Alan Dershowitz ist kein kleines Kaliber, das die Jüdische Allgemeine auffahren lässt. Er ist routiniert im Nahkampf mit linksintellektuellem, relativistischem und mitunter auch jüdischem Antisemitismus in den USA, er argumentiert liberalistisch, verteidigte nicht nur Mike Tyson und O.J. Simpson, sondern auch den Underdog der Underdogs, Israel.
Man kennt bisweilen exotische Positionen von ihm zur Folter oder zur Counterinsurgency im Westjordanland. Was er allerdings nun zur Beschneidungsdebatte abliefert, ist ein Reflexionsausfall, der aktuell bei einer ganzen Reihe von liberalen, proisraelischen Intellektuellen und Antisemitismuskritikern stattfindet. Dershowitz beginnt mit der rethorischen Frage:
Warum machen sich Länder, die auf eine lange Geschichte des Antisemitismus und anderer Formen religiöser Intoleranz zurückblicken, anscheinend mehr Gedanken über das sogenannte Recht von Kindern, nicht beschnitten zu werden, als andere Länder mit einer besseren Geschichte, was Menschenrechte betrifft?
Zuerst: Der Antisemitismus war keine „Form religiöser Intoleranz“ unter anderen Formen. Der Antisemitismus war eben die Absehung von der Religion. Die deutschen Pogrome des Mittelalters und der frühen Neuzeit argumentierten nicht mit einer realen Religion, sondern mit erfundenen Ritualen: Hexerei, Ritualmord, Gottesmord. Der moderne Antisemitismus wird übereinstimmend als regressiver Reflex auf die französische Revolution und die Abwehr der Assimilation, die Gleichheit der Juden vor dem Recht, interpretiert. Der jüdische Glaube war dem nazistischen Antisemitismus zwar als exotistische Bilderwelt für die Propaganda recht, aber in seiner Ideologie nahm er an, dass die Juden jenseits der Religion für Bolschewismus und Kapitalismus zugleich stünden, dass also die Religion nur Tarnung sei, hinter der sich Magie oder Verschwörung verberge.
Und was meint Dershowitz als liberaler Rechtswissenschaftler mit dem „sogenannten Recht von Kindern, nicht beschnitten zu werden“? Eine Diskussion findet nicht statt – es geht ums Identifizieren. „Andere Länder“, damit meint Dershowitz vermutlich die USA und Israel. In den USA gibt es einen wachsenden Unmut über die massenhafte Beschneidung. Die Mehrheit der Jungen wurde und wird als Säugling beschnitten, eben nicht aus religiösen Gründen, sondern aus pseudomedizinischem Ressentiment gegen die Masturbation. Und in Israel werden doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit Mohelim verurteilt, die bei der Beschneidung Fehler machen – und einen lebensgefährlichen Behandlungsfehler „verurteilte“ das Urteil von Köln in seinem Freispruch. Auch aus Staaten wie den Niederlanden, Finnland und Schweden wird eine starke Gegnerschaft zur Beschneidung vernommen, in Finnland mit rechtlichen Regelungen.
Dershowitz beruft sich mehrfach auf die Selbstverständlichkeit der „denkenden Menschen“, der „vernünftigen Menschen“, der „guten Menschen“.
Natürlich sind diese Fragen von gänzlich rhethorischer Art, weil jeder denkende Mensch die Antwort darauf bereits kennt. Der Grund ist nicht, dass die Deutschen oder Norweger bessere Menschen sind und sich mehr aus Kindern und Tieren machen als etwa die Amerikaner. Der Grund ist vielmehr, dass sie sich weniger aus den Juden machen. Sie mögen sie einfach nicht besonders, und es ist ihnen egal, wenn Juden gezwungen werden, ihr Land zu verlassen, weil sie ihre Religion dort nicht länger ausüben können.
Hier hat Dershowitz recht und zugleich liegt er völlig falsch. Die Mehrheit der Deutschen mag Juden nicht, sie sind Antisemiten – das sollte aber doch Dershowitz ein Grund sein, zu hinterfragen, warum es gerade diese Antisemiten sind, die im Bundestag einstimmig die Beschneidung legalisieren wollen, ein bislang einmaliger Rechtsvorgang, warum es christliche Antisemiten wie kreuz.net sind, die derzeit die Beschneidung verteidigen, um sich selbst zu Opfern des Säkularismus hochzustilisieren. Die Mehrheit der Deutschen, die den Antisemitismus nicht begriffen haben, wollen so gar nichts gegen die Beschneidung haben, weil sie ihnen doch noch das gewisse Quentchen Sicherheit gibt, dass „die Juden“ anders sind. Gänzlich fehl am Platz ist daher Dershowitz Unterstellung der Trauer:
Niemand sollte eine Nation, die Millionen jüdische Babys und Kinder ermordet hat, dafür loben, dass sie Krokodilstränen über das Schicksal eines armen kleinen Buben vergießt, der in der Ausübung einer jahrtausendealten tradition eine Woche nach der Geburt beschnitten wird. Jeder gute Mensch muss Deutschland dafür verdammen, denn das, was den tatsächlichen Kern der Bemühungen, die Beschneidung zu verbieten, ausmacht, ist nichts anderes als der gute alte Antisemitismus.
Weder Westerwelle noch der Bundestag vergießen Krokodilstränen, ihnen sind jüdische Kinder schnuppe, ihnen geht es ums Image und um die Anwesenheit der Juden als sichtbarer Werbeträger, das bedeutet: Als religiöse Institution mit Folklore. Nicht weil sie Juden mögen, sondern weil es sich für einen modernen Staat gut macht, ein paar Alibi-Minderheiten zu haben, um in der internationalen Diplomatie um so unverschämter rassistische und antisemitische Politik betreiben zu dürfen. Solche Alibi-Minderheiten müssen ja nicht gleich die Roma oder Exil-Perser sein, die schiebt man lieber ab, aber mit den Juden kann man inzwischen ganz gut leben. Man kann anhand der bisherigen Zeitungskommentare eindeutig festmachen, dass sich die Beschneidungsbefürworter in jüdische Apologeten, christliche Eiferer und worthülsenversprühende, völlig erkaltete Politiker gliedern. Der Nachweis von antisemitischen Positionen der Gegner in Kommentaren der großen Zeitungen steht aus – Nachweise, die in denselben Medien bei jedem Geplänkel Israels zuhauf erbracht werden können.
An der Beschneidungsdebatte werden selbst namhaften Anhängern der kritischen Theorie ihre Begriffe stumpf. Sie wenden scholastisch Folien von Begriffen an ohne sich um das jeweilige Besondere zu kümmern. Das ist die eigentliche Gefahr: Das Verkennen der Bedrohung, die vom Antisemitismus dort ausgeht, wo man ihn am schwersten bekämpfen kann. Das anstehende Beschneidungsgesetz ist ein Placebo gegen den Antisemitismus, schlimmer, ein Nocebo, der kritische Selbstreflexion, die einzige Immunisierung gegen das antisemitische Ressentiment, ausschaltet.
Heute sind neue Wörter an die Stelle der alten, diskreditierten Wörter getreten. Antizionismus statt Antisemitismus. Das Wohl des Kindes statt Verbot religiöser Rituale.
Das Verbot religiöser Rituale war aber den Verfechtern des Kindeswohles kein negativ besetzter Begriff. Der Erfolg, ein religiöses Ritual wie FGM zu verbieten verweist darauf. Das in Deutschland vergleichsweise spät gekommene Verbot der Ohrfeige war ein Affront gegen eine zutiefst kulturelle, fast religiöse Praxis.
Auch bei Dershowitz läuft alles auf eine angebliche wissenschaftliche Wahrheit hinaus, zu deren Kenntnis er sich in der Lage sieht – die Kenntnis erweist sich aber auch nur als autoritärer Glaube an Institutionen.
Warum will Deutschland nicht der American Academy für Kinderheilkunde folgen, die nach fünf Jahren Untersuchung der besten Studienergebnisse folgerte, das [sic] die ‚gesundheitlichen Vorteile‘ der Beschneidung – inklusive verminderter Übertragungsgefahr des HIV- oder Papillomavirus – ‚die Risiken überwiegt‘.
Das Fragezeichen erübrigt sich, das Schlußplädoyer steht an:
Schande über jene Deutschen, die die Beschneidung verbieten wollen. Schande über jene Deutschen, deren Gleichgültigkeit es nicht zulässt, ihre Sitmme zu erheben gegen die pseudowissenschaftlichen Eiferer, die lügen, wenn sie von sich behaupten, das Wohl der Kinder liege ihnen am Herzen. Lob den Deutschen, die gegen die Intoleranz ihrer Landsleute protestieren. Andere Länder mit einer saubereren Geschichte müssen die Führung in der Forschung – echter wissenschaftlicher Forschung – und in der Diskussion um den Schutz der Rechte von Kindern und Tieren übernehmen. Die mörderische Vergangenheit Deutschlands disqualifiziert dieses Land für immer, bei den Versuchen, jüdische Rituale zu verbieten, Vorreiter zu sein.
Dershowitz nimmt an, das Gesetz ziele auf die jüdische Beschneidung alleine ab und er blendet die innerjüdische Debatte aus – in einer derzeit akuten rhethorischen Strategie einer chimärischen Konsensualität unter Juden. Das ist symptomatisch für die isolationistische Besprechung der Beschneidungsdebatte als „Judenfrage“. Das Gericht aber war gegen einen muslimischen Beschneider gerichtet. Zur Debatte steht überdies gar nicht ein zur Zeit wohl illusionäres Verbot der Jungenbeschneidung, das Muslime, Juden und afrikanische Religionsangehörige träfe und zugleich schützte, sondern eine deutsche Vorreiterschaft in der Legalisierung der rituellen Beschneidung auf Kosten des liberalen Rechtsstaates. Eine Vorreiterschaft, die jene aktuellen Bemühungen arabischer Säkularisten zunichte macht, die Scharia aus dem Gesetz so weit als möglich heraus zu halten. Warum sollen Tunesien, Lybien, Ägypten über das Verhältnis Religion und Staat diskutieren, wenn Deutschland den Religionen Ausnahmen des individuellen Rechts auf Unversehrtheit gewährt? Die Muslimbrüder und Salafisten werden sich über dieses anstehende Gesetz freuen.
Antisemitismus zeichnet die Anwendung von doppelten Standards aus. Die allgemeine Kritik an der Beschneidung zeichnet sich nicht durch doppelte Standards aus, diese werden vielmehr von den Beschneidungsbefürwortern eingefordert, die um jeden Preis die allgemeineren Konsequenzen der Legalisierung der Beschneidung ignorieren.
Wer sich, anders als Dershowitz, für eine kritische Wissenschaft interessiert, dem sei folgende Graphik als Beispiel für die Widerlegung von – unter Medizinern und Pharmareferenten altbekannten Statistiktricks – empfohlen. Es heißt beispielsweise, die Beschneidung schütze vor Peniskarzinomen. Unter http://www.circumstitions.com/Cancer.html finden wir folgende schlüssige Widerlegung:
Wer als philosophisch halbwegs gebildetes, zur Erfahrung fähiges Individuum sich mit den medizinischen Argumenten der Beschneidungsbefürworter skeptisch befasst, kommt zum Schluss, dass kein gültiges oder gefälschtes medizinisches Argument die Beschneidung rechtfertigt. Die Anerkennung der Vorhaut als Sexualorgan genügt, um ihre Amputation zu diskreditieren. Man zieht keine Zähne, um Karies zu vermeiden – auch wenn das hocheffizient wäre.
Am Beispiel der angeblichen HIV-Prävention lässt sich das illustrieren. Beschnittene, so will eine Studie aus Uganda herausgefunden haben, solle weniger häufig HIV-Neuinfektionen erlitten haben, als eine Vergleichsgruppe von Unbeschnittenen. Nun ist der Zustand der afrikanischen Universitäten trotz beachtlicher Ausnahmen und Fortschritte eher prekär, entweder auf Religion oder Positivismus geeicht, aber nähmen wir an, die Studie sei verlässlich und belastbar, was sie nicht ist.
What’s worse, because of the publicity surrounding the African studies, men in Africa are now starting to believe that if they are circumcised, they do not need to wear condoms, which will increase the spread of HIV (Westercamp 2010). Even in the study with the most favorable effects of circumcision, the protective effect was only 60% – men would still have to wear condoms to protect themselves and their partners from HIV.
In the USA, during the AIDS epidemic of the 1980s and 90s, about 85% of adult men were circumcised (much higher rates of circumcision than in Africa), and yet HIV still spread. [Via circumcision myths]
Am Beispiel Ghana lässt sich auch die fatale Konsequenz ablesen, die eine Ausbreitung des HIV-Beschneidungs-Mythos haben kann. Die Mehrheit ist hier aus traditionellen Gründen beschnitten. Gleichzeitig hatten hier Aufklärungskampagnen ein hohes Bewusstsein von HIV geschaffen, die HIV-Rate ist mit 3% im afrikanischen Vergleich „niedrig“. Kondome sind überall erhältlich. Kommt nun der Mythos verstärkt durch weiße „Wissenschaftler“ in Umlauf, dass die Beschneidung vor HIV schütze, werden sehr wahrscheinlich mehr Männer ihren bereits vorhandenen Beschneidungsstatus (möglicherweise auch auf Wunsch von Frauen) gegen das Kondom eintauschen – und sei es nur in den Jugendlichen gemeinsamen Unsicherheitssituationen, bei denen Sex ohne Verbalisierung und Aushandlung verläuft. Auch wenn der medizinische Glaube wahr währe, dass die Beschneidung zu 60 % weniger Übertragungen bei Männern ermögliche, so wäre das Ergebnis des Mythos eine Ausbreitung von HIV – aus soziologischen und sexualpsychologischen Gründen. Das Kondom mit 99% Sicherheit würde gegen die Beschneidung mit vermeintlichen 60 % Sicherheit eingetauscht. Das wäre dann das Resultat jener Pseudowissenschaft, die Dershowitz so vollmundig als „wahre Wissenschaft“ anpreist.
Quelle: Alan Dershowitz 2012: ‚Der gute alte Antisemitismus.‘ In: Jüdische Allgemeine 36/12, 6.9.2012, S. 8. Via: http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/13922
Drei weitere Artikel zur Beschneidung auf Nichtidentisches sind über folgende Links abrufbar: