Die Scheinsolidarität mit Israel ist verschwunden, der Antisemitismus regiert

Für einen kurzen Moment sah es nach dem 7. Oktober so aus, als wären über Nacht alle israelsolidarisch geworden. Selbst in der taz schrieben ein paar Tage lang nicht mehr nur Susanne Knaul und Judith Poppe ihre immergleichen „Berichte“, sondern viele bis dahin in der taz eher unbekannte Autor*innen verfassten erstaunlich aufrechte und intelligente Artikel zu Israel, zur Hamas, zum Antisemitismus. Die Namen sind wieder verschwunden, man hat sich wie bei vergangenen Militäroperationen in der Routine eingefunden, auf das Leid der Menschen in Gaza oder im Westjordanland zu fokussieren. Niemand interessiert der Antisemitismus noch, kein bildungspolitisches Konzept wurde entworfen, und auf den Tisch gebracht wurde lediglich die ewige stumpfe alldeutsche Lösung für alles: Abschiebungen.

Die Bundesinnenministerin Faeser meint, mit „Bekenntnissen“ gegen Antisemitismus wäre es getan und fordert dieses ausgerechnet von der Islamkonferenz, die dankbar Gelegenheit ergreift, über die Diskriminierung von Muslimen insbesondere durch „Generalverdacht“ zu sprechen und Radiominuten zu füllen mit den dann erforderlichen „Stimmungsbildern“ vor Ort, den individuellen „Eindrücken“ und „Erfahrungen“, die dann noch einmal auf Schnipsel reduziert werden – und schon redet man über antimuslimischen Rassismus statt über islamischen Antisemitismus.

Von solchen Bekenntnissen weiß man außerdem, dass sie das Papier nicht wert sind, von dem sie abgelesen werden. Währenddessen kommt Scholz mit der Ritualformel „Flächenbrand“, als wäre in Syrien, Jemen und Libyen plötzlich Frieden eingekehrt oder als wäre die Türkei nicht dabei, Afrin zu entkurdisieren oder als wäre Ägypten eine Demokratie geworden oder: als wäre das Hamas-Pogrom ein Naturereignis, ein Strohfeuer. Und die Außenministerin Baerbock kommt mit der Forderung nach der Zweistaatenlösung, als wäre es der Muslimbruderschaft und ihrem Ableger Hamas jemals um Land gegangen oder als wäre Gaza nicht das beste Beispiel für einen palästinensischen islamischen Staat, der verhindert werden muss oder als spräche nun irgendetwas für eine Zweistaatenlösung, die weder Hamas noch Fatah wollen, denn beide fordern „from the river to the sea“, die Fatah auf ihrem Emblem. Wo die Fatah regiert, lehnen nur 6% das genozidale Massaker vom 7.10. ab, in Gaza sind es immerhin schon 20%. Neben der Selbstbereicherung der Eliten durch Korruption ist „pay for slay“ das Primat der Politik. Und unter den wenigen Gegnern der Massaker sind noch viele, denen nur die Mittel zu extrem erscheinen, nicht das Ziel eines „Palestine from the River to the Sea“. Dieses „Palestine“ wird nicht durch positive Attribute gezeichnet, nicht durch das, was man dort aufbauen wird, was man dort an Versagungen erfüllen kann, sondern ausschließlich dadurch, dass dort keine Juden mehr leben und der Islam regiert. „From the river to the sea“ entwirft ein Massengrab als Sehnsuchtsort.

Die absolute Majorität in Westjordanland und Gaza lebt im palästinensischen Mythos, der eine von anderen Arabern verschiedene ethnische Identität erfunden hat, um sich als „indigene Bevölkerung“ gegen vermeintliche Kolonisatoren zu präsentieren. Die Unterscheidung von anderen Arabern ist nur über die identitätsstiftende Erfahrung möglich, ein „nationales Trauma“, das so wie behauptet nie stattgefunden hat und als Täter hat man einen ewigen Erzfeind erdacht, einen „imaginary foe“, der Zusammenhalt garantiert, wo erbitterte Konkurrenz und die Bereitschaft zum Terror gegen Angehörige anderer politischer Gruppen und insbesondere gegen Frauen herrscht.

Solange deutsche Medien den Mythos von der ethnischen Besonderheit und der behaupteten Autochthonie „der Palästinenser“ im Gegensatz zur geleugneten Autochthonie von Juden in Israel, sowie den Mythos von der Vertreibung aller Palästinenser als „Nakba“, als durch unsagbare Gewalt traumatisierende Katastrophe wiederholen, verschweigen sie, dass Juden über Jahrtausende in Israel lebten, mitunter durch ethnische Säuberungen zur absoluten Minderheit marginalisiert, dass Juden auch im Exil über zwei Jahrtausende hinweg ihren Anspruch auf Jerusalem nie aufgaben, dass das osmanische Reich hingegen Muslime aus dem Balkan, aus der Türkei und dem Kaukasus in der Region ansiedelte, um muslimische Majoritäten zu sichern, dass erst nach der zionistischen Siedlungstätigkeit im 19. Jahrhundert eine arabische Einwanderungswelle einsetzte, dass auch nach der Staatsgründung nur eine Minderheit der muslimischen Araber in Israel direkte Gewalt erfahren hat, dass die lokalen gewaltsamen Vertreibungen dann zum größten Teil in einem Überlebenskampf der Juden gegen den von arabischer Seite ausgerufenen Genozid militärischer Rationalität folgten, um neuralgische Schwachpunkte der Landesverteidigung unter Kontrolle zu halten, und dass der Großteil von der arabischen Seite zur Flucht aufgerufen wurde, wertvolle Besitztümer mitnehmen konnte und die Dörfer in der Gewissheit verließ, dass die arabischen Legionen mit britischer Hilfe die Juden rasch vernichten würde. Der Schlüssel als Symbol des „Rückkehrrechts“ gibt Auskunft über den Glauben an die rasche, triumphale Rückkehr. Die Juden, die aus der arabischen Welt flohen, nahmen keine Schlüssel mit, weil sie wussten, dass in diesen Gesellschaften kein Überleben mehr möglich sein würde und weil sie ihrer Häuser direkt beraubt wurden. Die Nakba ist eine arabische Katastrophe nicht, weil 600.000 Araber flohen oder vertrieben wurden, sondern weil die arabischen Armeen die Juden nicht vernichten konnten. Daher das Beharren auf dem unmöglichen Rückkehrrecht: Wenn der Krieg ins unendliche verschoben wird, gibt es keine endgültige Niederlage.

Den Mythos um das Rückkehrrecht aufzulösen, auf Regierungsebene mit historischen Fakten zu konfrontieren, ist undenkbar. Wer etwas gegen Antisemitismus unter Muslimen tun will, muss auch eine Kritik antisemitischer Mythen liefern. Andernfalls wird nur kommuniziert, dass alles, was die palästinensischen Araber den Juden vorwerfen zwar richtig sei, man es aber nicht sagen dürfe, weil das Antisemitismus sei. Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden. Die Kritik des Antisemitismus hat das Gerücht zu widerlegen. Wer kein Bewusstsein vom antiisraelischen und vom islamischen Antisemitismus hat, oder ein solches nicht öffentlich unter Beweis stellt, braucht sich auch nicht auf Kosten der Opfer mit Bekenntnispolitik zu profilieren.

Auch international sind die teilweise unglaubwürdigen Solidaritätsbekundungen rasch wieder abgeflaut. Die USA stellten einen Flugzeugträger ab, nur um dann die Strategie zu diktieren. Der Angriff war schlimm, aber muss sich Israel wirklich derart wehren? Kann man die Hamas nun nicht in Ruhe lassen, oder in anderen Worten „humanitäre Feuerpausen“ oder „Waffenstillstand“ einrichten? Und kann sich die IDF nicht Wohnblock für Wohnblock verlustreich vorkämpfen, anstatt ihre Luftüberlegenheit präzise auszuspielen? Ausgerechnet die USA wollen Israel erklären, wie man Djihadisten bekämpft. Dieselben USA, die einen zunächst bejubelten Befreiungsfeldzug in Irak vermasselten, aus Inkompetenz den Aufrüstungsraubzug des Islamischen Staates ermöglichten und Afghanistan den Taliban überließen, die mit ihrer Drohnenpolitik auf kostengünstigstes Konfliktmanagement setzten.

Es ist wahr, Zivilisten kommen in Gaza ums Leben – dass die IDF in Gaza Reservisten einsetzt, Menschen, die am Tag zuvor noch Zivilisten waren, die nur unter äußerem Zwang in Uniform gingen, ihr Leben riskieren, ihren Job aufgeben, ihr Studium unterbrechen, das geht in der Trennung in Zivilisten und Soldaten häufig ebenso unter, wie die Tatsache, dass auch die Angriffe der Hamas auf Soldaten antisemitisch und verwerflich sind. Im UN-Sicherheitsrat stimmte Biden dann einer Resolution zu, die keine Verurteilung der Massaker der Hamas enthielt und mehrtägige Feuerpausen forderte. Hier einen prolongierten Konflikt anzustreben, zeugt von der Ignoranz, mit der dem winzigen Land Israel Ratschläge erteilt werden, die es teuer zu stehen kommen.

Jeder Tag kostet die ohnehin fragile israelische Wirtschaft, von der wichtige Fachkräfte in den Kriegsdienst abgezogen wurden. Jeder Reservist und jede Reservistin muss und möchte so rasch als möglich wieder ihre zivilen Tätigkeiten aufnehmen. Jeder Tag, den die Hamas als Konfliktpartei aktiv bleibt, schwächt Israel im Krieg mit der Hisbollah. Eine Feuerpause hilft nicht den Menschen in Gaza, sondern nur der Hamas.

Das gleiche gilt für die Zufuhr von Wasser und Nahrung. Die Blockade wurde nicht ausgerufen, um die Zivilbevölkerung auszurotten, sondern mit einer erfüllbaren realistischen Forderung verknüpft: Rückgabe aller Geiseln. Was sonst bleibt Israel, um die Geiseln aus Folter und serieller Vergewaltigung herauszuholen? Gefangene Kämpfer der Hamas bestätigen in gefilmten Interviews, dass sie explizite Anweisungen zum Vergewaltigen auch von Kindern erhalten haben. Die Berichte über das Ausmaß der sexuellen Gewalt bis hin zur Nekrophilie werden von der Presse weitgehend ignoriert. Die israelische Regierung hat nur begrenzt Möglichkeiten, den Geiseln rasch aus dieser Situation zu helfen und eine davon ist, den Druck auf alle denkbare Weise zu erhöhen und den Verhandlungsspielraum der Hamas drastisch einzuschränken.

Der Zivilbevölkerung wurde in den zwei Wochen der Vorbereitung der Bodenoffensive ein humanitärer Korridor geöffnet und Zeit zur Flucht gegeben. Ein Europa, das aus irrationalen Gründen und ohne eigene Not für Geflüchtete Mauern, das Zerdursten oder Ertränken vorsieht, und dem Großteil der Überlebenden in Irak, Syrien und der Türkei auf Jahrzehnte hin nur Zeltstädte bietet, in denen sich Kinder suizidieren, weil sie die Zustände nicht ertragen, hat nicht im Ansatz das Recht, Israel für Notwehrmaßnahmen zu kritisieren. Und selbst dort, wo man sich auf moralischem Highground echte Sorgen um die Zivilbevölkerung in Gaza macht, ist zwischen Propaganda und Realität zu trennen, ist zu differenzieren und zu benennen. Mit den Ressourcen für den Tunnelbau, der von der überwältigenden Mehrheit begrüßt und gewählt wurde, hätten Zisternen mit Trinkwasserreserven für Jahrzehnte gebaut werden können. Die Hamas hat Trinkwasserrohre für Raketen verwendet und sogar aus dem Boden gerissen und durch Korruption dafür gesorgt, dass überhaupt Wasser aus Israel importiert werden muss. Wer hier nicht zuallererst die Hamas in die Pflicht nimmt, die Geiseln freizulassen, der Bevölkerung Zugang zu Wasser und Generatoren zu ermöglichen, strickt am palästinensischen Mythos mit. Ob die Berichte über Wassermangel wahr sind, lässt sich kaum beurteilen, aufgrund der langen Geschichte an wasserbezogenen Propagandemen und Lügen ist hier grundsätzlich Zweifel angebracht. Israel hat in den vergangenen Jahren einen Wasserüberschuss durch Meerwasserentsalzung erzeugt, exportiert die Technik, baut gigantische Pipelines, um Jerusalem und Umland zu versorgen, und verhandelt mit Jordanien über künftige Wasserlieferungen, die das Ökosystem des Jordans entscheidend entlasten sollen. Wie keine andere politische Institution in der Region hat der israelische Staat das Potential für eine nachhaltige Wasserversorgung der Region und dadurch eine Linderung des Drucks auf klimagestresste natürliche Ressourcen geschaffen. Amnesty international wie auch CNN und UN zeichnen das entstehende Gefälle im Wasserverbrauch jedoch einzig als Folge der Besatzung, Korruption wird meist nicht im Ansatz thematisiert. Grundsätzlich ist also die Frage geboten, warum das Wohl der Menschen in Gaza von den 10% Wasser abhängen soll, das aus Israel importiert wird. Die privaten solarbetriebenen Meerwasserentsalzungsanlagen und die Brunnen, die bislang fast 90% des Wassers liefen, sollten eigentlich weiter laufen, dass dieselbetriebene Meerwasserentsalzung nicht funktioniert, liegt primär am Diebstahl von Diesel durch die Hamas und Ägypten wird ohnehin notorisch aus der Verantwortung entlassen.

Von der Weltöffentlichkeit hat Israel nichts zu erwarten und entsprechend ignoriert die Regierung und die Militärführung auch „Ratschläge“, die selten gutgemeint sind. Und doch steht in der taz wieder einmal sinngemäß, dass sich in Gaza Rechtsradikale in der Regierung austoben und die Militäroffensive politisch bestimmt sei – als gäbe es keine objektiven Zwänge und Dillemata, keine parteiübergreifende Notstandsregierung, keinen nationalen Konsens in Israel über die Notwendigkeit der Operation.

Bernd Pickert spricht in der taz von der „mörderisch aufgestellten Falle“, in die Israel tappe, und die Biden besser als die israelische Regierung begreife. Israel verliere den Krieg der Bilder. Was aber viel wichtiger ist: Israel gewinnt den Krieg gegen die Hamas. Jeden Tag werden ihre Truppen weiter aufgerieben, mehrere Dutzend Tunnel aufgespürt und unbrauchbar gemacht. Die Hamas verliert gerade binnen weniger Wochen zwei Jahrzehnte der Ressourcen, die in Infrastruktur und das Training von Kämpfern gesteckt wurde. Hier droht kein verlustreicher, prolongierter Stadtguerillakrieg, weil der Gegner von Unterstützung abgeschnitten wurde, umstellt ist und die Konfliktzone wenige Quadratkilometer umfasst. Je rascher die Razzia zu Ende geht, desto rascher kann die Rückkehr der Zivilbevölkerung stattfinden, eine Infrastruktur für die Besatzung aufgestellt und danach der südliche Abschnitt Gazas militärisch aufgeklärt werden. Das mag viele Gefahren und Risiken mit sich bringen, aber eine bessere Option existiert schlicht nicht. Jedes Überlassen Gazas an die „internationale Gemeinschaft“ oder gar eine „Selbstverwaltung“ hätte die Rückkehr von Djihadisten, von iranischen und qatarischen Geldern, von Raketen und anderen Waffen zur Folge und damit eine ewige Wiederholung des Konfliktes wie nach vergangenen, zu kurz geführten Militäroperationen.

Und in der vorgeschützten Sorge um Israel, eine alte Routineübung des Antisemitismus, kann man natürlich verschweigen, warum Israel diesen Krieg um Bilder nie gewinnen konnte, welchen Anteil das eigene Medium an diesem Krieg der Bilder gegen Israel hat, und dass es keinen Ausweg aus dem antisemitischen Dilemma gibt, der die Antisemiten besänftigen würde.
Von Australien über Großbritannien bis in die USA gehen Linke, Rechte und Islamisten Seite an Seite auf die Straße und rufen ihr „free Palestine“. Greta Thunbergs Keffiyeh sorgt für Aufregung, während die meisten aus der Israelsolidarität wissen, wie weit verbreitet ihre Meinung gerade in den nördlichen Sozialdemokratien Norwegen, Schweden, UK und Irland ist, wie dünn der zivilisatorische Firnis auch über ihren konservativen Kritikern aufgetragen ist, denen es in ihrem Spott und Hohn im seltensten Fall um Israel geht. Viele israelsolidarische Linke wissen, wie man selbst links sozialisiert wurde und nur durch viele Zufälle, schwer erhältliche Bücher, geduldiges Zureden und schrittweise in die Solidarität mit Israel hinüberwechselte, die für viele den Schritt in die politische Isolation bedeutete und von vielen auch nie ganz verstanden wurde: Wie geht das nun mit der Solidarität konkret, Flagge zeigen oder nicht, Besatzung ja oder nein, Annexion des Westjordanlandes oder nicht, einfach zu allem enthalten oder jeweils mühselige Faktenchecks vornehmen? Geschichtliches Wissen zum Konflikt ist weder kanonisiert noch gut zugänglich an Bibliotheken, nach wie vor gelten die historischen Fakten als deviant, der palästinensische Mythos regiert aus allzu vielen Professuren heraus und noch mehr schweigen schlichtweg.

Für die breite Masse gilt: Man trägt vielleicht keine Palästinaflagge durch die Gegend, aber es reicht der Hamas wie auch Putin, wenn man sich neutral gibt und einen Waffenstillstand fordert. Und es reicht für ein sicheres Israel nicht, wenn man nur an seltenen Tagen einmal sich auf die Seite Israels und dessen Recht auf Selbstverteidigung stellt, sobald es aber dazu kommt, dagegen ist, wie der israelische Staat es ausübt. Die IDF macht in dieser Situation das einzig richtige: Vorrücken. Tunnel um Tunnel. Nach einer mehrere Tage dauernden Phase der überreizten, markigen Phrasen Netanyahus ist wieder Rationalität in die Stellungnahmen eingekehrt. War zunächst die durchaus fatale Medienstrategie, einfach alle zivilen Opfer der Hamas zu überantworten, hat man sich nun wieder zum Schutz der Zivilbevölkerung bekannt.

Israel befreit sich in Gaza nicht nur selbst aus dem Ghetto, in das es durch die Hamas verbannt wurde. Es befreit gerade tatsächlich Gaza von der Hamas. Die Armee kann nicht zulassen, dass hier erneut Keimzellen des Islamischen Jihad und der Hamas aufgebaut werden und das bedarf eines anhaltenden Policing, von dem alle profitieren werden, die unter der Korruption und der Gewalt der Hamas gelitten haben. Zwar zeigt die Geschichte, dass solche Besatzungen selbst dort, wo sie anfänglich bejubelt wurden, in Feindschaft umschlagen können. Geschichte zeigt aber gerade am Beispiel Deutschlands auch, dass der Antisemitismus, wo er staatstragend und genozidal wird, nur durch Militär und Besatzung erfolgreich beseitigt oder zumindest in die zeitweise Unterwerfung gezwungen werden kann.



Zur habituellen Gleichgewichtsstörung von Männern

Bei Höflichkeitsgesprächen lässt sich insbesondere bei jungen Männern gern ein Schwanken beobachten, das einem kuriosen Rhythmus aus Ausweichbewegungen und Zuwendungsgesten zu bestehen scheint. Wedeln mit bezigaretteten Händen oder Durchfahren der Haare ähneln Versuchen des Festhaltens in freiem Fall. Vernünftelndes Abwägen wird mit Kopfneigungen aller Art simuliert, doch letztlich bleibt der Eindruck einer tiefen Verunsicherung ob der Ambivalenz der Begegnung haften: als schiene sich das Individuum uneins, der Fluchttendenz in die Ferne nachzugeben oder der vor der Einsamkeit weg in eine unliebsame Konversation hinein, die meist nur aus starren Hülsen pathischer Kommunikation besteht: Wie gehts, Ja geht so, und bei dir, Alder, alles fit, Arbeit, was, ja scheiße halt, mussja, bis denne, Tschausn, machsgutbruder, Alleskla.

Die Befreiung von jedem Verdacht auf Homoerotik durch hölzern-knarzende Stocksteifigkeit steht in krassem Kontrast zur Behauptung von Dynamik in zunächst raumgreifenden, dann wieder auf Böden oder in die Ferne starrenden, schultern zusammenziehenden Gesten. Und erleichtert bewegen sich die Männer dann auseinander, man hat die peinliche Lage durch Konversation entschärft, schwankt von dannen, eventuell ein Hinken oder ein Schlotterknie oder eine leichte Trunkenheit, die eventuelle Fehler entschuldigen könnte, simulierend, oder mit schlacksigen Beinen etwas mehr Raum erobernd als der Weg zum gar nicht vorhandenen Ziel abverlangen würde.

Sicher ist bei Männern der Schwerpunkt biologisch höher, in Richtung des Brustkorbs gelagert, die Ziellosigkeit der Arme eventuell archaischer Bereitschaft zur Flucht geschuldet. Und doch ist die Neigung zum Schwanken auch so tief in Kultur verankert, dass sie sich noch in Gebetsritualen niederschlägt. Der islamische Fall in die Embryonalstellung und das Wiederaufstehen, der ekstatisch kreiselnde Tanz der Derwische, das „Schokln“ im Judaismus, einer Legende zufolge der tanzenden Flamme einer rituellen Kerze nachempfunden, und im Christentum der Kniefall, das Schaukeln des Turibulums, in afrikanischen Religionen die Trancetänze, die Maskentänze und die Perfektion der Synkope. Wo der Buddhismus die fixierte Position anzustreben scheint, wird doch auch stets gern etwas gebommelt, getrommelt, getrillert oder anderweitig Betriebsames verrichtet. Bewegung muss allenorts in verkrustete Verhältnisse, aber es gelingt nicht, weil es im Experimentierfeld der Kulturen stets im Falschen der Religion und Tradition bleibt, unklare Ziele hat, daneben trifft, nicht die Verhältnisse stürzt, in denen der Einzelne ein verächtliches Wesen, eine geknechtete Kreatur bleibt.

Mütter indes schaukeln ihre Babies und mit ihnen, unbezwingbare, selbsterklärende Vernunft und fester Boden, und es wäre so wahr wie auch viel zu einfach, die Wackeldackelhaftigkeit des Mannes als Regression in diese Position oder neidische Sehnsucht nach dieser Sinngebungsmaschine Mutterschaft zu erklären. Gewackelt wird bei Männern eher aus der Lust an der Vermeidung einer klaren Position zwischen Herrschaft und Unterwerfung heraus. Und vielleicht in einem Zwischenstadium, in dem kulturelle Regeln meist zu Recht ihre Gültigkeit verlieren und von einem Experimentierfeld an Selbsterfindung abgelöst werden, das sich dann massenkulturell wieder an Vorbildern orientiert. In den üblichen Begegnungen mit Handschlag irgendeiner Art, nervös-arbeitssamen Ziehen an Zigaretten oder Paffen an elektrischen Pfeifen, paaren sich internalisierte Arbeitsrhythmen mit der Angst, durch eine aufrechte Position Dominanz auszustrahlen, die wiederum als Aufforderung zur Gegendominanz gelten könnte. Das hat weniger mit äffischen, tierhaften, als Hackordnung zu häufig abgetanen Hierarchien zu tun, als mit der Demokratie. Wo in der bürgerlichen Produktionsweise jeder sein eigener Herr sein könnte, es unter der Herrschaft des automatischen Subjekts aber niemand wirklich ist, bleibt alles ein Ausloten des aktuellen Standes des Waffenstillstandes in allseitiger Konkurrenz. Prinzipiell zur Selbstbestimmung befähigt zu sein und doch täglich ein Sklave ohne Kenntnis seines Herrn und Zieles, im Bewusstsein der eigenen Beteiligung an der Selbstausbeutung, der Unfähigkeit, sich zu organisieren mit den Anderen, bei gleichzeitigem Zwang dazu, überfordert und treibt in jene fragile Männlichkeit, die sich an der Unterwerfung Anderer oder von Material und Dingen beweisen muss. Nur konsequent flüchten sich die Hikikomoris in die Isolation, Angst vor der eigenen Wut auf Alles, zivilisatorisches Gegenstück zum Amoklauf.

Nicht das fragile ist dabei kritikabel, nicht das Schwanken in Ambivalenz, sondern die Verdrängung dessen, die Behauptung der Absenz von Fragilität, die Illusion von Statik und Stabilität. Echte Männer lesen das, Survival in der kanadischen Hütte, wie man sich einen Langbogen baut, sei nicht nur frauensammelnder Alpha, sei frauenverschmähender Sigma, kaufe jetzt wieder einen Elektrogrill, kaufe nie diese Werkzeuge, hier siehst du wie man wirklich mit Klimaklebern umzuspringen hat, dort sind die Schwachen, die Unterlegen, das arbeitsscheue Pack, das du nicht bist, hier hast du den Kitsch, mit dem du menschliche Emotionen simulieren kannst, und so weiter flüstern die Shorts und Clips auf das Subjekt ein.

„Cope!“ wird zur Beleidigung par excellence. Wer immer sich beschwert, sich anderer Emotion verdächtig macht als den auf Schwache kanalisierten Aggress, solle klarkommen, copen. Was liegt näher, als der großen Verunsicherung Klarheit der Rollen entgegen zu setzen, die submissive Frau mit ihren Haushaltstricks wiederzubeleben und den bärtigen Vierschrötler mit seiner Werkbank, von verlorener „Gesundheit“ und „Normalität“ träumend. A man has to be ugly and fearsome. Und er hat zu schwanken, am Abgrund, an dem Menschheit steht, denn der dünne Firnis der Zivilisation trägt ihn nicht, gibt ihm keine Antwort, wie diese zum Nichtfrausein verdammte Existenz geht, in der die einen die Angleichung an den vormanipulierten weiblichen Charakter als Subversion bewerben, eine insgeheim misogyne Beleidigung und Verspottung derer, die ihn tragen, während die Anderen die Kastration der Schwachen anempfehlen; in der Menschsein unmöglich, krank unnormal zu sein scheint und es politisch allgemein Mode wird, als Kühltruhe seiner Emotionen umherzuwandeln, nur um die eigene Angst und Leere durch die Vernunft des Mitmachens zu bannen.

WOYZECK. Es geht hinter mir, unter mir Stampft auf den Boden. hohl, hörst du? Alles hohl da unten. Die Freimaurer!

ANDRES. Ich fürcht mich.

WOYZECK. S‘ ist so kurios still. Man möcht den Athem halten. Andres!

ANDRES. Was?

WOYZECK. Red was!


Die Zusammenarbeit mit der AFD

Vor jeden Wahlen betonen die sogenannten „demokratischen“ Parteien, dass sie mit „allen demokratischen Parteien“ zusammenarbeiten würden, also nicht mit der AFD. Nachdem die AFD dann satte Zugewinne einstreicht, überall auf 20-30% kommt und vor allem immer mehr bei Jugendlichen ankommt, merken dann die Wahlverlierer, dass man in Deutschland keine Wahl gewinnen kann, ohne gegen Geflüchtete und „Migration“ zu hetzen. Was machen also die gleichen Parteien, die vor den Wahlen schwören, dass sie nicht mit der AFD zusammenarbeiten würden? Sie schauen sich die Forderung der AFD an und sagen sich: Achso, das haben diese Protestwähler gewählt, dann machen wir das einfach, um die zurückzugewinnen. Dann brauchen wir jetzt sofort eben wirklich mehr Abschiebungen und weniger Immigration, scheißegal, was für Probleme es wirklich gibt, wen interessieren Klimakatastrophe, Renten, Löhne, Mieten, Reichtumsverteilung und schon spricht man auch im Radio freundlichst und gutgelaunt davon, dass ja Migration wirklich ein wahnsinniges Problem sei, das größte Problem, ein gewaltiges Problem.

Und also ist das erste, was die gescheiterte Innenministerin Faeser nach der Wahl macht, sich Maßnahmen auszudenken, mit denen Geflüchtete gequält werden können. So sollen nun Abschiebungen nicht mehr angekündigt werden. Es werden also Familien und Traumatisierte in einem ständigen Schwebezustand belassen, in der ständigen Angst, dass um drei Uhr nachts die Polizei die Türe aufbricht. Die Abschiebehaft soll verlängert werden auf 28 Tage, einfach nur, um den Eindruck zu verstärken, dass Flucht ein Verbrechen ist und Geflüchtete in Gefängnisse gehören. Und bei Abschiebungen aus Gemeinschaftsunterkünften – sprich: Flüchtlingslagern – soll das gesamte Lager durchsucht werden dürfen. Das bedeutet, dass Polizisten, die vermutlich wie die Soldaten auch mehrheitlich AFD gewählt haben, in größeren Unterkünften jede zweite Nacht Kinder aus den Betten schubsen, weil sich dort ein Mensch aus dem sicheren Drittstaat Afghanistan oder Iran verstecken könnte. Und da jeder Grenzübertritt nach Deutschland eine Straftat ist, weil es keine legale Möglichkeit gibt, nach Deutschland zu fliehen, und das erste, was Geflüchtete machen müssen ist, sich einige hundert Euro Strafgebühr für den „illegalen Grenzübertritt“ von anderen Geflüchteten zusammenzuleihen, kann im Prinzip fortan auch jeder Geflüchtete als Straftäter abgeschoben werden.

Wer solche „demokratischen“ Parteien hat, braucht die AFD nicht mehr zu fürchten. Wäre die AFD keine demokratische Partei, man müsste sie verbieten. Dazu liegt alles vor, die Informationen sind gesammelt, aber man weiß genau: Das Problem sind nicht die 20% AFD-Wähler*innen, sondern die Leute in den eigenen Reihen, die genauso denken. Also verbieten die „demokratischen“ Parteien nicht die „undemokratische“ Partei AFD, sondern reden ihr das Wort, treten als „Wettbewerber“ in „Konkurrenz“ mit ihr, denn im Kern sind die „demokratischen“ Parteien nicht der wehrhaften Demokratie verpflichtet, sondern der Marktwirtschaft, in der der Kunde recht hat.

Derweil verpestet rechte Propaganda die sozialen Medien, weil dort reiche „Patreons“ ihre rechten Sprachrohre ausgefeilteste Clickbaits produzieren lassen. „Witzige“ Clips, in denen eine Frau aus den 50ern im Pettycoat der bärtigen Transvestitenfrau aus 2023 gegenübertritt und sich wundert, wie wichtig Pronomen sind. Oder irgendein „Kirchenketzer“, der Aiwangers Flugblatt als „morbiden Jungenstreich“ verharmlost und fragt „wo ist der Antisemitismus“. Oder die hunderte Videos, in denen Autos in Klimaproteste hineinfahren. Oder Jordan Peterson, wie er eine Feministin zerstört. Oder Jordan Peterson, wie er woke Kultur zerstört. Oder Jordan Peterson wie er den Sozialismus zerstört. Oder die Ayn-Rand-Stiftung. Oder die Epoch-Times, rechtsradikales Onlinemedium der Falun-Gong-Bewegung, das im trumpistischen Milieu führend wurde mit Klimaleugnung und Hetze gegen Geflüchtete. Oder der „Welt-Nachrichtendienst“, der es trotz allem blocken immer wieder in die tollen Angebote von Youtube schafft, die vor allem Datenkraken-Handyspiele, Grillfleisch und tonnenweise Wick Medinight unters Volk bringen sollen.

Es gibt keine Blase mehr. Die Algorithmen erkennen „links“ nicht, weil es sich nicht monetarisiert. Man erhält auf Youtube nicht immer linkere Videos, wenn man mal etwas über Che Guevara oder die Arbeiterkultur im 19. Jahrhundert angeklickt hat. Man erhält als Mensch mit politischem Interesse automatisch die „kontroversen“ Videos eingespielt, die Clicks und Kommentare einbringen, sprich: man wird mit rechtsradikaler, zynischer Gülle ertränkt, die man dann entweder unkommentiert stehen lassen kann oder denen man noch zusätzlich Clicks durch Kritik verschafft. Solange die Creators nicht für die Qualität ihres Contents, sondern für Clicks bezahlt werden, wird Youtube nach rechts drücken. Und solange die „demokratischen“ Parteien nicht das Gegenteil von dem machen, was die AFD fordert, werden die Leute AFD wählen, weil sich das direkt in Politik umsetzt, obwohl die AFD kurioserweise keinerlei Regierungsverantwortung hält.




Das Bündnis Sahra Wagenknecht wird ebenso scheitern, wie die LINKE

Die Vergleiche zwischen Sahra Wagenknechts „sozial-nationaler“ neuer Partei und der AFD sind legitim, aber zu kurz gegriffen. Tatsächlich ist Wagenknechts Partei der CDU gar nicht fern. Sie hat kein Interesse an internationaler Solidarität, sie will eine Förderung des Wirtschaftsstandorts Deutschland, die will die mittelständischen Unternehmen bewahren, vor allem aber ist sie gegen die Grünen, und dass Klimapolitik so teuer ist und ja gar nichts nütze. Wirtschaftspolitik brauche einen „Neuanfang“, der „vernünftig“ sei und da nennt sie an erster Stelle nicht in der menschenfeindlichen Verwaltung der Armut sondern: die Energiepolitik. Der angeblich teure – tatsächlich im EU-Schnitt liegende Strompreis – sei schuld, dass die Armen Probleme haben. So lässt sich von Anti-Obdachlosenbänken, von Bettelverboten, von gescheiterter Drogenpolitik, von Zwangsarbeit und Jobcentern zu schweigen oder allenfalls drückt man Krokodilstränen ab.
Das alles ist mitsamt dem Habitus eher einer von Söders oder Merz‘ Reden abgeschrieben als von Höcke oder Weidel. „Unser Land“ solle auf einen „vernünftigen Kurs“ kommen und nicht „massive Teile unserer Industrie verlieren“. Distinktionsmerkmal und Zugpferd für Wagenknechts Partei ist die alte sowjetpazifistische „Raus aus der NATO“-Haltung, der russlandfreundliche Isolationismus, den auch die AFD predigt. Die Russlandtreue und Anfälligkeit für russische Propaganda jeder Art stellt auch den Hauptvektor der Spaltung innerhalb der Linken dar. Hier hat mit knappen Mehrheiten eine diffus ukrainesolidarische Haltung gewonnen. Dennoch ist die Bindung an die Propagandakanäle und -maschinen der ehemaligen Sowjetunion so tief verankert, dass die Partei nicht entlang dieser Verwerfungslinie in einen vernünftigen Teil und ein Sprachrohr Russlands zerfallen wird. In beiden Parteien werden genug Antisemit*innen und Russlandfans verbleiben, um sie für vernünftige Leute unwählbar zu machen. Der AFD kann Sahra Wagenknecht nur als Einzelperson Konkurrenz machen, personenzentrierte Parteien sind aber immer wieder gescheitert am Personalbedarf der vielschichtigen parlamentarischen Demokratie. Daher wird die AFD als Nachfolgeorganisation von REP, DVU, NPD, Identitären, Nationalen Autonomen und ihren jeweiligen jahrzehntealten Netzwerken im Osten allenfalls wenige, eventuell in ein oder zwei Wahlen auch entscheidende Prozente an das BSW abgeben. Danach wird das BSW wieder in der Versenkung verschwinden und die Linke, die nur mit Direktmandaten die Fraktionsstärke schaffte, wird weiter scheitern – nicht an der BSW, sondern an der Unfähigkeit, Antisemitismus, Pseudopazifismus, ritueller Antiökologie und Russlandtreue etwas entgegen zu setzen. Schade ist es lediglich um die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die zwar von Antizionist*innen immer wieder verwaltet wurde, aber immerhin eine der Säulen antifaschistischer und marxistischer Bildung an Universitäten war und ist.

Youssef Rakha – wenn die Hamas Krieg führt, blühen die Antisemiten auf

Vor Jahren hatte ich einmal den Auftrag, das Buch „Arab Porn“ für die Jungle World zu rezensieren. Leider habe ich damals zu wenig über den Autor gefunden. 2014 schrieb er:


“Genocide is a necessary condition if not of Zionism, then of the post-Zionist stance that best describes the current, neither-one-nor-two-state-solution status quo.”

Und er fügt hinsichtlich des Krieges der Hamas gegen Israel in einer Rundmail hinzu:


„But even so I would not have dreamed of what I’ve seen since October 7. I might have dreamed of the ghoulishness of the IDF: insatiable blood thirst, infanticide, impunity. I might have dreamed of the West turning a blind eye: hypocrisy and historical guilt as well as indifference to non-Western suffering. I might have dreamed of silence. But I couldn’t have dreamed of so many “free world” leaders not only giving the go-ahead, openly funding, arming and egging on genocide but also, while the killing unfolds in real time, expressing such post-truth solidarity with the killers. Even vetoing the attempt to give survivors occasional respite.“

„The only thing I really want to say is that Ursula von der Leyen is “Hamas”. Bibi, Biden, Sunak, fucking Zelensky—the governments of France and of Germany are all “Hamas”. If to the Western mind Hamas denotes savagery and lack of respect for human life, all those parties have demonstrated a truly, a literally incredible capacity for that.“

Die Hamas hat mit ihrem Pogrom auf solche Reaktionen gerechnet. Youssef Rakha versteht sich als säkular, ebenso wie die Ex-Porno-Actrice Mia Khalifa würde ihn in Gaza die Hinrichtung durch die Djihadidsten der Hamas erwarten. Die Identifikation findet ethnisiert über real leidende arabische Kinder statt und man wähnt sich trotz der kulturellen und geographischen Distanz als angegriffenes Kollektiv. So kann die Täter-Opfer-Verkehrung wirken und jede Empathie zu den jüdischen Opfern des Terrors abgetötet werden in einer Bricolage aus lustvoll geglaubten Propagandaschnipseln. Für solcherlei manipulierte und selbst manipulierende Menschen ist eine rationale Empfehlung an Juden, wie diese mit dem Terror umgehen sollen, undenkbar. Israel ist schuld durch seine Existenz und es soll nicht existieren, darauf laufen die Forderungen hinaus.

Die Groteskheit der Vorwürfe – ein Genozid – projiziert die eigene Lust am genozidalen Massaker, das die Hamas in Israel anrichtete. Diese Identifikation mit den Tätern und die folgende Projektion von Schuldanteilen auf die Opfer, die Juden, ist nicht mehr zu brechen, solange Berichterstattung die Formengleichheit aufzwingt und dadurch die Ursachengleichheit insinuiert.

Ein totes Kind ist ein totes Kind – in dieser Gleichung kann die Ursächlichkeit geleugnet werden und dadurch jede Verantwortung abgegeben. Dass das Krankenhaus in Gaza allen Indizien zufolge von einer fehlgeleiteten Rakete des islamischen Jihads getroffen wurde, ist dann unerheblich, weil die Ursächlichkeit ohnehin nicht einer rationalen Urteilsfindung unterliegt, sondern auf die Schuld „der Juden“ fixiert ist. In dieser Logik ist Israel auch dann schuld, wenn es eine Rakete des Islamischen Jihads war, denn der Islamische Jihad ist wie auch der ganze Konflikt die Schuld Israels. Und dessen Schuld besteht darin, existieren zu wollen.

Eine rationale Diskussion über die Reaktion der IDF ist demnach gar nicht zu erwarten. Dabei gäbe es auch einiges zu diskutieren.

Die IDF hat sich in den ersten Tagen offenbar von der im internationalen Vergleich einzigartigen „knock-on-roof“-Taktiken verabschiedet, gefährdete mit den sicherlich nicht mehr chirurgisch-präzise zu nennenden Luftschlägen auf Wohngebäude und andere Ziele unter anderem die israelischen Geiseln und priorisierte symbolische Elemente der „Strafe“ und der „Macht“. Mit einer fehlgeleiteten Kommunikation wurde tatsächlich nahegelegt, dass es für die Versorgung der aus Gaza Fliehdenden kein Konzept gebe, dass die IDF prioritär das Leben der Soldat*innen schützen müsse und dass sämtliche zivile Opfer künftig einfach der Verantwortung der Hamas unterlägen. Das war wenig durchdacht präsentiert und nicht professionell. Die israelische Notstandsregierung musste jedoch binnen wenigen Tagen den größten Militäreinsatz der israelischen Geschichte planen und in Gang setzen. Und die Entscheidung, Verhandlungen über Geiseln im Ansatz zu frustrieren und die Verhandlungsposition der Hamas durch Eliminierung ihrer Infrastruktur und Führungsebene zu schwächen, hatte eine gewisse Rationalität. Es durfte nach diesem Massaker in Gaza keine weitere Minute des antisemitischen Jubels geben, keine fröhlichen Feiertage im Waffenstillstand, der mit dem Sieg der Hamas bei der Freipressung aller Gefangenen geendet hätte. Das Zerbomben aller bekannten Hamas-Ziele war naheliegend und von einer – diskutablen – Rationalität geprägt.

Der weitere Arbeitsmodus ist noch völlig offen. Die IDF erwartet ein langer Straßen- und Tunnelkrieg, den sie womöglich nur um den Preis der Zerstörung der gesamten Stadt und nur auf Zeit gewinnen kann. Die Zivilbevölkerung zur Flucht zu bewegen und dann Straßenzug für Straßenzug abzusichern und erst dann kontrollierte und demilitarisierte Rückkehr zu erlauben, ist ein realistischer Anfang einer Strategie.

Wer aber nun, wie Rakha, angesichts der zivilen Opfer von „Genozid“ spricht, will die Dimensionen nicht nur verzerren, sondern verkehren. 3000 Todesopfer in Gaza – darunter eine große Zahl an Kämpfern an den Raketenabschussbasen und Tunneln – sind nach über 3000 Luftschlägen eigentlich eine sehr geringe Zahl und nicht im Ansatz mit einem intentionalen Töten von Zivilist*innen zu verbinden. Eine einzige Rakete kann, wie der Vorfall am Krankenhaus zeigte, über 300 Menschen töten – würde die IDF Gaza auslöschen wollen, sähe die Bilanz ganz anders aus.
Die Hamas hingegen zielt wie die anderen arabischen Terrorgruppen in Gaza und Westjordanland darauf ab, alle jüdischen Menschen zu ermorden. Wo Medien nicht diesen diametralen Gegensatz sichtbar machen, arbeiten sie der antisemitischen Wut der Rakhas und Khalifas zu.


Der Sieg der Hamas bedeutet ihr Ende

350 tote Israelis, 1900 Verwundete, eine unbekannte Zahl („Dutzende“) an Israelis entführt – es ist für mich als Freund Israels nicht leicht, die Bilder des Überfalls der Hamas auf sämtliche Siedlungen im Umfeld des Gaza-Streifens als real einzuordnen oder überhaupt zu kommentieren. Die über zwei Jahrzehnte aufgebaute militärtechnologische Überlegenheit und die relative Sicherheit, die der Sicherheitszaun und die Mauerteile nach der zweiten Intifada mit sich brachten, erzeugten ein falsches Gefühl von Sicherheit: Israel würde es schon irgendwie schaffen, den Djihadismus langfristig auf Abstand zu halten, mit überlegenen Geheimdiensten, Merkavas, Iron Dome, Luftwaffe und allem.

Nun wird der Weltöffentlichkeit vor Augen geführt, dass die angeblich bestbewachte Grenze der Welt, die angebliche „Apartheid-Mauer“, nur ein Zaun war. Ein Zaun, der an vielen Stellen offenbar nicht einmal ansatzweise der europäischen Sperranlage entspricht, die EU-Staaten teilweise binnen wenigen Monaten zur Abwehr von wehrlosen Geflüchteten aufbauten.

Die Zahl der beteiligten Kämpfer spricht dafür, dass hier ein Geheimbund innerhalb der Hamas die Planung ausgeführt hat und dann Untergruppen auf sehr kurzen Zuruf spontan aktiv wurden. Geheimbünde sind eine alte Strategie von Aufstandsbewegungen: Ludditen, der Bund der Kommunisten, Gelaohui und viele andere hatten Strategien entwickelt, Spitzel zu enttarnen oder fernzuhalten und Kommunikationsnetze ohne Überwachung aufzubauen.
Nur so lässt sich das vollständige Versagen der Geheimdienste erklären. Die klandestine Vorbereitung des massenhaften Abfeuerns tausender Raketen allerdings verweist auf tiefe Defizite bei Mossad und Shin Bet, wie auch beim Militär. Am Ende des Sukkot-Festes, an einem Shabbat, waren die Grenzposten offenbar verwaist oder unter der Grenze der Wehrfähigkeit besetzt.

Benjamin Netanyahu, der über lange Zeit für die Sicherheit Israels einstand und deshalb von der internationalen antisemitischen Presse als „der Jude“ gezeichnet wurde, wie vor ihm Ariel Sharon, dürfte an diesem Versagen stürzen. Er hat Lapid und Gantz eine Notstandsregierung angeboten, aber das Eindringen hunderter Kämpfer aus Gaza ins israelische Kernland, umherfahrende Hamas-Pickups in Sderot, das wird von den israelischen Wähler*innen nicht vergessen werden. 17 Stunden konnte die Hamas das Kibbutz Be’eri kontrollieren und die über 1000 Einwohner*innen terrorisieren, Häuser anzünden, Menschen entführen und ermorden.

Vermutlich über einhundert israelische Geiseln aus Folter und Geiselhaft zu befreien, ist nach dem Austausch von Gilad Schalit gegen 1027 palästinensische Häftlinge nur zu den Konditionen der Hamas möglich: Freilassung aller palästinensischer Gefangener. Das streicht zusätzlich Jahrzehnte an Geheimdienst- und Polizeiarbeit durch, die dazu führten, diese Häftlinge zu ergreifen. Die einzige Alternative wäre der Versuch, einer gewaltsamen Befreiung aller Geiseln im Gaza-Streifen, unter extrem hohen Verlusten und in der Gewissheit, dass einige Geiseln womöglich schon aus dem Gaza-Streifen herausgeschmuggelt wurden. Das Versagen der IDF und damit den Sieg der Hamas anzuerkennen und den Austausch abzuschließen, muss rasch und konsequent geschehen, um danach den Krieg gegen die Hamas professionell durchführen zu können und möglichst viele der freigelassenen Djihadisten wieder einzufangen oder zu töten, bevor sie erneut Terror gegen Israelis verüben können.

Dass es niemals Frieden mit der Hamas geben wird, war klar. Es befreit in der derzeitigen Situation aber auch von der Pflicht, eine rasche Lösung zu erzielen oder einen raschen Sieg zu präsentieren. Die Schadensbegrenzung ist weitgehend abgeschlossen, die Siedlungen wieder befreit, die Grenze weitgehend wieder gesichert, auch wenn unbekannt ist, ob sich noch Zellen der Hamas in Verstecken in Israel aufhalten. Vergeltungsschläge wären dem Gefangenenaustausch und dem weiteren Vorgehen nur abträglich. Die Zerstörung von zwei Hochhaustürmen in Gaza erfolgte aufgrund der dortigen Hamas-Basen und nach Warnung der Bewohner*innen. Der entsetzte Schrei einer Al-Jazeera-Korrespondentin vor dem Hintergrund der Türme dürfte daher Teil einer Inszenierung sein, die den Hintergrund bewusst ausgewählt hat.

Im Norden hat unterdessen die Hisbollah Raketen gezündet. Entweder war dieser Zweifrontenangriff abgesprochen, oder die Hisbollah reagiert opportunistisch auf diese Gelegenheit, Israel größtmöglichen Schaden zuzufügen. Serverangriffe auf die Jerusalem Post am Mittag des 8.10.2023 mit einem seit über einer Stunde andauernden Ausfall der Seite sprechen dafür, dass hier auch einige Geheimdienste anderer Staaten mitmischten, und der Verdacht fällt natürlich auch auf Russland und Syrien, die Bündnispartner Irans.

In den Foren lebt wieder einmal der Antisemitismus auf, mit der Täter-Opfer-Verkehrung als Hauptstrategie: Die eigentlichen Opfer seien die Palästinenser, der Djihadismus sei nur verzweifelte Reaktion auf angeblich unhaltbare Zustände. Immerhin sorgen einige Luftaufnahmen auch dafür, dass Gazas Villenviertel gezeigt werden und dass die Hamas eine ständige Bedrohung für Israels territoriale Integrität ist, kann angesichts der von der Hamas verbreiteten Videos von Folter und Mord an wehrlosen israelischen Menschen niemand mehr leugnen.

Ein lesenswerter Kommentar von Haviv Rettig Gur in der Israel Times sieht einen Phyrrus-Sieg der Hamas: ein starkes Israel konnte die Hamas tolerieren, ein verwundetes, geschwächtes Israels wird die Hamas nicht mehr dulden können. Der Sieg der Hamas bedeutet das Ende der Hamas.

Der Djihadismus hat mit seinem Video von weitgehend unbewaffneten Männern, die durch den Zaun nach Israel ziehen und dort in Ekstase den Boden küssen, den größten Propaganda-Erfolg seit dem Islamischen Staat in Syrien und Irak und seit dem Siegeszug der Taliban in Afghanistan erzielt. Hier schließt sich wieder einmal sein ewiger Zirkel von Aufstieg, Niederlage und Wiedererstarken, der Kernerzählung des Islam ist. An diesen Bildern lässt sich den westlichen Medien das Propagandamärchen vom geraubten Land und vom Volk ohne Land erzählen – als wären Palästinenser*innen keine arabische Gesellschaft und als gäbe es nicht die arabischen Staaten, von denen sie in Jordanien die Bevölkerungsmehrheit stellen; als hätten Jüd*innen nicht immer wieder ihr verbrieftes Recht auf das gesamte Land westlich des Jordans in Verhandlungen zur Disposition gestellt, während die mehrheitlich erst im späten 19. Jahrhundert aus Syrien, Libanon, Jordanien eingewanderten Araber*innen und die arabischen Staaten immer wieder jeden Frieden ablehnten und nicht ein Land für Araber*innen, sondern ein Land ohne Jüd*innen wollen. Für die arabische Öffentlichkeit filmte die Hamas daher ihre Massaker und Geiselnahmen, die öffentliche Misshandlung von jüdischen Geiseln auf einem Triumphzug durch Gaza, die öffentliche Peinigung von jüdischen Kindern durch arabische Kinder auf den Straßen Gazas. Das ist der Kern des „Widerstandes“: Die Erniedrigung der Jüdinnen und Juden durch das islamische Kollektiv, das durch die jüdische Emanzipation gekränkt wurde.

Die Geschichte des Judentums ist jedoch ebenfalls eine von Aufstieg, Niederlage und Erneuerung – seit über 2500 Jahren und durch weitaus größtere Niederlagen und durch ein fast zwei Jahrtausende währendes Exil, durch antisemitische Erniedrigung unter islamischer und christlicher Herrschaft hindurch. Anders als Palästinenser*innen können Jüd*innen nirgendwo anders selbstbestimmt und sicher vor antisemitischer Gesetzgebung leben. Der Staat Israel wird den Angriff der Hamas überleben, weil er muss.

Abschied von der Biodiversität und die Perspektiven einer Planwirtschaft in einer RCP 8,5-Welt

Das Ende der schönen Natur zu proklamieren, während doch alles in Saft zu strotzen scheint, macht sich der Arroganz verdächtig. Ein wissenschaftsfeindliches Kleinbürgertum, das religiöse Prophezeihungen und Vorhersagen aufgrund von extrapolierten Daten und von logischen Schlüssen nicht auseinanderhalten kann und will, schämt Wissenschaftler in einen Daten-Konservativismus hinein, der jeden Alarmismus vermeiden muss und will. So war es nicht überraschend, dass die Klimawissenschaften von der Prognose 1,5-Grad zwischen 2027 und 2035 überrascht waren – dass es also schneller geht als von den Modellen vorhergesagt. Das ist sehr einfach erklärbar aus der Multifaktorialität der Klimakatastrophe, die selbst die besten Computermodelle nicht simulieren können. Zwar werden diese getestet an Daten der Vergangenheit und dahingehend sind sie sehr präzise. Sie können aber nur mit bekannten Daten gefüttert werden. Alle bislang noch (teilweise) unbekannten, unerforschten Faktoren müssen zwangsläufig aus den Simulationen entfallen. Dazu zählen unter anderem der Permafrost, der Ozean insbesondere in der Tiefe, nicht in den CO2-Ausstoß eingerechnete Erdgaslecks oder andere Quellen für Treibhausgase und das Zurücksterben von Regenwäldern. Die vergangenen Klimaereignisse – Milankowitsch-Zyklen, Vulkanausbrüche, etc. – betrafen eine weitgehend intakte Natur ohne Raubbau an Schlüsseltierarten (z.B. Wale, Haie) und Rohstoffen. Niemals in der Erdgeschichte wurden gleichzeitig und systematisch sowohl der Ozean leergefischt als auch Torfregenwälder abgefackelt als auch Tundren abgeholzt als auch Moore vernichtet als auch ganze Süßwassermeere (Aralsee, Tschadsee) künstlich durch Entnahme trockengelegt. Das lässt sich nicht konservativ prognostizieren, hier müssen Zuschläge nach oben eingeplant werden, wie sie ja in den „Kipppunkten“ (tipping points) formuliert sind, die in Wahrheit viel zahlreicher sind, als dies vereinfacht dargestellt wird.

Das 1,5 Grad-„Ziel“, das immer schon die Katastrophe war, die heute herrscht, ist längst beerdigt. Die zwei Grad bis 2045 stehen ebenfalls fest. Die exponential ansteigende CO2-Kurve am Mauna Loa weist keinerlei Knick oder Abflauen auf. Diese Kurve ist das, was letztlich über gelungene Politik entscheidet. 8,5RCP (ca. +4 Grad 2100) sind trotz des Rückbaus von Kohlenutzung und des Booms von Photovoltaik und Windkraft eine reale Drohung, wenn nicht für 2100, so doch für die Generation danach, die an den progredierenden Wirkungen leiden wird.

Für die Artenvielfalt ist der Sprung von +2 auf +3 oder +4 von geringerer Bedeutung als der Sprung von 0 auf +2 Grad. Die kommenden drei Jahrzehnte werden von einem massiven Absterben von Korallenriffen geprägt sein und damit 40% des marinen Lebens, die verschwinden oder sich auf Relikte zurückziehen. Ganze Ozeane werden sich zeitweise, zunächst alle Jahrzehnte, dann ständig, in zu warme, sauerstoffarme Zonen verwandeln. Regenwälder trocknen bereits jetzt rapide aus, brennen und hinterlassen einen extrem nährstoffarmen Boden, der erodiert und sich ohne Zwischenstadien in Wüste verwandelt. Schmelzende Gletscher hinterlassen ausgetrocknete Landschaften in den Alpen und anderen Hochgebirgsregionen. Einige wenige euryöke R-Strategen werden sich ausbreiten und dominieren. Über Jahrmillionen diversifizierte Ökosysteme mit ihren hochangepassten, endemischen, stenöken k-Strategen werden verschwinden. Kälteliebende Arten werden sich auf die Bergregionen und Hochmoore zurückziehen und dann auch rasch erlöschen. Wir verlieren das, was wir natürliche Schönheit nennen und was in der Menschheitsgeschichte Kunst, Selbstreflexion an Natur überhaupt ermöglichte. Dieser Verlust ist Ergebnis der dahingehend bestens informierten Politik der letzten zwanzig Jahre und damit Resultat eines geplanten Verbrechens gegen die Menschheit.

Wie kann emanzipatorische, humanistische Politik aussehen, die Gesellschaft auf eine +3-Grad-Welt vorbereitet? Die Entscheidung ist nicht die zwischen einer deregulierten neoliberalen Marktwirtschaft und einer regulierten Marktwirtschaft (Sozialdemokratie). Beide haben ein Wachstum von mindestens 2%, besser 4% als erklärtes Ziel, und damit eine Verdoppelung der Warenströme mindestens alle 36 Jahre (bei 2%), bzw. alle 24 Jahre (bei 3%) – nur wollen die Sozialdemokratien die Arbeiter*innen etwas stärker an diesem Wachstum beteiligen als die neoliberalen Modelle. Daher prognostiziert die OECD auch entsprechende Verdoppelungsraten beim CO2-Ausstoß, bei der Plastikproduktion, beim Müllaufkommen, etc.


Die einzige, notwendige Alternative zur wachstumsbasierten, kapitalistischen Gesellschaft ist die Planwirtschaft. Diese wird zwangsläufig ab irgendeinem Punkt der Klimakatastrophe eintreten. Die größere Wahrscheinlichkeit weist auf eine bürgerlich-faschistische Kriegswirtschaft, die entstandene Mängel autoritär durch Unterdrückung von Revolten, weitreichenden Eingriffen des Staates in die Produktion, Umverteilung von Lebensmitteln und effektiven Massenmord an Geflüchteten löst, ohne die Reichtumsverteilung zugunsten der obersten 5 % anzutasten.
Eine progressive Planwirtschaft bedürfte einer demokratischen Basis und Kontrolle bei der Enteignung und Umverteilung von Reichtum, sowie bei der rationalen Diskussion um Einschränkungen von Überschussproduktion und Rückdrängen manipulierter Scheinbedürfnisse. Diese progressive Planwirtschaft ist derzeit absurd unwahrscheinlich einfach dadurch, dass sie keine einzige demokratische Partei überhaupt diskutiert, während die politischen Splittergruppen, in denen Planwirtschaft noch diskutiert werden kann, in aller Regel ideologisch versteinerte Relikte aus den sozialistischen Planwirtschaften rotfaschistischer Prägung, mit Führerkult, Militarisierung der Gesellschaft, starker Stellung der Geheimdienste, Unterdrückung der Redefreiheit und Anwendung von Folter und Todesstrafe sowie Sklaverei in Gefangenenlagern darstellen.

Eine emanzipatorische, auf humanistischen Prinzipien ruhende Planwirtschaft hat derzeit keine gesellschaftliche Basis in irgendeiner Sichtweite. Um diese Sichtweite überhaupt denkbar herzustellen, sind bereits Zeiträume erforderlich, die von der Dynamik der Klimakatastrophe überrollt werden – und darin noch nicht einmal die Drohung eines Atomkrieges berücksichtigen. Daher kann eine emanzipatorische Politik derzeit nur darin bestehen, die Realität einer mindestens 3-Grad-Welt im Jahr 2100 zur Grundlage zu machen und sich das Problem des dann herrschenden Mangels an Nahrung, Wasser und habitabler Zonen zu vergegenwärtigen. Wer immer noch behauptet, Kommunismus würde in den Luxus führen, ist schlichtweg Klimaleugner*in und hat grundlegende Probleme der Ausbeutung von Natur und Mensch nicht verstanden. Planwirtschaft könnte heute etwas Anderes sein als Elendsverwaltung – sie könnte global binnen zwei Jahrzehnten rationale kollektive Wohnformen in Plusenergie-Reihenhäusern und Archen aufbauen, Kreisläufe der Nutzung von Holz, Metallen, Fäkalien herstellen, die Produktion auf das Nötigste zusammenschrumpfen, freigesetzte Arbeitskraft in die Wiederaufforstung der Regenwälder und Bergwälder sowie die Wiedervernässung investieren, so dass ein klimatischer Effekt eintritt und die Klimakatastrophe bei ca. 2 Grad arretiert und danach zurückgedreht wird.
Aber Planwirtschaft ist nicht heute. Sie ist auch nicht morgen, sondern selbst im optimistischsten Szenario allenfalls 2100 überhaupt denkbar, nach nur zwei Generationen Aufbauarbeit gegen alle Widerstände und Widrigkeiten, zu denen algorithmisch rechtsgedrallte Onlinemedien ebenso wie faschistische, nuklear bewaffnete Diktaturen in Russland, Nordkorea und China sowie erstarkende faschistische Parteien im Westen gehören. Der Zivilisation als solcher sind nur marginale Chancen ins Stammbuch zu schreiben.



Der russische Krieg gegen die russischen Soldaten

Die Hauptfrage des Krieges in der Ukraine war nie, warum die Ukrainische Armee weiterkämpft. Immer stärker rückt aber die Frage in den Vordergrund, warum die russischen Soldaten trotz ihrer katastrophalen Verluste weiterkämpfen und noch immer in sinnlose Offensiven in der Stadt Marinka und in Richtung Kupiansk stürmen. Mit erbeuteten Waschmaschinen lässt sich das längst nicht mehr erklären. Die Zahl der getöteten russischen Soldaten wird von der ukrainischen Armee auf 270.000 datiert, die der Verwundeten auf 800.000. Täglich neue Aufnahmen von Schlägen aus Raketen und Drohnen und die auf der Plattform www.oryxspioenkop.com gesammelten Nachweise aus Fotos mit Geodaten legen nahe, dass sich die von der Ukrainischen Armee gelieferten Angaben trotz einer für Propaganda naturgemäßen Übersteigerung wesentlich näher an der Realität bewegen, als die Zahlen der russischen Militärpropaganda.
70 Prozent der Verluste auf beiden Seiten gehen auf Artillerie zurück und das von der NATO fast vergessene Artillerieduell erfährt daher eine neue Rolle in der Kriegsführung und -planung. Dahingehend konnte die russische Militärdoktrin ihre artilleriezentrierte Rüstungsindustrie voll ausnutzen und aus ihren fast unerschöpflichen Lagern mehr als 20.000 unpräzise Geschosse pro Tag abfeuern, während die Ukrainische Armee wesentlich präzisere Maschinerie nutzen kann, aber die ständige Munitionsknappheit beklagt. Diese Knappheit macht damit allen NATO-Staaten zu schaffen. (https://www.youtube.com/watch?v=3gbc-v6TGfE, https://www.youtube.com/watch?v=wRtYyjvYTWk&t=71s) Zudem sind vor allem die Rohre der Waffensysteme nur auf einige hundert bis wenige tausend Feuervorgänge ausgelegt und werden von der ukrainischen Armee vollkommen vernutzt, weil sich ein Austausch in dieser Zahl nicht realisieren lässt.

Russland wiederum hat inzwischen nicht nur einen Großteil der nutzbaren Artilleriemunition verbraucht und Maschinerie verschlissen, es hat die Hälfte seiner Artillerie und Panzer verloren und seinen Kriegseinsatz auf 100 Milliarden pro Jahr erhöht, etwa ein Drittel des Staatshaushaltes von 340 Milliarden. (https://www.reuters.com/investigates/special-report/ukraine-crisis-intercepts/) Das wird Russland absehbar in den Staatsbankrott führen, in den Ruin der öffentlichen Infrastruktur, des Sozialwesens, des Medizin- und Bildungssystems. Das bedeutet, dass der imperialistische Faschismus Putin’scher Prägung Verbrechen gegen die russische Gesellschaft ebenso einplant wie seine notorischen Kriegsverbrechen in der Ukraine und nur mit einer langfristigen Verarmung der russischen Gesellschaft und Massenflucht zu rechnen ist.

Das Vabanque-Spiel um die rasche Eroberung und Annexion der Ukraine als russifizierter Vasallenstaat und umzuverteilende Beute für Oligarchen, Militärs und auch für die Petit-Bourgeoisie mit dem Wunsch nach einer geraubten Ferienwohnung auf der Krim, wurde bekanntermaßen von der ukrainischen Armee und Partisanen, darunter jene kampferprobten Elemente aus dem rechtsradikalen, neonationalistischen Lager (1, 2, 3) vereitelt. Dennoch konnte die russische Armee durch den Überfall genug Rohstoffquellen und Ackerland erobern, um auch die aktuellen Verluste noch als Investment für diese Beute rationalisieren zu können. Die vollständige Kontrolle über das Asowsche Meer und die Bedeutung der Marinebasis Sevastopol tragen zur Rationalisierung bei und lassen befürchten, dass das System Putin dafür noch wesentlich mehr Soldaten opfern wird.
Derweil legen Mitschnitte von Militärpersonal nahe, dass es noch einen zweiten, zynischeren Grund für den verschwenderischen Umgang mit Soldaten gibt: Eugenik. „Sie entsorgen uns einfach“, empört sich ein Soldat. Ein anderer sagt, im zukünftigen Russland werde offene Sklaverei herrschen. In der russischen Geschichte ist die Dezimierung der eigenen Gesellschaft durch Gefangenenlager und Kriege Teil der nationalen Kultur. Durch die Dezimierung kann ein Zuwachs an Wohlstand durch Umverteilung von Beute simuliert werden. Die entstehende Angst und Frustration sucht sich ihre Kanäle über häusliche Gewalt, Alkoholismus und in der Armee durch die Dedovshchina: Systematische Gewalt und extreme Ausbeutung entlang der Hackordnung.

Im russischen Suprematismus lebt zudem die Verachtung für ehemals kolonialisierte Gesellschaften fort. Die russische Armee opfert daher in der Ukraine primär die Angehörigen ethnischer Minderheiten und ködert mit Belohnungen vor allem die ärmsten Schichten der Gesellschaft. Etwa 40.000 Euro verspricht Putin der Familie eines getöteten Soldaten bislang. Allerdings wird diese Summe häufig nicht ausgezahlt, weil die realen Verluste verheimlicht werden. Das russische System ist den Oligarchen und den Befehlshabern der Armee verpflichtet, nicht jedoch den Armen. Daraus entsteht der eugenische Charakter der russischen Kriegsführung, ein Zug, der den meisten Armeen strukturell eigen ist, der im russischen Chauvinismus jedoch sehr ausgeprägt zutage tritt. Zuletzt wurde von einem russischen Kriegsgefangenen in Robotyne erneut von koordiniertem russischem Artilleriefeuer gegen sich zurückziehende russische Einheiten berichtet.
Den Soldaten bleibt das nicht verborgen und in der Geschichte sind unterschiedliche Reaktionen darauf verbürgt, von der Desertion bis hin zur Meuterei. Im Vietnamkrieg wurde das „Fragging“ unbeliebter Kommandeure in über 1000 Fällen dokumentiert. Unter russischen Soldaten äußert sich die Aggression gegen Vorgesetzte bislang eher autoaggressiv, als exzessiver Alkoholkonsum und Apathie.

Die russischen Soldaten, die verstanden haben, dass sie verachtet werden, melden sich über Chats und Telefonnummern bei der ukrainischen Armee, um ihr Überlaufen zu verhandeln. Im Falle eines Überlaufens können sie entweder Asyl beantragen oder ihren Austausch mit ukrainischen Kriegsgefangenen. Kriegsverbrechen gegen russische Kriegsgefangene, vor allem Exekution und Folter sind bislang in 50 Fällen dokumentiert, eine für solche Konflikte sehr niedrige Zahl, die für eine hohe Disziplin unter den ukrainischen Truppen spricht. Dem gegenüber stehen die massiven, systematischen und seriellen Kriegsverbrechen der russischen Armee.

Der Frontverlauf scheint nach wie vor nur geringfügig verändert, was die hohe Motivation ukrainischer Truppen erklärungsbedürftig machen würde. Jedoch waren die Schlachten um Robotyne, Staromajorske und Klischivka von einem Abnutzungskrieg tief in den besetzten Gebieten begleitet, bei dem rotierende Truppen, Munitionsdepots und jegliche Lastwagenlieferungen von der ukrainischen Artillerie, von Drohnen und Raketen systematisch zerstört wurden. Gleichzeitig hat man nun an mehreren zentralen Stellen mit Wärmebildkameras und Minenräumsystemen die extrem dichten Minenfelder überwunden. Die extrem verzögerte Lieferung von Kampfflugzeugen und das in NATO-Staaten bereits beobachtbare Training der Pilot*innen wird im ersten Quartal 2024 einsetzen und dadurch wesentlich tiefere Schläge der Luftwaffe ermöglichen. Daraus resultiert der Optimismus der ukrainischen Armee, noch im Herbst größere Geländegewinne in Richtung Tokmak, Melitopol, Berdiansk und Mariupol zu erzielen und dadurch die logistischen Versorgungsrouten zu kappen, sowie Bakhmut einzukesseln, und dann im Frühjahr und Sommer des kommenden Jahres mit voller Luftunterstützung den Keil zu öffnen und eventuell schon im Sommer auf der Krim zu landen und dort einen Brückenkopf auszubauen.

Selenskyjs Zustimmungsraten und die Stärke seiner integrativen Regierung mit einem jüdischen Präsidenten und nun einem muslimischen Krimtartaren als Verteidigungsminister sowie die Integration internationaler Freiwilligenkämpfer aus dem eher bürgerlichen Lager und die vollständige Orientierung an westlichen Demokratien machen eine mittelfristige Bedrohung der Ukraine durch interne neonazistische Gruppierungen eher unwahrscheinlich. Das strukturell gegen Minderheiten gerichtete Verteidigungsnarrativ der Neonazis ist nun mit einem realen mächtigen Gegner konfrontiert und muss mit dem bürgerlichen Nationalismus eher konkurrieren als dass es diesen auf sein Narrativ verpflichten kann. Der entstandene bürgerliche Nationalismus ist erwartbar eher integrativ und betont in Abgrenzung zu Russland liberale Werte wie Redefreiheit und Pressefreiheit. Die Geflüchteten werden mit ihren Erfahrungen tendenziell zur Liberalisierung der Gesellschaft beitragen. Dennoch bleibt die Ukraine als Hotspot für neonazistische Aktivitäten wie Rekrutierung, Wehrsport und Waffenhandel für ganz Europa ein Problem, wenngleich ein nachrangiges angesichts der viel größeren Faktoren für die beängstigend wachsenden Zustimmungsraten zu rechtsradikalen Parteien in fast allen europäischen Ländern.
Der Zerfall des russischen Wagner-PMC und anderer Söldnertruppen mit engen Bindungen an mafiöse Strukturen, rechtsradikale Parteien und Neonazis lässt einen Machtkampf zwischen russlandorientierten (1, 2) und ukraineorientierten Nazis eher wahrscheinlich werden. In Europa sollten zuallererst die Wahlergebnisse für die von Russland geförderten rechtsradikalen Parteien wie AFD, VOX, FdI, RN, FPÖ, Fidesz und Jobbik äußersten Grund zur Besorgnis geben. Auch hier werden Spaltungen zwischen den russlandskeptischen skandinavischen Rechtsradikalen und den russlandtreuen Parteien sichtbar – auch wenn diese kaum entscheidend sein werden, wo die gemeinsame Feindschaft gegen Nichtweiße und Nicht-Heterosexuelle dominiert. Der russische Faschismus mit seiner Militarisierung bis in die Kindergärten und seiner vollständigen Aufgabe internationaler Reputation bleibt für beide eher ein Vorbild als die ukrainische Demokratie.

Eine bislang unterschätzte Bedrohungssituation aus dem Krieg ist die Entwicklung des Krieges mit kleinen zivilen Drohnen zur Observation und zum Absetzen von kleinen Sprengsätzen und Minen. Diese Entwicklung wird assymetrische Konflikte und insbesondere den Djihadismus absehbar verändern.







Die Ideologieproduktion zum neuen Cannabisgesetz

Der Gesetzentwurf zur Legalisierung von Cannabis liegt vor und produziert Ideologien.
Das Gesetz ist an wichtigen Stellen ein Fortschritt: Privater Konsum wird legal, niemand kann mehr wegen THC im Blut entlassen werden (z.B. Polizisten, Richter, Zollmitarbeiter, etc.). Die Beschaffung allerdings wird ein bürokratisches Monstrum, für das man sich „Cannabis-Clubs“ ausgedacht hat, die höchstens 500 Personen umfasssen dürfen, aber ein Maximum an Kontrollmaßnahmen leisten sollen.
Immerhin: Samenbesitz, -erwerb und der Handel über Grenzen hinweg werden mit §4 rückhaltlos legalisiert.

https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Cannabis/Gesetzentwurf_Cannabis_Kabinett.pdf


Die größte Unklarheit besteht zwischen der Erlaubnis, drei weibliche Pflanzen zum Eigenanbau großziehen zu dürfen, jedoch nur 25 Gramm davon „besitzen“, also lagern zu dürfen. Gewächshauspflanzen können weit über 300 Gramm, in einigen Fällen auch über 1000 Gramm Ertrag bringen. Ein Ertrag von 80-100 Gramm pro Pflanze gilt als untere Grenze der Anbauwürdigkeit einer Sorte. Der Eigenanbau für den regelmäßigen Eigenkonsum wird so unter Kunstlicht gezwungen, um eine ganzjährige Versorgung durch Cannabonsai-Pflanzen zu ermöglichen. 1 Gramm pro Tag ist für Dauerkonsumenten normal. Das bedeutet, alle 25 Tage eine weitere Pflanze erntereif zu haben. Die Ernte kann aber nur nach der Blütenreife stattfinden.
Die drastische Beschränkung von Vorratshaltung und Anbau kann daher zu Mehrkonsum führen. Steht eine Ernte an, müssten rein rechtlich Restbestände rechtzeitig aufgeraucht werden – denn die Entsorgung ist nicht geregelt. Eine Abgabe an andere Personen ist nur im Rahmen der Clubs legal. Diese Clubs werden sich naturgemäß auch entlang politischer Verwerfungslinien bilden – schließlich will nicht jeder in einen Club christkonservativer Cannabiskonsument*innen eintreten.

Trotz der drastischen, rundweg enttäuschenden Einschränkungen wird die Scheinlegalisierung als Bedrohung diskutiert. Auffällig ist, dass sich auch die Befürworter*innen des Gesetzesvorschlags häufig auf die Gleichsetzung mit Alkohol zurückziehen. Ob Gehirnschädigungen bei Jugendlichen, psychische Erkrankungen, Unfälle oder Sucht: Der ritualisierte Satz in den Radios derzeit lautet: „Das gilt aber auch für Alkohol“.

Das ist eine schlechte Defensive. Alkohol hat eine vielfach größere psychische und physische Suchtwirkung und vielfach größere Hospitalisierungs- und Verkehrsunfallszahlen. Nach wie vor ist kein einziger direkter Todesfall durch Cannabiskonsum bekannt – wohl aber durch Spice und synthetische Cannabinoide, die als „Legal High“, Tees und Badesalz vertrieben werden und nichts mehr mit Cannabis oder THC gemein haben.

Cannabis hat nun einmal keine physische Suchtwirkung und nur eine milde psychische, die sich als Gewöhnung beschreiben lässt. Wer aufhören will, hört auf. Dauerkiffer können grantig und suchtig werden, wenn sie keinen Stoff bekommen – was aber auch für Kaffeetrinker gilt, denen der Morgenkaffe verweigert bleibt. Dennoch ist der Schritt in die Verwahrlosung durch Cannabis bislang von einem einzigen Faktor dominiert: Der Schritt in die Beschaffungskriminalität.
Wer Cannabis konsumiert, vernachlässt für gewöhnlich trotzdem nicht Körperpflege und Nahrungsaufnahme. Bei Alkoholiker*innen ist die körperliche Verwahrlosung die Regel. Alkohol schiebt sich in der Bedürfnishierarchie nach oben und zwingt Abhängige dazu, Nahrung, Waschen, etc. hintanzustellen. Dosissteigerung ist die Regel. Das starke Zittern hält bei starken Alkoholikern selbst noch nach dem Konsum von Alkoholmengen an, die eine normale Person volltrunken machen würden.

Bei Cannabis stellt sich auch bei Dauerkonsumenten eine Dosissteigerung nur in Grenzen ein. Auch Dauerkonsumenten werden es kaum je schaffen, mehr als 2 Gramm am Tag dauerhaft zu konsumieren.
Und selbst wenn Sorten wie Bruce Banner, Banana, Gorilla, Critical Kush theoretisch THC-Gehalte von 30% erreichen, entspricht das noch nicht einmal gutem Haschisch. Solche Sorten waren bislang teuer und der Illegalität geschuldet: Hochpotentes Cannabis lässt sich für gleiche Wirkung mit bis zu dreimal geringerem Gewicht schmuggeln und verkaufen, wurde aber gerichtlich häufig einem normal- und niedrigpotenten Cannabis gleichgestellt. Ein Großteil der Konsument*innen wird sich in einem transparenten Markt aus freien Stücken für schwächere, berechenbare Sorten entscheiden und sorgfältiger nach Geschmack aussuchen als nach THC-Gehalt.

Was die Schädigung von Gedächtnis und Gehirn von Jugendlichen angeht, haben Arbeit und ideologische Erziehung ungleich größere Auswirkungen. Auch starker Cannabiskonsum in der Jugend wird den später Erwachsenen weniger schwer zu schaffen machen als etwa der Bildungshintergrund der Eltern oder eine streng religiöse Erziehung, Zugang zu gutem Bildungsmaterial oder die Qualität von Lehrer*innen in der Schule, die der Hauptfaktor für Lernerfolge sind. Die meisten psychischen Schäden treten durch Mischkonsum ein: u.A. durch Alkohol, der von Dauerkiffern als Ersatzdroge verwendet wird, aber auch durch Pilze, unaufgeklärt eingenommene Pflanzendrogen (Engelsblüten, Muskatnuss, Fliegenpilz), Amphetamine oder Cocain. Dauerkiffer sind in der Regel zufrieden mit Cannabis, weil die Wirkung über Jahre hinweg relativ gleich bleibt.

Entgrenzungsängste sind unrealistisch, was Cannabis angeht. Angemessen sind sie bei Alkoholismus. Alkoholikern geht es schlecht, wenn sie nicht mindestens eine Flasche Schnaps am Tag konsumieren. Der Entzug kann Alkoholiker töten. Sie werden durch das Zittern bewegungsunfähig, können nicht mehr Treppen steigen oder Flaschen öffnen, können durch den Entzug Psychosen entwickeln.
Dauerkiffer hören von einem Tag auf den anderen auf zu kiffen, ohne körperliche oder psychische Probleme zu haben.
Nikotin- und Alkoholsucht bleiben jedoch ein Leben lang mit einer Rückfallgefahr behaftet. Wer Nikotin- oder Alkoholsüchtig war, wird immer unter Cravingattacken leiden. Dieses Craving wird von einer ganzen Industrie systematisch ausgebeutet. Gaststätten, Restaurants, Getränkehändler, Brauereien, Discos leben vom Alkoholkonsum. Supermärkte verkaufen nach wie vor Alkohol in Kleinstflaschen an der Kasse als Schnuckware – um Alkoholiker*innen rückfällig zu machen.
An der projektiven „Diskussion“ um die ohnehin schon halbgare „Legalisierung“ von Cannabis redet sich die Bevölkerung primär ihr Alkoholproblem schön.

Ebenso geht unter, dass der generelle Umgang mit Sucht grundsätzlich überholt werden muss und eine Entkriminalisierung von Drogen eine unmittelbare Verbesserung der Situation von Suchtkranken zur Folge hat. Drogenprostitution und Beschaffungskriminalität sind zwei der größten Faktoren, die Suchtkranke in Verelendung treiben. In der Diskussion des Cannabisgesetzes wird nach wie vor nicht annähernd hinreichend thematisiert, wie reaktionär Gesellschaft mit Sucht umgeht und wie kontraproduktiv Kriminalisierung für Suchtkranke ist. Die Legalisierung von Cannabis ist überfällig, weil die Droge um ein vielfaches harmloser und weniger gesundheitsschädlich ist als Alkohol und Nikotin.
Eine wirklich humanistische Drogenpolitik ginge aber nicht nur neoliberal vom egoistischen rekreationalen Konsuminteresse der Einzelnen aus, sondern von der Irrationalität der Kriminalisierung Suchtkranker, die zuallererst bei der Entkriminalisierung und kontrollierten medizinischen Abgabe harter Drogen ansetzen müsste. Drogen wie Amphetamine, Cocain oder Opiate und Opioide greifen tief ins hormonelle System ein und erzeugen eine Suchtwirkung, deren Entzug psychisch in vollständige Depression führt oder körperlich in Folter mit lebensbedrohenden Reaktionsbildungen beim kalten Entzug mündet. Hier muss eine humanistische Gesellschaft Möglichkeiten schaffen, das unmittelbare Craving von nun einmal Suchterkrankten legal zu stillen, um dann in einem zweiten Schritt medizinische Substitutionstherapie und langfristige Entzugskonzepte anzubieten.
In einem dritten Schritt würde ein aufgeklärter Umgang mit Drogen nicht nur eine Liberalisierung anstreben, sondern auch eine stärkere Kontrolle von legalen, akzeptierten Drogen. Die Opioidkrise, die in den USA seit den 1990ern andauert, wurde durch legale Medikamente ausgelöst: vor allem Fentanyl und Oxycontin. Die mafiöse Eroberung des US-amerikanischen Marktes für Oxycontin wurde durch die Serie „Dopesick“ thematisiert. Im Schatten der restriktiven Drogenpolitik profitierten wieder einmal legale Tabletten. Im Jahr 2021 starben in den USA 220 Menschen täglich an einer Überdosis. In Deutschland ist die Verschreibung des vergleichsweise schwachen Tramadols üblich. Zwar gilt dieses als gering suchterzeugend, kann aber bei bereits Suchterkrankten Rückfälle auslösen. Bei der Verschreibung von Opioiden gegen starke Schmerzen muss eine Abklärung von vorliegenden Suchterkrankungen stattfinden, um Rückfälle auszuschließen. Dazu bedarf es eines grundlegend anderen Verständnisses von Suchtkrankheit als das bürgerlich-reaktionäre, das Sucht primär auf Disziplinlosigkeit, Arbeitsscheu und eigenes Verschulden zurückführt und die Suchtkranken bekämpft.

Die vermurkste Legalisierung von Cannabis stellt leider ein Ablenkungsmanöver dar, das durch die in Regulierungswut transportierten Ideologien eine wirklich progressive Drogenpolitik sabotiert.

Das kuriose Brillenhämatom des Andreas Jurca

Der AFD-Politiker Adreas Jurca hat ein Brillenhämatom und vorgeblich einen Bruch des Sprunggelenks. Er behauptet vor der Kamera, von „Migranten“ verprügelt worden zu sein, kann angeblich die Herkunft recht präzise einordnen, habe diese also gesehen. Ein Parteifreund sei dabei gewesen, wird aber in den Berichten nicht als Zeuge präsentiert.
Dieser mutmaßliche Angriff kommt wenige Tage nach einer medialen Show über eine Veröffentlichung der Adressen von AFD-Politiker*innen durch eine Frankfurter Antifa, wodurch es die AFD schaffte, die Solidarität bürgerlicher Parteien einzuwerben. Was läge näher, als diesen „Opferstatus“ der rechtsextremen Partei weiter zu vertiefen.

Wer aber mit Schlägereien und Prügeleien zu tun hatte, weiß, dass Schläge ins Gesicht meist mit der Faust oder der Handfläche oder -kante oder dem Ellenbogen oder Tritten erfolgen, von der Seite, auf Backen oder Lippen, Nase, Ohren oder Schläfen. Augen werden eher oberhalb und seitlich über der Braue verletzt, weil Ausweichreflexe für ein Ausweichen sorgen. Natürlich gibt es individuelle Schlag- und Kampftechniken. Es gibt aber auch Gesetzmäßigkeiten, die für alle gelten. Bei einem frontalen Faustschlag auf die Knochenbereiche ist die Verletzungsgefahr für die geballte Faust sehr hoch, Knochenbrüche beim Zuschlagenden wahrscheinlich. Am Gesicht des Geschlagenen kommt es zu Aufplatzungen, die häufig genäht werden müssen. Daher sollen Boxhandschuhe diese Schlagenergie von der Oberfläche in die Tiefe überführen, um ein K.O. zu erzeugen und nicht die blutigen Fleischwunden aus der Anfangszeit oder den Bareknuckle-Kellern des Boxens. Beim Boxen mit Handschuhen oder auf der Straße auch Schlagringen entstehen „cuts“ aufgrund der großen Aufprallfläche auf oder über der Braue.

Jurca hat in den frühesten Aufnahmen auf beiden Seiten quasi identische, etwa 1cm große Läsionen knapp unterhalb der unversehrten Braue und dementsprechend ein sehr regelmäßiges Brillenhämatom. Lippen und Backen sind unversehrt und letztere laufen erst auf späteren Aufnahmen mit dem absackenden Blut mit an.
Das bedeutet, der Täter hätte an der gleichen Stelle unterhalb der Braue extrem kontrolliert mit gleicher Energie zuschlagen müssen – und danach vom Opfer ablassen. Das ist in einer hektischen Kampfsituation mit Abwehrreaktionen und Ausweichreflexen extrem unwahrscheinlich, es würde eine vollständige Fixierung Jurcas und ein präzises Zielen des Täters voraussetzen. Die Aufprallfläche der Faust würde auch eine Läsion erzeugen, die deutlich größer ist und die Braue erfasst.
Auch der Bruch des Sprunggelenks ist ungewöhnlich. Beim Verprügeln kommen meist Tritte in den Bauch- und Thoraxraum hinzu, Rippenbrüche, Hämatome an Schienbeinen und Oberschenkeln. Bei einem Sprung auf das Sprunggelenk würden die Randbereiche und gegenüberliegende Hautpartienstark geschädigt werden. Jurca präsentiert ein Bein mit Abschürfungen am Schienbein und Schwellung am gegenüberliegenden Knie, aber ohne tritttypische Hämatome.

Ausschnitt aus: https://www.br.de/nachrichten/bayern/ermittlungen-nach-mutmasslichem-angriff-auf-afd-politiker,TmtG0XV

Ferner ist auffällig, wie sparsam Jurca die vorgebliche Tat schildert. Es scheint keine Deckerinnerungen zu geben, keine Details außer der „südländischen“ Herkunft der Täter. Keine Beschreibung von Schlägen oder Tritten, keine Schilderung von Emotionen, Ursprung oder Ziel seines Spaziergangs. Das weist tendenziell eher auf eine Fabrikation hin, bei der Widersprüche durch sparsame Angaben vermieden werden sollen. Opfer erzählen tendenziell anders.

So untypisch die Verletzungen für eine schlaginduzierte Verletzung sind, so typisch sind sie für einen Sturz: ein Abrutschen auf einer Treppe, der mutmaßliche (bei Kameraaufnahmen aber nicht eingegipste) Bruch des Sprunggelenks, Aufschürfen des Schienbeins und Aufprall des gegenüberliegenden Knies und dann Aufprall parallel unterhalb der Braue etwa auf einer Geländerstange oder Treppenstufe. Dass offenbar ein Tag bis zur medizinischen Behandlung abgewartet wurde, legt potentiell Alkoholeinfluss und eine Ausnüchterungsphase nahe.
Der Hergang wird gerichtsmedizinisch geklärt und in Wahrscheinlichkeiten ausgedrückt werden. Eine Anklage wegen Irreführung und Falschaussage ist ein denkbares Ergebnis, eine Verurteilung ohne Zeugenaussagen und Bildmaterial allerdings schwierig.

Das Problem ist, dass faschistische Propaganda nicht auf Entlarvung ihrer Mythen reagiert. Das Authentische an faschistischer Propaganda ist eben nicht die Logik oder empirische Belegbarkeit eines Narrativs, sondern das Gefühl, das sie erzeugt. Die Empfänger erinnern sich nicht daran, vor einem halben Jahr belogen worden zu sein. Sie erinnern sich daran, reale Angst oder Wut gehabt zu haben. Dieses Gefühl ist „wahr“. Daher ist es auch völlig egal, was hinterher entlarvt wird.
Die faschistische Notstandspropaganda versetzt Menschen künstlich in einen Verteidigungsmodus, in dem sie rationale, zeitaufwändige Prüfungen kurzfristigem Massenverhalten opfern, das aus dem archaischen Inventar unseres evolutionsgeschichtlichen Verhaltens schöpft: Etwa das Zusammenrotten, das Brüllen, das Grimassieren, das aufspüren von Feinden in jedem Winkel.
Im Interesse bestehender Hierarchien werden reale Notstände (Klimakatastrophe, Ungleichverteilung von Reichtum, Misogynie) häufig geleugnet oder ein – aufgrund seiner realen Schwäche – angreifbarer „Täter“ identifiziert, an dem die Bekämpfung des vermeintlichen Notstandes gefahrlos praktiziert werden kann. Interessanterweise verrät faschistische Propaganda in ihren Opfermythen immer wieder, was sie in Wirklichkeit mit ihren eigenen Opfern zu tun gedenkt.
Ihren ersten Erfolg hat die AFD schon geschafft. Wieder einmal haben sich die Parteien von Gewalt distanziert. Das ist zunächst ebenso banal wie die ritualisierte und damit wertlose „Verurteilung“ von Terroranschlägen durch Politiker. In der Distanzierung steckt aber automatisch eine Diskursverschiebung. Statt über die rechtsextremen Umtriebe in der AFD und deren Gewalt wird über Gewalt durch Antifa und Migrant*innen diskutiert. Auch wenn das nur kurzfristig und ritualisiert stattfindet, spielt man der AFD damit in die Hände.