Der vierteilige Film „Adolescence“ (netflix) erhält überragende Kritiken und wird als Weckruf gegen frauenhassende Incels problematisiert. Anders als grotesk überbewertete Schrottfilme wie „Dune 1+2“, bei denen man wirklich am allgemeinen Verstand von Publikum und Kritik zweifelt, ist „Adolescence“ tatsächlich erst einmal gut gemacht und glänzt mit überragendem Schauspiel durch Owen Cooper und Graham Miller.
Die Quadrilogie erzählt die Geschichte eines Mordes von einem 13-Jährigen an einer anderen Teenagerin in einem Vorort von London. Die empathische Täterperspektive wird zunächst durch dessen Verdrängung und Leugnung ermöglicht, die den Spannungsbogen eines whodunnit erlaubt. Als die Tat dann durch Videobeweis nicht mehr zu leugnen ist, schwenkt die Perspektive auf die Eltern, deren Suche nach Antworten, und am Ende ihr Leiden an sozialer Ausgrenzung, Mobbing und Versöhnung mit dem Sohn.
Die Emotionalität und Sensibilität des Vaters bietet Identifikationspotentiale, aber auch Anlass für die Suche nach Versagen: Der Vater hat einmal „geschrien“ als ihm ein Projekt misslang, das wird zu einem Verdacht der Tradierung männlicher Gewalt aufgebaut, der dann noch einmal mit einem Angriff auf einen mobbenden Jugendlichen gehärtet wird, ohne aber etwas abseits der Normalität zu zeigen.
Internet, Incels und väterliche „Gewalt“ erklären innerhalb des Filmes nichts. Vielleicht will er nichts erklären, sondern nur darstellen. Zum Beispiel die Schule, in der man Kinder beim triezen, sich aufziehen und Klassenclown-spielen sieht. Oder die Institution der Untersuchungshaft für Jugendliche. Hier stellt der Film einem weißen, britischen Publikum als exotische und geschönte Ausnahme vor, was für zehntausende von Flüchtlingskindern in Europa Realität ist: frühmorgens von einem Einsatzkommando aus dem Bett gerissen zu werden, teilweise jahrelanges Inhaftiertwerden, Warten in Behördernmaschinen – ohne ein Verbrechen begangen zu haben.
Und wie die weißen Europäer gewohnt sind, auf Ausländer zu blicken, werden ihnen dann Jugendliche vorgeführt: als Gruselkabinett der Hässlichkeit, als Mobber, Vandalen, schwer Erziehbare und gerade dort, wo sie vermeintlich lieb und brav sind, lauern in ihnen unberechenbare Mörder. Ist das Vorgehen der Polizei erst empörend, erscheint es im Nachhinein als gerechtfertigt zur Kontrolle des Unkontrollierbaren. Es ist eigentlich ein recht konservatives, typisch britisches Drama um den Einbruch des Mordes ins heile Heim, eine moral panic um undurchschaubare, undurchdringliche Jugend die durch unverständliche Prozesse der Modernisierung „immer schlimmer“ zu werden scheint.
Zwar ist die Erzählung eine andere, aber der Publikumsreiz ist der gleiche wie bei „Clockwork Orange“ oder „Quadrophenia“. Nun sind es nicht mehr Drogen oder Mopeds, sondern das Internet und „Incels“.
Dabei scheint der Film gar nicht wirklich überzeugt zu sein von der Ableitung, dass Iincel-Themen am Gewaltausbruch schuld trügen. Der Täter lehnt eine Identifikation mit der 80/20-Regel ab. Incel-Videos habe er mal „gesehen“, aber es habe ihm nicht so gefallen. Die 80/20-Regel geht auf veröffentlichte Daten der Onlinedating-Plattform Okcupid zurück, die belegten, dass Männer von Frauen zu 80% weniger attraktiv befunden werden als umgekehrt und dass ein kleiner Teil von Männern einen großen Teil der Anfragen von Frauen auf sich vereint.
Diese Beobachtung ist zunächst nur eine Aussage über das Nutzer*innenverhalten der Plattform, nicht für die Gesellschaft. Sie ist allerdings auch nicht neu und ähnliche Probleme der Verteilung von sexueller Attraktivität werden auch im Feminismus diskutiert. Die Incel-Bewegung verallgemeinert und nimmt die Zahl jedoch zur Grundlage einer Dominanzkultur, in der Männer mit Betrug, Manipulation und letztlich Gewalt zu Sex kommen müssten, weil sie ein Recht darauf hätten. In einer Gegenbewegung macht man sich über Männer lustig, die an der objektiven Realität einer gesellschaftlich-kulturell entstandenen Ungleichverteilung von Attraktivität leiden. Der Film zeigt die letztere Dimension: Der Junge identifiziert sich nicht als Incel, er wird als Incel gemobbt, weil er offenbar begehrt und nicht zurückbegehrt wird. Die Erklärung, die der Film liefert, ist gerade nicht, dass er durch Incel-Ideologie aufgehetzt wird in die Frauenverachtung. Sondern dass er, als er seine Liebe gestehen möchte, vom Objekt seiner Liebe, das ihn zuvor als Incel gemobbt hat, verspottet wird: so verzweifelt sei sie dann doch nicht („I am not that desperate!“) Das löst in ihm den Mord im Affekt aus. Dass er zuvor ein Messer erhalten hat, widerspricht dem Affekt. Dieser Widerspruch wird aber nicht aufgelöst.
Der Film zeigt einen zweiten Gewaltakt: den eines Mädchens, das mit dem Opfer die beste Freundin verloren hat und die mit schweren Schuhen einen Jungen zu Boden tritt, dem sie Schuld zuspricht. Weder die Geschichte dieses Mädchens noch dieses Jungens werden auserzählt. Und diese Schulhofgewalt durch ein Mädchen wird vom Publikum hingenommen, das Opfer hat es irgendwie verdient, weil er dem Täter das Tatmesser verschafft hat.
Wollen wir dem Film glauben, liegt nicht in der Ansteckung durch Ideologie aus dem Internet die Ursache für den Mord, sondern in der Kränkung: adoleszente Jungen, die sich als „ugly“ empfinden, nach Bestätigung, Zärtlichkeit und gemocht werden hungern, und bei Verweigerung gefährlich werden, Frauen abwerten, sich gegenseitig mobben. Der Junge ist dezidiert nicht „hässlich“, hat aber diese Selbstwahrnehmung im Zuge einer Dysmorphophobie verinnerlicht. Der Film macht aber Angst vor gekränkter „Hässlichkeit“, vor dem strähnigen Baumarktmitarbeiter, der dem Vater gegenüber ein organisiertes „wir“ ankündigt, eine Gruppe von online vernetzten incels, die dem Mörder Solidarität versprechen.
Ist fehlendes Begehren das Problem? Der Film zeigt den Vater, der von der Mutter mit Komplimenten überschüttet wird. Er zeigt die Tochter, die sich „so hübsch angezogen“ hat. Er zeigt die Mutter, die trotz ihrer Falten und Pfunde nach drei Jahrzehnten Ehe noch heiß begehrt wird. Er zeigt die Rechtspsychologin, die der jugendliche Täter „posh“ und hübsch findet. Dem gegenüber stellt der Film den Jungen, der sich als „ugly“ bezeichnet.
Dann, so ein Angebot des Filmes, sind die „ugly“ nicht nur nicht begehrenswert, sondern auch gefährlich. Das ist eine self-fulfilling prophecy, die ständige Stigmatisierungsspiegelkabinette erzeugt: Stigma erzeugt Trauma erzeugt Gewalt, Gemobbte werden Mobber und rasten aus, aus Traumatisierten werden Verdächtige. Der Film bietet mit dem Sohn des Detectives zaghaft ein Gegenmodell an: ein Junge, der gemobbt wird, nicht normschön ist, einen kalten Vater hat, und trotzdem aufrecht und warm bleibt.
Identifizieren sollen wir uns mit der Psychologin, die nachfragt, die die Wutausbrüche erträgt. Die aber die verzweifelte Frage des Jungen, ob sie ihn denn „möge“, mit einem schweigenden und dadurch totalen Nein beantwortet, anstatt einzelne Sympathieaspekte zu benennen: „Was ich an dir mag/nicht mag ist:…“ oder den narzisstischen Hunger zur Selbstbefriedigung anzuhalten: „es kommt darauf an, ob du dich magst oder nicht“.
Im Film wird das Gutachten zur Antherapierung durch Vertrauensbildung. Dem folgt abrupt und unangekündigt der Entzug des dringend benötigten Therapieangebots, eine traumatische Situation, die in dieser Dimension wohl nur therapieerfahrenen Personen ersichtlich ist. Der Film führt hier dem Durchschnittspublikum eher den Jugendlichen als explosiv vor und die Psychologin als professionell überfordertes Opfer jungmännlicher Demütigung. Dass hier der Junge Opfer eines systematischen und gar nicht unrealistischen Pfuschs von Gutachtengewalt wird, ist nur einem Spezialpublikum ersichtlich.
Die Zumutungen und Normativität des Systems aus Familie, Polizei, Schule und Begutachtung wird zwar zweifellos kritisch abgebildet. Insbesondere die Schule „stinkt“. Am Ende aber bleibt alles in der Luft und die konservative Lesart, dass Jugendliche eben mehr Aufmerksamkeit und Familie und weniger Medien bräuchten, drängelt sich durch.
Wenn nun beim Publikum nur noch die angedrehte Aufregung über jugendliche Incels übrig bleibt, wird der Film missverstanden, wofür er in Teilen selbst verantwortlich ist.
Was der Film in seinem Weissein und seiner Weltabgewandtheit nicht zeigt, ist, wie misogyne Ideologie tatsächlich bei Jugendlichen verbreitet wird: Durch gegendertes Spielzeug, das Mädchen zu Püppchen und Jungen zu Polizeiautofahrenden Narbenmännern machen will. Durch die christliche Religion mit ihrer in zwei Jahrtausenden sedimentierten Frauenverachtung. Durch die islamische Religion, die Jungen zunächst an Genitalien verstümmelt und ihnen dann Dominanz über Frauen verspricht und Kontrolle über die weibliche Verwandtschaft zu einer Frage der „Ehre“ erklärt. Durch rechtsradikale Ideologie, in der Frauen, Natur und Homosexualität gleichermaßen abgewertet, bzw. in Ehe, Viehzucht, Sport und Armee kulturell eingehegt werden. Daran wiederum ist überhaupt nichts neu.