Banalität des Guten„, „Im Dialog mit Pax Christi“ und „links, zwo, drei gegen Israel„.
Türkische Rochade
In manchen Tageszeitungen kehrt Skepsis ein. Selbst in der taz melden sich kritische Stimmen zur Flotilla-Rezeption zu Wort. Das allerdings kann niemanden hoffnungsvoll stimmen. So fordert die Türkei weiter eine Untersuchung der Vorgänge durch die UN. Man würde einer israelischen Untersuchung kein Vertrauen schenken.
Während die israelische Regierung ihre Lücke im Bereich Propaganda und Information eingesehen hat und gegensteuert, ist ihr eine israelische Studentenorganisation voraus: Sie kündigten an, ein eigenes Schiff in die Türkei zu schicken, um dort Kurden und Armenier zu unterstützen. Doch noch solche Retourkutschen sind noch verkehrt. Israel verfolgt keine Minderheiten – es repräsentiert die verfolgte Minderheit. Die Türkei, ein Staat mit einer Geschichte zwischen Militärdiktaturen, genozidalen Akten und einem akuten Islamismusproblem sollte sich selbst dafür zur Verantwortung ziehen, eine bekannte Gruppe bewaffnet auf einen Bündnispartner losgelassen zu haben. Die Sanktionen Israels gegen die Hamas-Regierung sind so diskutabel wie rechtens – die Flotilla verletzte die Souveränität Israels. Wie auch immer das Vorgehen ungeschickt oder schlecht geplant war – man wusste zumindest auf einer Seite, der der Flotilla, dass es Märtyrer geben würde. Dementsprechend feierte die Hamas einen Sieg und keine Niederlage angesichts der Toten. Und jede Forderung nach einer Beendigung der Sanktionen und nach einer UN-gestützen Untersuchung a lá Goldstones oral history macht sich zum Komplizen der Hamas. Wer irgend verantwortlich sich fühlte, würde zum Ende des Waffenschmuggels in den Gazastreifen aufrufen und nicht zu einem Ende der Sanktionen. Fatalerweise hat Israels Regierung sich dem Ruf nach Letzterem gebeugt indem es die Liste zugelassener Waren erweiterte. So wird die Blockade der Hamas nur belohnt. Noch immer verrotten die „Hilfsgüter“ in einer israelischen Lagerhalle, weil die Hamas sie nicht entgegen nehmen will. Sie haben ihren Zweck erfüllt – sie sollten nicht helfen, sondern verletzen, angreifen, attackieren. Immer noch proklamiert die Hamas „Tod den Juden“ und erkennt Israel nicht an – eine Grundbedingung für jede Verhandlungen. Und noch immer weigert sich die Hamas, den seit vier Jahren in Geiselhaft befindlichen israelischen Soldaten Gilat Schalit auszutauschen. Ihm sei an dieser Stelle meine volle Solidarität ausgesprochen.
Das Gaza-Gambit
Die Zeitungen können nicht behaupten, es hätte kein Material gegeben – als die mediale Wut sich auf Israel eingeschossen hatte, war durch die festgefahrene journalistische Logik im Vorfeld sicher gestellt, dass die IDF nicht zu Wort kommt. Unmittelbar nach den ersten Hetz-Artikeln rollte die Lawine von antisemitischen Kommentaren los. Wer tatsächlich interessiert gewesen war, hätte lediglich einen Blick in die Jerusalem Post werfen müssen. Dort war von Beginn an die weitaus schlüssigere Version zum Ablauf des Ereignisses veröffentlicht worden: Beim friedlichen Durchsuchen von mehreren unter üblicher ideologischer Flagge fahrenden Schiffen nebst dem Kompromissangebot des freien Geleites zum Hafen wurden die israelischen Soldaten auf einem Schiff in einen Hinterhalt gelockt, sie wurden dort von Beginn an aufs Heftigste attackiert und nachdem zweien von ihnen Waffen entwendet wurden musste das Schiff letztlich mit Gewalt erobert werden. Dabei starben 9 Menschen.
Die antisemitische Version klingt weitaus spannender: Heimtückisch und planvoll hätten israelische Soldaten ein harmloses Schiff mit Hilfsgütern überfallen und willkürlich an die zwei Dutzend Menschen erschossen. Ein solches Vorgehen von einem demokratischen Land mit einer der diszipliniertesten und professionellsten Armeen der Welt zu erwarten baut auf der Glaubhaftigkeit auf, die nur komplette Absurdität erzeugt. Da kommt kein Zweifel auf bei den unzähligen kleinen Lichtern, welcher Räson ein solches Vorgehen entsprechen würde. Das Vorurteil fälscht die Erfahrung – Folge 1290003231. In den Hetzspalten der „Zeit“ ist das paradigmatisch enthalten:
„Nicht nur Türken waren im Visier der Israelis. Auch Angehörige von über dreißig Nationen, Muslime, Christen, Atheisten. Darunter auch zwei Bundestagsabgeordnete von den Linken. Sie alle wollten die dreijährige israelische Blockade von Gaza durchbrechen und Hilfsgüter bringen.“
Die ganze Welt im Visier Israels – das ist antisemitischer Jargon par excellence, Projektion der Tatsache, dass sich auf diesen Schiffen die ganze Welt eingefunden hatte, um gegen Israel zu sein – von Linkspartei-Abgeordneten bis zum schwedischen Kriminalroman-Autor und den Vertretern der IPPNW.
Aus den Videobotschaften wird aber klar, mit welchem Kalkül die Schiffsbesatzung ein Lynchkommando organisiert und durchgeführt hat, indem sie Soldaten mit Blend-Granaten, Eisenstangen, Ketten, Messern und professionellen Schleudern attackierte. Ein Idiot, wer die Tödlichkeit solcher primitiven Waffen bezweifelt oder relativiert – hier wurden von vornherein Todesopfer eingeplant. Ebenso geplant verläuft die diplomatische Kür, die die Türkei trotz der Videos vom Angriff der Schiffsbesatzung auf friedliche Soldaten aufrecht erhält. Immer offensichtlicher wird, dass die Türkei nach dem Iran zum neuen Hot Spot staatlich orchestrierten und plebiszitär getragenen Antisemitismus wird. Damit verdient sie sich die Mitgliedschaft in der nicht minder antisemitisch durchwirkten EU sehr redlich. Dass immer noch eine Untersuchung des israelischen Vorgehens gefordert wird und nicht vielmehr die türkischen Botschafter einbestellt werden, folgt der Logik des internationalen antisemitischen Reflexes. Müßig bleibt es, auf die Verkehrung hinzuweisen, dass allein die Hamas die Löschung der wie auch immer notwendigen Hilfsgüter verhindert – und trotzdem auf ganzer Linie gewonnen hat.
Die unvermeidliche Schuld Israels: Die Heimtücke des Feindes immer noch unterschätzt zu haben.
——————————————————————–
Etwas fleißiger die Zeitungen durchwühlt hat Lizas Welt:
Israel im Kopfkino
Petro Markaris erklärt in der taz vom 3./4./5. April die Finanzkrise Griechenlands. Dabei fühlt er sich berufen, eine griechische Reaktion auf deutsche Ressentiments folgendermaßen zu vergleichen:
„Es ist auch naiv, die Empörung der Griechen über solche Aussagen damit abzutun, dass man diese Empörung auf Traumata aus der deutschen Besatzungszeit zurückführt. Das ist ungefährt wie das Argument der Israelis, jeder, der die israelische Politik kritisiere, sei ein Antisemit.“
Egal, was diese vorherigen „Aussagen“ benannten: Hier wird ein klassischer Fall von Kopfkino und vorauseilender Verleugnung nach Freud durchgeführt. Unterstellt wird, dass jeder Israeli Kritik an „israelischer Politik“ als Antisemitismus abtue. Anscheinend war der Autor noch nie in Israel oder hat sich mit dem Judentum befasst, sonst würde er das dort bekannte Sprichwort kennen: „Zwei Juden, drei Meinungen.“
Bei ihm lässt sich das umkehren dahingehend, dass sein Antisemitismus die monolithische Imago „Israelis“ als dogmatische Instanz identifiziert und dieser Instanz ein Urteil über die eigene Meinung zuordnet, das der Verlautbarung vorausfolgt. Somit trifft er auch gar keine Fehlaussage über die Richtigkeit dieses Urteils, sondern verrät ein unbewusstes Wissen um seinen eigenen Antisemitismus, der in der Verleugnung dem Geständniszwang folgt. Noch bevor er also seine Kritik an Israel in einem Artikel über die griechische Ökonomie einzuflechten vermag, zwingt ihn sein schlechtes Gewissen zum Geständnis: Das was er gesagt hätte, wäre Antisemitismus gewesen. Die von Forumsnutzern so häufig ähnlich gelesene Einleitung, die auf die Beschwerde hinausläuft, dass man seinen Antisemitismus nicht mehr sagen dürfe, sonst werde man gleich als Antisemit beschimpft, offenbart die tiefe Kränkung, die die Kritik des Antisemitismus erreicht hat.
The Connection of the Roman Catholic Church and Croatian Nazism
„When the anti-Serb and anti-Jewish racial laws of April and May 1941 were enacted, the Catholic press welcomed them as vital for ‚the survival and development of the Croatian nation’… Archbishop of Sarajevo [then part of Croatia] Ivan Saric declared… ‚It is stupid and unworthy of Christ’s disciples to think that the struggle against evil could be waged… with gloves on.'“
IN AN unusual move, Germany entrusted Croatia with running its own concentration camps, without oversight. Shamefully, clergy members took a voracious dive into the bloodbath, serving as guards, commanders and executioners at the 40 camps, most famously Jasenovac, the Holocaust’s third-largest yet least spoken-of camp. There, they killed Serbs, Jews, Gypsies and anti-fascist Croats. On August 29, 1942, a friar from the monastery of Siroki Brijeg, named Petar Brzica, won first place for killing the most Serbs in the shortest time, boasting 1,350 throats slit in one night.
Der einzig wahre Hammer…
„Zuletzt liegt ein Angriff […] im Sinn und Wege meiner Aufgabe […], ein Angriff auf die in geistigen Dingen immer träger und instinktärmer, immer ehrlicher werdende deutsche Nation, die mit einem beneidenswerten Appetit fortfährt, sich von Gegensätzen zu nähren und „den Glauben“ so gut wie die Wissenschaftlichkeit, die „christliche Liebe“ so gut wie den Antisemitismus, den Willen zu Macht (zum „Reich“) so gut wie das évangile des humbles ohne Verdauungsbeschwerden hinunterschluckt… Dieser Mangel an Partei zwischen Gegensätzen! Diese stomachische Neutralität und „Selbstlosigkeit“! Dieser gerechte Sinn des deutschen Gaumens, der allem gleiche Rechte gibt – der alles schmackhaft findet… Ohne allen Zweifel, die Deutschen sind Idealisten.“
„Aber hier soll mich nichts hindern, grob zu werden, und den Deutschen ein paar harte Wahrheiten zu sagen: wer tut es sonst? – Ich rede von ihrer Unzucht in historicis. Nicht nur, daß den deutschen Historikern der große Blick für den Gang, für die werte der Kultur gänzlich abhanden gekommen ist, daß sie allesamt Hanswürste der Politik (oder der Kirche) sind: dieser große Blick ist selbst von ihnen in Acht getan. Man muß vorerst „deutsch“ sein, „Rasse“ sein, dann kann man über alle Werte und Unwerte in historicis entscheiden – man setzt sie fest… „Deutsch“ ist ein Argument, „Deutschland, Deutschland über alles“ ein Prinzip; die Germanen sind die „sittliche Weltordnung“ in der Geschichte; im Verhältnis zum imperium romanum die Träger der Freiheit, im Verhältnis zum achtzehnten Jahrhundert die Wiederhersteller der Moral, des „kategorischen Imperativs“… Es gibt eine reichsdeutsche Geschichtsschreibung, es gibt, fürchte ich, selbst eine antisemitische, – es gibt eine Hof-Geschichtsschreibung und Herr von Treitschke schämt sich nicht… […] Alle großen Kultur-Verbrechen von vier Jahrhunderten haben sie [die Deutschen] auf dem Gewissen!“
„Der „deutsche Geist“ ist meine schlechte Luft: ich atme schwer in dieser Instinkt gewordnen Unsauberkeit in psychologicis, die jedes Wort, jede Mine eines Deutsche verrät. […] Das was in Deutschland „tief“ heißt, ist genau diese Instinkt-Unsauberkeit gegen sich, von der ich eben rede: man will über sich nicht im klaren sein. Dürfte ich das Wort „deutsch“ nicht als internationale Münze für diese psychologische Verkommenheit in Vorschlag bringen? […] Ich habe Gelehrte kennen gelernt, die Kant für tief hielten; am preußischen Hofe, fürchte ich, hält man Herrn von Treitschke für tief.“
(Friedrich Nietzsche, „Ecce Homo“. Werke, hg.1999 Hanser-Verlag, S. )
Nicht nur weil die halbe „Dialektik der Aufklärung“ aus diesem Rhizom geschnitzt ist, auch wegen solcher fantastischer und durchs ganze Werk gestreuten Boshaftigkeiten gegen den deutschen Geist und seiner Kritik am Antisemitismus ist Nietzsche heute so aktuell wie zu seiner Zeit. Sieht man von der verzweifelten Unruhe gegenüber dem weiblichen Geschlecht ab, die in ihrer Misogynie noch einen Wunsch nach befreiter weiblicher Individualität barg und in seiner Bösartigkeit noch eine Kritik am durch Unterdrückung gebildeten Charakter, ist Nietzsche der einzig wirkliche Aufklärer, der sich auch nicht schämt, einem Kapitel den Titel zu geben: „Warum ich so klug bin“.
Sarrazins Kinder
In einem Zug irgendwo zwischen Mittelhessen und Nordrhein-Westfalen musste mancher diese Woche folgendem Monolog eines eifernden Mittfünfzigers beiwohnen:
„Der Dingsda von der SPD, der das mit den Ausländern gsacht hat, hat ja jetzt ein auf den Deckel bekomme. Joa. Wenn ma in ner Partei is, kammer das net sache, da kriecht ma gleich was aufen Deckel. Awer eigentlich hatter ja recht. Dass die da den Staat aussuckeln kann ja wirklich net angehn. Wie die in Kleinlinne da, die hot da drei Kinner. 350 Euro! Zahlt alles des Amt! So e Schlambe, die müsst geprüchelt were, von morchens bis abens! Jeden tach isse inne Disko un die Kinner hotse beim Vatter gelasse!“
Sarrazins geistige Kinder: lauter kleine deutsche Bierbauchmännchen, die das Bewerbungsschreiben für den amtlichen Job des „Durchprüglers“ schon in der Schublade haben, falls der Islamismus kommen sollte.
Wird er nur fehlinterpretiert? Hat er, wie Wolffsohn es wahrnimmt, eine „sachliche“, „analytisch tiefe“ Kritik an islamistischen Zumutungen geäußert? Oder hat der Zentralrat der Juden recht, wenn ein Sprecher behauptet, Sarrazin stünde in einer geistigen Linie mit Hitler?
Sarrazin ist vor allem deutsch wie ein Jägerzaun. So einer schickt schon mal Mitarbeiter zum Einkaufen in den Discounter, um nach einem Blick auf den Kassenzettel und einem weiteren ins Aldi-Kochbuch die Forderung nach 49 Cent weniger Tagessatz für Hartz-4 Empfänger rauszufetzen. Im jüngsten Interview jammert er dann:
„Es gibt auch das Problem, dass vierzig Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden“
Warum es überhaupt eine Unterschicht gibt, muss man für einen Malthusianer seines Schlages gar nicht mehr problematisieren – wer dort Kinder gebärt, vermehrt anscheinend zwangsläufig die Unterschicht. So schnell wird Armut rassifiziert und ein gesellschaftliches Problem – das der Armuterzeugung bei gleichzeitiger gigantischer Warenanhäufung – biologisiert. Die Armen erscheinen bedrohlich, ökonomisch und sexuell. Sie fressen und ficken dem Sarrazin zuviel. Da kann ja auch sonst nichts dabei rauskommen:
„Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt (…) hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln. Das gilt auch für einen Teil der deutschen Unterschicht.“
Nun könnte man auf die Bedeutung der türkischen Khebapproduzenten für die Ernährung deprivierter SchülerInnen und Arbeitsloser verweisen oder auf Anteile türkischer oder arabischer ArbeiterInnen in Leiharbeitsfirmen. Sarrazin kommt es aber nicht so sehr darauf an, welche Nischen besetzt werden. Er will den Aggress auf die eigene Unproduktivität abwälzen, indem er Menschen zuerst auf ihre produktive Funktion hin klassifiziert. Integration wird hier an der in den Betrieb gemessen.
So nimmt es nicht wunder, dass bei einem derart in Fleisch und Blut übergegangenen instrumentellen Verhältnis zu Menschen am Holocaust vor allem die ökonomischen Einbußen für Berlin bedauert werden – Berlins Bevölkerungsstruktur und Ökonomie erscheinen als vorrangiges Opfer Nazideutschlands:
„Das hatte Folgen für die Bevölkerungsstruktur. Auch der immense jüdische Aderlaß konnte nie kompensiert werden. Dreißig Prozent aller Ärzte und Anwälte, achtzig Prozent aller Theaterdirektoren in Berlin waren 1933 jüdischer Herkunft. Auch Einzelhandel und Banken waren großenteils in jüdischem Besitz. Das alles gab es nicht mehr, und das war gleichbedeutend mit einem gewaltigen geistigen Aderlaß. Die Vernichtung und Vertreibung der Juden aus dem deutschsprachigen Raum insgesamt betraf zu sechzig bis siebzig Prozent Berlin und Wien. Dazu kam der Weggang des klassischen leistungsorientierten Bürgertums.“
Dass es „das alles“ nicht mehr „gab“ ist eben nicht gleichbedeutend mit einem „gewaltigen geistigen Aderlass“. Es ist überhaupt nicht gleichbedeutend. „Die Vernichtung und Vertreibung der Juden aus dem deutschsprachigen Raum insgesamt“ betraf Juden und nicht „zu sechzig bis siebzig Prozent Berlin und Wien“.
Und was bleibt dann zwangsläufig von der „Kritik“ am Islamismus übrig?
„Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für 70 Prozent der türkischen und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin.“
Dass jemand „vom Staat lebt“ leitet den Beginn der Assoziationskette ein – das ist schon mal sehr verdächtig für einen Berufsbeamten. „Diesen Staat“ abzulehnen scheint ohnehin niemand das Recht zu haben, der „vom Staat“ lebt. Das ist keine Kritik am Islamismus, sondern das ist Zurichtung auf bedingungslosen Konformismus. Eine solche wird nur noch verstärkt durch die vermeintlich unrassistische Forderung, doch Ausländer reinzulassen, die etwas Anständiges leisten und qualifiziert sind.
„Sie müssen zur Schule gehen, sie müssen Deutsch sprechen können und den normalen Aufstieg durch Bildung nehmen.“
Das klingt mehr als scheinheilig im Land der Arbeitsverbote für Ausländer und der promovierten thailändischen Putzhilfen. Dass Mädchen unters Kopftuch gezwängt werden, rechtfertig zuletzt noch lange nicht, die Geburt dieser Kinder in der gleichen Weise als „Produktion“ zu diffamieren wie das die Ideologie der Islamisten vollzieht. Was er angreift ist der Mensch, nicht die üble Sitte, die ihn zurichtet. Der Brauch, die Geburt von Mädchen zu diskreditieren, ist überdies ein alter deutscher: In manchen Orten Bayerns wird dem Vater eines Mädchens bisweilen eine Kette von Büchsen an den Balkon gehängt mit einem Zettel, der die Beleidigung „Büchsenmacher“ verkündet.
Sarrazin bietet keine Frauenhäuser für „Kopftuch-Mädchen“ an, er will kein Asyl für alle andernorts unter die Burka geprügelten Frauen erwirken. Sarrazin will ein anständiges deutsches Straßenbild mit deutschen Gemüsehändlern und einer gut integrierten vietnamnesischen Raumpflegerin, die für ihre 6,76€ pro Tag (Sarrazin-Hartz 4 plus drei Stunden Ein-Euro-Job) dankbar SPD wählt.
Daher irrt Wolffsohn: Sarrazin ist ein zutiefst deutsches Kind. Und er wird völlig zu recht von irgendwelchen Mittelhessen zitiert, die ihr Kind zur Universität schicken, jeden Tag zur Arbeit gehen und jeden Tag der nackten Angst vor dem Abstieg in die Unterschicht und ihren lockenden Freuden – dem „Suckeln“ an der Mutterbrust von Vater Staat – nachspüren.
Noble Gesinnung?
2002 wurde Jimmy Carter mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Carter fühlte sich dadurch dazu veranlasst, sein Buch „Palestine: Peace, not Apartheid“ zu schreiben, in dem er Israel die Schuld daran gibt, dass es sich selbst mit einer Mauer vor antisemitischen Überfällen in Schutzhaft nehmen muss.
1994 erhielt Yassir Arafat den Friedensnobelpreis. Das ermutigte ihn 2000 dazu, die zweite Intifada zu organisieren. Seine Garde, die Al-Aqsa-Brigaden, verübten ein Drittel aller Selbstmordanschläge, die während dieser antisemitischen Kampagne verübt wurden.
1919 wurde Woodrow Wilson mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Er hatte als Ku-Klux-Klan-Anhänger und Freund der Sklaverei die Rassentrennung in vielen Bereichen erst neu eingeführt. In seiner Amtszeit geschahen die genozidalen Massaker an der armenischen Bevölkerung in der heutigen Türkei und in Armenien.
Drei Beispiele für die Fragwürdigkeit der Auszeichnung mit einem Friedensnobelpreis.
Nun hat es Barack Obama erwischt und nur konsequent setzt Füßescharren ein. Was genau hat Obama erreicht? Nordkorea hat sein Atomwaffenprogramm fortgesetzt. China verschärft mit schöner Regelmäßigkeit die Zensur. Im Sudan gehen die Morde weiter und die Vertriebenen leben in ständiger Angst ums Überleben. Der Kongokrieg tobt weiter, plündernde Banden marodieren und vergewaltigen – sie wären mit militärischen und polizeilichen Mitteln einfach zu stoppen, wären diese vorhanden. Somalia muss immer noch mit 3000 AU-Soldaten auskommen um eine zweifelhafte Regierung gegen kriegserprobte fundamentalistische Fanatiker zu verteidigen – während man in Deutschland für einen mittleren Castortransport 16 000 Polizisten gegen ein paar Tausend unbewaffnete potentielle Gleisbesetzer mobilisiert. Und was genau hat Obamas zaudernde Politik gegenüber dem Atomwaffenprogramm in Iran mit der Schaffung einer atomwaffenfreien Welt zu tun? Offene Fragen, die Obama bei der Preisverleihung selbst peinlich sein dürften.