Christenheit, Vulgäratheismus und jüdische Rechtsphilosophie – eine Stuttgarter Großbaustelle

Im Titelkommentar der taz vom 1.8.2011 schreibt Ingo Arzt:

„Heiner Geißler, Schlichter im Streit über Stuttgart 21, genießt eher den Ruf des politischen Schelms als den eines salomonischen Weisen. Trotzdem erinnert sein Vorschlag, mit dem er den Streit in Stuttgart befrieden will, abstrus an die alttestamentarische Kinderspaltidee.“

Wie sich in einem solchen Satz ein „alttestamentarisch“ einnisten will und dem kruden Wortschöpfungsunfall „Kinderspaltidee“ beigesellen darf, ist nur aus einem sehr, sehr tief und unterirdisch wirkendem Antisemitismus zu erklären. Salomos Weisheit ergibt sich gerade aus dem hinter der vorgeschützten Brutalität versteckten Plan, das Sorgerecht von der Liebe der Frau zu einem Kind abhängig zu machen. Das bedeutet ein revolutionäres, aufgeklärtes Verständnis von Erziehung als liebevolle Kommunikation und nicht als Investition wie bei pathisch erkalteten Sarrazinisten, auch nicht als rassistoide Fortführung des Stammhaltertums im Namen des Blutes. Diese patriarchalen Modelle konnte der moderne Rechtsstaat nicht überwinden – das Kind ist noch immer in wesentlichen Punkten Produkt und verwaltbares Privateigentum der Eltern und nicht Rechtssubjekt.

Mit einem teilbaren Bahnhof hat das alles nur unbewusst zu tun. Heiner Geißler hat weder eine Machtposition noch ist der Bahnhof ein Kind noch streiten sich hier Mütter um das Sorgerecht noch wollte Salomo das Kind wirklich spalten. Heiner Geißler aber ist zu unterstellen, dass er tatsächlich „seinen“ Doppel-Bahnhof gebaut sehen will – inklusive Plakette am Eingang. Dass Ingo Arzt bei seinem Vorschlag an Kindsmord denkt und diesen als „alttestamentarisch“ und damit „abstrus“ markiert, atmet aus einer traditionsreichen Abwertung der unverstandenen jüdischen Rechtsphilosophie wie sie der christliche Antisemitismus produziert. Der Überlegenheitsdünkel weiter Teile der Christenheit kann die recht traditionelle jüdische Philosophie Jesus Christus nur von ihren jüdischen Anteilen reinigen, wenn er darauf beharrt, dass hier gänzlich Neues gedacht wurde. Diesem überfrachtetem Neuen gilt das Alte als schlecht, barbarisch, überholt. Der Christ als guter Mensch ist in der Abgrenzung ein besserer Mensch – und es passt ihm gerade so recht in den Kram, das, was man am Christentum als Humanismus werten kann gegen den jüdischen Humanismus auszuspielen, aus dem er seine ganze Kraft gewinnt und auf den er sein abgespaltenes Aggressionspotential projiziert. Das ist auch der Grund, warum protestantische Bewegungen ausschließlich das „Neue Testament“ drucken und verteilen. So einfach kann man eine in philosophischen, reich verzweigten Mäandern sich bewegende jahrtausendealte Philosophie für „Alt“ und somit „Veraltet“ erklären. So einfach kann Ingo Arzt auch einen dummdreisten Vorschlag Geißlers gar nicht so unterschwellig in einem Satz als „jüdisch“ („alttestamentarisch“), „kindsmörderisch“ (Kindspaltidee) und, auch das liegt im Reich der assoziativen Felder erstaunlich nahe, als „entartet“ („abstrus“) verurteilen.

Eine solche Abwehr wird sicherlich mit ausgelöst durch das Inzestuöse an Geißlers Vorschlag. Stuttgart würde dann von mächtigen Hochgeschwindigkeitszügen penetriert und gleichzeitig – für weniger phallisch organisierte Gemüter – von heimeligen S-Bahnen auf seiner Oberfläche bestreichelt. Eine solche intime Gleichzeitigkeit kann nur ödipale Kastrationsdrohungen auf den Plan rufen. Obwohl: der ganze Konflikt um S21 trägt auch ernstzunehmende Zeichen eines Verharrens in der analen Phase und ihrem Kernproblem. Es kreist alles ums Reintun und Rausholen, Innen und Außen, Sichtbar und Unsichtbar, Unten und Oben, Zerstören und Schaffen, Erhalten und Aufgeben. Büchners Woyzeck, dessen Körperfunktionen ein wahnsinniger Arzt terrorisiert und kontrolliert, wird oder ist von Beginn an wahnsinnig: statt seines Geistes wähnt er den Boden unter seinen Füßen hohl und unterwandert. Von ähnlichen Geistern sind die Stuttgarter geplagt: den einen unterwandern die Chaoten die Ordnung, den Anderen unterhöhlen Chaoten den geordneten Boden, auf sich selbst hat keiner einen Verdacht. Dass aus solchen archaischen Tiefen nichts anderes als Protestantismus und mit diesem der Antisemitismus als fast zwangsläufiger Abraum zu Tage gefördert wird, ist kaum verwunderlich.

Übrigens verzichtete am gleichen Tage eine Frau im islamischen Terrorregime Iran auf ihr anscheinend verbrieftes Recht, einem Mann, der sie mit Säure blendete das exakt Gleiche anzutun. Aus dem jüdischen Buch ist keine solche im islamischen Recht verankerte Talionsformel bekannt. „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ bedeutete im Judentum nicht, dass jemandem die Zähne oder Augen ausgeschlagen wurden – solche kanonisierten Körperstrafen kennt man allerdings von anderen frühen Staaten, aus deren Gesellschaften jahrhunderte später islamisches Recht entstand. Der populäre Vulgäratheismus, in seinem Kern christlich geprägt, wird und wird nicht müde, solches Talionsrecht für einen archaischen Bestandteil des Judentums zu verkaufen und demgegenüber das christliche Recht, jemandem seine andere Wange hinzuhalten, für überlegen zu wähnen.

Dem Rambo sei Gsicht

„Rambo zeigt sein Gesicht“ prollt es vom Fronttransparent der S21-GegnerInnen und von der taz-Titelseite. Im Fernsehen zeigen gealterte ErstdemonstrantInnen ihre Freude darüber, Mappus als „Rambo“ identifizieren zu können: „Des isch ein Rämbo, ein Rämbo isch des!“

Das Glückgefühl, das unheimliche Bedrohliche in einem Wort gebannt zu sehen, ersetzt den DemonstrantInnen jede weitere Denkarbeit. Rambo, das ist das Böse, das Feindliche, die Aggression, die sie selbst nur mühsam ihm Zaum halten, der Amerikaner – Gegen Rambo sein heißt gut sein. Fern der diskutablen Qualität ihrer Anliegen muss den StuttgarterInnen Stupidität konstatiert werden. Wären sie Revolutionäre, John J. Rambo wäre ihr Idol, nicht ihr Feindbild. Er, der langhaarige Hippie, wird schließlich in „First Blood“ von Polizisten gefoltert und probt dagegen den Aufstand, indem er einer spießigen amerikanischen Kleinstadt die Quittung für ihre xenophobe Beschränktheit präsentiert. In „First Blood II“ sieht er sich mit einem Komplott der Regierung konfrontiert, gegen das er obsiegt. In „Rambo III“ ist es ein folternder Sowjet-Offizier, den er in Afghanistan herausfordert. In „John Rambo“ zerlegt ein gealterter Haudegen die Infanterie der burmesischen Todesschwadronen und bringt den Rebellen Waffen. In jedem Film finden sich Matritzen des Machtmissbrauchs, keine wird von John J. Rambo vertreten, alle von ihm angegriffen. Das muss zumindest ein Teil der Demonstrierenden wissen – es liegt daher nahe, dass sie sich schon unbewusst mit dem Prinzip identifizieren, gegen das John J. Rambo antritt. Sie hausieren mit ihrem Konformismus, und dieses Hausieren wird nur verstärkt durch das Missverhältnis von Aufwand und Gegenstand.

Während die Streiks in Frankreich als „Chaos“ denunziert werden – sie sind mehr als alles andere die geordnete Organisation der Bürger – gehen die Kleinbürger im benachbarten Landstrich gegen einen Bahnhofs-Neubau auf die Straße. Der Satiriker Harald Schmidt spießte präzise aus, was er am Protest verachtenswert findet: Dass diese Leute stolz darauf sind, zum ersten Mal in ihrem Leben demonstrieren zu gehen. Sie tolerieren, dass Ghaddafi Milliarden für die Flüchtlingsbeseitigung zugeschoben bekommt. Sie dulden oder befördern Abschiebungen. Die Rente mit 67 wird geschluckt, ebenso alle milliardenschweren und sinnlosen Subventionen für Zuckerrüben, Mais, Weinbau, Viehzucht und sonstiges Agrobusiness, das die afrikanische Landwirtschaft in den Ruin treibt. In Baden-Württemberg bekommt jedes Schlafzimmer seine Umgehungsstraße und ein eigenes Gewerbegebiet mit Autobahnzubringer, Atomkraftwerk und Flughafen – im Zweifelsfall auch gerne im Hochmoor. Wenn im niedersächsischen Gorleben oder in der Asse Milliarden beerdigt werden für den schwäbisch-badischen Atommüll, demonstriert nur ein winziger Bruchteil der StuttgarterInnen. Sie haben die Relationen aus den Augen verloren – ihre dümmliche Identifizierung von John J. Rambo und Mappus ist nur ein weiterer Ausdruck dessen.

Siehe auch:

„Rambology – mit John J. Rambo durch die Dialektik der Aufklärung“

„Der Sohn von Rambow – Rezension“

„Dei Mudder sei Gsicht“ (Eine Alternativproduktion zur Kritik schwäbischer Disintegration in die Moderne)